Conclusiones del Abogado General Sr. G. Pitruzzella, presentadas el 1 de julio de 2021.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:534
Celex Number62020CC0051
Date01 July 2021
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

GIOVANNI PITRUZZELLA

vom 1. Juli 2021(1)

Rechtssache C51/20

Europäische Kommission

gegen

Hellenische Republik

„Vertragsverletzung – Klage gemäß Art. 260 AEUV – Finanzielle Sanktionen – Berechnungsmethode – Faktor ‚n‘ – Berücksichtigung des institutionellen Gewichts des Mitgliedstaats“






I. Einleitung

1. Wenn die Europäische Kommission feststellt, dass ein Mitgliedstaat die Maßnahmen, die sich aus einem Vertragsverletzungsurteil im Sinne von Art. 260 Abs. 1 AEUV ergeben, nicht getroffen hat, so kann sie den Gerichtshof gemäß Art. 260 Abs. 2 AEUV anrufen und beantragen, gegen diesen Mitgliedstaat finanzielle Sanktionen zu verhängen, die in der Zahlung eines Zwangsgelds oder eines Pauschalbetrags bestehen, wobei mit der erstgenannten Sanktion die Fortsetzung der Vertragsverletzung nach dem Urteil, mit dem diese Vertragsverletzung festgestellt wurde, geahndet und mit der zweitgenannten Sanktion der Mitgliedstaat veranlasst werden soll, keine Vertragsverletzung zu wiederholen(2). In der Klage, mit der ein Mitgliedstaat nach Art. 260 Abs. 2 AEUV vor dem Gerichtshof verklagt wird, präzisiert die Kommission den Betrag dieser Sanktionen, der ihrer Auffassung nach den Umständen angemessen ist. Zur Festsetzung dieses Betrags stützt sich die Kommission auf eine Berechnungsmethode, die zuletzt in einer Mitteilung vom 12. Dezember 2005(3) (im Folgenden: Mitteilung von 2005) dargelegt wurde. Diese Berechnungsmethode berücksichtigt – zusammen mit anderen Faktoren wie der Schwere und der Dauer der Zuwiderhandlung – die mit dem sogenannten Faktor „n“ ausgedrückte Zahlungsfähigkeit des fraglichen Mitgliedstaats. Wie im Folgenden ausgeführt werden wird, beruhte die Berechnung des Faktors „n“ ursprünglich auf zwei Komponenten, nämlich zum einen auf dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) des betreffenden Mitgliedstaats und zum anderen auf der Stimmenzahl, über die dieser Mitgliedstaat bei Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit im Rat verfügte. Nach dem Inkrafttreten des in Art. 16 Abs. 4 EUV vorgesehenen neuen Systems der Berechnung der qualifizierten Mehrheit im Rat am 1. April 2017 stellte der Gerichtshof im Urteil vom 14. November 2018, Kommission/Griechenland(4) (im Folgenden: Urteil vom 14. November 2018), fest, dass die Regel der doppelten Mehrheit, auf der dieses System beruht, nicht unmittelbar auf den Mechanismus der Berechnung der einem Mitgliedstaat im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren aufzuerlegenden Sanktionen übertragbar ist und somit das frühere System der gewichteten Stimmen, auf dem bisher die Berechnung des Faktors „n“ beruhte, nicht ersetzen kann. Die Kommission erließ daher 2019 eine neue Mitteilung(5) (im Folgenden: Mitteilung von 2019), mit der die Komponente des Faktors „n“, die nicht an das BIP gebunden war, geändert wurde, indem das aus der Stimmenzahl im Rat gebildete Kriterium im Wesentlichen durch das sich davon unterscheidende Kriterium der Anzahl der Sitze für die Vertreter des Europäischen Parlaments, die jedem Mitgliedstaat zugewiesen werden, ersetzt wurde.

