QE v Caisse régionale de Crédit mutuel de Loire-Atlantique et du Centre Ouest.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:970
Date08 December 2022
Docket NumberC-600/21
Celex Number62021CJ0600
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

8. Dezember 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verbraucherschutz – Missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen – Richtlinie 93/13/EWG – Art. 3 Abs. 1 – Art. 4 – Kriterien für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Klausel – Klausel über die vorzeitige Fälligstellung eines Darlehens – Vertragliche Befreiung von der Pflicht zur Mahnung“

In der Rechtssache C‑600/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) mit Entscheidung vom 16. Juni 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 28. September 2021, in dem Verfahren

QE

gegen

Caisse régionale de Crédit mutuel de Loire-Atlantique et du Centre Ouest

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin L. S. Rossi sowie der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin (Berichterstatter),

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von QE, vertreten durch S. Viaud, Avocat,

– der Caisse régionale de Crédit mutuel de Loire-Atlantique et du Centre Ouest, vertreten durch M.‑A. Doumic‑Seiller, Avocate,

– der französischen Regierung, vertreten durch A.‑L. Desjonquères und N. Vincent als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Heller und N. Ruiz García als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen QE und der Caisse régionale de Crédit mutuel de Loire-Atlantique et du Centre Ouest, einer Bank französischen Rechts (im Folgenden: Bank) über eine Pfändung der Immobilie von QE, nachdem die Bank ein von ihr an QE gewährtes Darlehen vorzeitig fällig gestellt hatte.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestimmt:

„Eine Vertragsklausel, die nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde, ist als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.“

4 Art. 4 der Richtlinie 93/13 sieht vor:

„(1) Die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel wird unbeschadet des Artikels 7 unter Berücksichtigung der Art der Güter oder Dienstleistungen, die Gegenstand des Vertrages sind, aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie aller anderen Klauseln desselben Vertrages oder eines anderen Vertrages, von dem die Klausel abhängt, zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses beurteilt.

(2) Die Beurteilung der Missbräuchlichkeit der Klauseln betrifft weder den Hauptgegenstand des Vertrages noch die Angemessenheit zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und den Dienstleistungen bzw. den Gütern, die die Gegenleistung darstellen, sofern diese Klauseln klar und verständlich abgefasst sind.“

Französisches Recht

5 Nach Art. L. 132‑1 des Code de la consommation (Verbrauchergesetzbuch) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung sind Klauseln in Verträgen zwischen Gewerbetreibenden und Nichtgewerbetreibenden oder Verbrauchern missbräuchlich, wenn sie zum Nachteil des Nichtgewerbetreibenden oder des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner bezwecken oder bewirken.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

6 Mit notarieller Urkunde vom 17. Mai 2006 gewährte die Bank QE ein Darlehen in Höhe von 209 109 Euro mit einer Laufzeit von 20 Jahren für den Erwerb einer Immobilie.

7 Die allgemeinen Vertragsbedingungen des Darlehensvertrags sahen die Möglichkeit der Bank vor, das Darlehen vorzeitig fällig zu stellen, so dass die geschuldeten Beträge im Fall eines Verzugs von mehr als 30 Tagen bei Begleichung einer Rate zur Rückzahlung der Hauptforderung, von Zinsen oder Nebenkosten sofort fällig werden, und zwar ohne dass es Förmlichkeiten oder einer Mahnung bedarf. Der Darlehensvertrag räumte QE im Übrigen die Möglichkeit ein, eine Änderung der Zahlungsfristen zu beantragen, um gegebenenfalls ein Ausfallrisiko zu vermeiden.

8 Da weder die am 10. Dezember 2012 fällige Rate in Höhe von 904,50 Euro, noch die Rate vom Januar 2013 beglichen wurden, stellte die Bank das Darlehen am 29. Januar 2013 gemäß dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertrag ohne vorherige Mahnung fällig und ließ am 17. September 2015 die Immobilie von QE pfänden.

9 QE beantragte am 13. Oktober 2015 beim Vollstreckungsgericht die Aufhebung des Pfändungsverfahrens und brachte dazu vor, dass das Pfändungsprotokoll Unregelmäßigkeiten enthalte.