2. Die Beträge der Sanktionen, die der Gerichtshof gemäß dem Vorschlag, den die Kommission im Rahmen der vorliegenden, nach Art. 260 Abs. 2 AEUV erhobenen Klage gemacht hat, der Hellenischen Republik auferlegen soll, wurden unter Anwendung der neuen Berechnungsmethode des Faktors „n“ ermittelt.

3. Mit dieser Klage beantragt die Kommission, festzustellen, dass die Hellenische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 260 Abs. 1 AEUV verstoßen hat, dass sie nicht alle Maßnahmen erlassen hat, die erforderlich sind, um das Urteil vom 9. November 2017, Kommission/Griechenland(6) (im Folgenden: Vertragsverletzungsurteil), durchzuführen. Ferner beantragt die Kommission, die Hellenische Republik zu verurteilen, ein tägliches Zwangsgeld in Höhe von 26 697,89 Euro ab dem Tag der Verkündung des Urteils in der vorliegenden Rechtssache bis zur vollständigen Durchführung des Vertragsverletzungsurteils sowie einen Pauschalbetrag zu zahlen, dessen Höhe sich aus der Multiplikation eines Betrags von 3 709,23 Euro pro Tag mit der Anzahl der Tage ergibt, die vom Tag der Verkündung dieses Urteils bis zum Tag der Behebung des Verstoßes oder, mangels einer solchen Behebung, von diesem Zeitpunkt bis zum Tag der Verkündung des Urteils in dieser Rechtssache verstrichen sein werden. Schließlich beantragt die Kommission, die Hellenische Republik zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

4. In ihrer Klage führt die Kommission aus, dass entsprechend der in der Mitteilung von 2005 vorgesehenen Berechnungsmethode das Zwangsgeld, das der Gerichtshof nach ihrem Vorschlag der Hellenischen Republik pro Tag der verspäteten Durchführung des Vertragsverletzungsurteils auferlegen solle, auf der Grundlage einer Multiplikation eines auf 3 116 Euro festgesetzten(7) einheitlichen Grundbetrags mit einem Schwerekoeffizienten von 7 – bestimmt unter Berücksichtigung der Bedeutung der verletzten unionsrechtlichen Bestimmungen, der Auswirkung dieser Verletzung auf die öffentlichen und privaten Beteiligten, des Vergleichs mit ähnlichen Zuwiderhandlungen und von anderen mildernden und erschwerenden Umständen – sowie mit einem Dauerkoeffizienten von 2,4, entsprechend dem Ablauf von 24 Monaten seit dem 9. November 2017, dem Tag der Verkündung des Vertragsverletzungsurteils, bis zum 27. November 2019, dem Zeitpunkt der Anrufung des Gerichtshofs durch die Kommission, berechnet worden sei. Der so ermittelte Betrag sei mit dem nach der in der Mitteilung von 2019 vorgesehenen Methode berechneten und für die Hellenische Republik auf 0,51 festgesetzten Faktor „n“ multipliziert worden(8).

5. Hinsichtlich des Pauschalbetrags führt die Kommission aus, dass dessen Höhe gemäß der in der Mitteilung von 2005 vorgesehenen Berechnungsmethode ausgehend von einem Tagessatz bestimmt worden sei, der einem auf 1 039 Euro festgesetzten(9) einheitlichen Grundbetrag, der mit einem Schwerekoeffizienten von 7 und einem Faktor „n“ von 0,51 multipliziert worden sei, entspreche. Nach dem Vorschlag der Kommission darf der Gesamtbetrag des der Hellenischen Republik aufzuerlegenden Pauschalbetrags nicht unter einem Mindestbetrag liegen, der für diesen Mitgliedstaat auf 135 820 824,35 Euro festzusetzen sei(10).