10 QE legte beim vorlegenden Gericht Kassationsbeschwerde gegen das Urteil der Cour d’appel de Versailles (Berufungsgericht Versailles, Frankreich) vom 3. Oktober 2019 ein. In diesem Urteil sei die Feststellung der Missbräuchlichkeit der in Rede stehenden Klausel, die eine vorzeitige Fälligstellung des Darlehens ermögliche, verweigert worden. QE macht insbesondere geltend, dass diese Vertragsklausel, die eine Befreiung von der Pflicht zur Mahnung vorsehe, im Hinblick auf die im Urteil vom 26. Januar 2017, Banco Primus (C‑421/14, EU:C:2017:60), entwickelten Kriterien eine missbräuchliche Klausel darstelle.

11 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass sich nach seiner ständigen Rechtsprechung aus den Art. 1134, 1147 und 1184 des Code civil (Zivilgesetzbuch) in ihrer für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Fassung ergebe, dass ein Darlehensvertrag über einen Geldbetrag zwar vorsehen könne, dass der Verzug des nicht gewerblichen Darlehensnehmers die vorzeitige Fälligstellung des Darlehens zur Folge habe, dass der Gläubiger aber nicht so vorgehen könne, ohne zuvor erfolglos eine Mahnung verschickt zu haben, die die Frist nenne, innerhalb deren der Darlehensnehmer diese Fälligstellung abwenden könne. Das vorlegende Gericht erläutert, dass es gleichwohl die Möglichkeit zulasse, dass durch eine ausdrückliche und unmissverständliche Bestimmung im Vertrag auf das Erfordernis einer Mahnung verzichtet wird, sofern der Verbraucher über die Folgen der Nichterfüllung seiner Pflichten aufgeklärt wird.

12 Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch zum einen, ob ein Darlehensvertrag im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 der Richtlinie einen Verzicht auf eine Mahnung vor der vorzeitigen Fälligstellung eines Darlehens vorsehen kann. Zum anderen äußert es insbesondere angesichts der im Urteil vom 26. Januar 2017, Banco Primus (C‑421/14, EU:C:2017:60), entwickelten Kriterien Zweifel, ob eine Klausel dieses Vertrags, die im Falle eines Verzugs von mehr als 30 Tagen bei der Begleichung einer Rate die automatische vorzeitige Fälligstellung vorsieht, missbräuchlich ist.

13 Insoweit weist das vorlegende Gericht erstens darauf hin, dass für die Missbräuchlichkeit einer solchen Klausel spreche, dass sie dem Darlehensgeber die Möglichkeit einräume, den Vertrag zu kündigen, ohne eine angemessene Frist einzuhalten und ohne dem Darlehensnehmer Gelegenheit zu geben, sich zur von ihm zu vertretenden Pflichtverletzung zu äußern. Gegen die Missbräuchlichkeit einer solchen Klausel spreche wiederum, dass die betreffende Klausel, um gültig zu sein, ausdrücklich und unmissverständlich im Darlehensvertrag vorgesehen sein müsse, so dass der Darlehensnehmer umfassend über seine Pflichten aufgeklärt worden sei und jederzeit ein Gericht anrufen könne, um die Anwendung der Klausel anzufechten und einen Missbrauch der Klausel durch den Darlehensgeber sanktionieren zu lassen.

14 Zweitens stellt das vorlegende Gericht im Rahmen der Beurteilung der etwaigen Missbräuchlichkeit dieser Klausel die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Klausel über die vorzeitige Fälligstellung des Darlehens wegen Pflichtverletzungen des Schuldners in einem begrenzten Zeitraum den im Urteil vom 26. Januar 2017, Banco Primus (C‑421/14, EU:C:2017:60), entwickelten Kriterien gegenüber.

15 Im Hinblick auf das Kriterium, wonach die dem Gewerbetreibenden eingeräumte Möglichkeit, das gesamte Darlehen fällig zu stellen, davon abhängt, dass der Verbraucher eine Verpflichtung nicht erfüllt hat, die im Rahmen der fraglichen vertraglichen Beziehungen wesentlich ist, kann dem vorlegenden Gericht zufolge zugelassen werden, dass eine durch den Verbraucher nicht fristgerecht beglichene monatliche Rate eine Nichterfüllung einer seiner wesentlichen Pflichten darstellt, sofern er sich zur Zahlung von monatlichen Raten verpflichtet hat und diese Pflicht jene des...

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