6. In ihrer Klage weist die Kommission nachdrücklich darauf hin, dass es bei der Festsetzung der gemäß Art. 260 Abs. 2 AEUV aufzuerlegenden finanziellen Sanktionen zwingend erforderlich sei, nicht nur die Zahlungsfähigkeit und damit das BIP des zuwiderhandelnden Mitgliedstaats, sondern auch das institutionelle Gewicht, das diesem Staat in der Union zukomme, zu berücksichtigen. Nach ihrer Ansicht muss das vom Gerichtshof im Urteil vom 14. November 2018 für ungültig erklärte und auf der Stimmenzahl eines jeden Mitgliedstaats im Rat beruhende Kriterium durch ein neues Kriterium ersetzt werden, mit dem die Anwendung einer allein auf dem BIP beruhenden Berechnungsmethode korrigiert werde, um sowohl das Gleichgewicht zwischen der Zahlungsfähigkeit und dem institutionellen Gewicht des zuwiderhandelnden Mitgliedstaats zu wahren als auch zu verhindern, dass übermäßige Differenzierungen zwischen den jedem Mitgliedstaat zugewiesenen Koeffizienten zu ungerechtfertigten Ungleichbehandlungen führten.

7. In ihrer Klagebeantwortung beantragt die Hellenische Republik, die Klage abzuweisen und der Kommission die Kosten aufzuerlegen. Hinsichtlich der von der Kommission vorgeschlagenen finanziellen Sanktionen führt die Hellenische Republik aus, diese seien weder gerechtfertigt noch verhältnismäßig. Falls der Gerichtshof jedoch eine Sanktionierung der Zuwiderhandlung für erforderlich erachte, stimme sie mit der Kommission überein, dass der Faktor „n“ und allgemein der Betrag der Sanktionen neben der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats auch sein institutionelles Gewicht berücksichtigen müsse. Das von der Kommission in der Mitteilung von 2019 vorgesehene und auf der Anzahl der Sitze im Parlament beruhende Kriterium lasse eine angemessene Berücksichtigung dieses letztgenannten Elements zu.

8. Die Kommission und die Hellenische Republik sind im Rahmen prozessleitender Maßnahmen gebeten worden, schriftlich auf mehrere Fragen zu antworten, die u. a. die Modalitäten der Bestimmung des Faktors „n“, wie sie in der Mitteilung von 2019 dargestellt sind, betreffen.

9. Die vorliegenden Schlussanträge betreffen ausschließlich die Frage, ob das Element des institutionellen Gewichts des zuwiderhandelnden Mitgliedstaats in der Union, wie es insbesondere in der diesem Mitgliedstaat zugewiesenen Anzahl der Sitze im Europäischen Parlament seinen Ausdruck findet, im Hinblick auf die Auferlegung von abschreckenden und verhältnismäßigen Sanktionen erheblich ist.

II. Würdigung

A. Der Faktor „n“ vor dem Urteil vom 14. November 2018

1. Mitteilung von 2005

10. Der Faktor „n“ war erstmals in der Mitteilung der Kommission vom 28. Februar 1997 über die Berechnung des Zwangsgeldes(11) (im Folgenden: Mitteilung von 1997) aufgeführt. Die Mitteilung von 2005 erweiterte seinen Anwendungsberiech auf die Berechnung des Pauschalbetrags(12). Dieser als „[ein] feste[r] Länderfaktor“(13) definierte Faktor „n“ war in der Mitteilung von 2005, wie zuvor in der Mitteilung von 1997, in einem gesonderten Abschnitt mit der Überschrift „Berücksichtigung der Zahlungsfähigkeit des [betreffenden] Mitgliedstaats“ geregelt(14). Seine Zielsetzung ist mit dem Erfordernis verknüpft, durch die Sanktion eine wirksame Abschreckung zu gewährleisten. Aus der Sicht der Kommission ist es daher zulässig, das Zwangsgeld und den Pauschalbetrag in einer Höhe festzusetzen, die ausreicht, um auf den Mitgliedstaat einen Druck auszuüben, der ihn dazu veranlasst, zum einen die Vertragsverletzung abzustellen(15) und zum anderen eine Wiederholung zu unterlassen(16).

11. In der Mitteilung von 2005 war – wie schon in der Mitteilung von 1997 – der Faktor „n“ als „geometrische[r]...

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