M P A v LC D N M T.

JurisdictionEuropean Union
Date01 August 2022
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

1. August 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 3, 6 bis 8 und 14 – Begriff ‚gewöhnlicher Aufenthalt‘ – Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und Zusammenarbeit in Unterhaltssachen – Verordnung (EG) Nr. 4/2009 – Art. 3 und 7 – Staatsangehörige zweier verschiedener Mitgliedstaaten, die sich als Vertragsbedienstete der Delegation der Europäischen Union in einem Drittstaat in diesem Drittstaat aufhalten – Bestimmung der Zuständigkeit – Notzuständigkeit (forum necessitatis)“

In der Rechtssache C‑501/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Audiencia Provincial de Barcelona (Provinzgericht Barcelona, Spanien) mit Entscheidung vom 15. September 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Oktober 2020, in dem Verfahren

MPA

gegen

LCDNMT

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer, der Richter J. Passer und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) sowie des Richters N. Wahl,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. September 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von MPA, vertreten durch A. López Jiménez, Abogada,

– von LCDNMT, vertreten durch C. Martínez Jorba und P. Tamborero Font, Abogadas,

– der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,

– der tschechischen Regierung, vertreten durch I. Gavrilova, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

– des Rates der Europäischen Union, vertreten durch M. Balta, H. Marcos Fraile und C. Zadra als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Galindo Martín, M. Kellerbauer, N. Ruiz García, M. Wilderspin und W. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. Februar 2022

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 3, 7, 8 und 14 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1), der Art. 3 und 7 der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (ABl. 2009, L 7, S. 1) sowie von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen MPA und LCDNMT, zweier Vertragsbediensteter der Europäischen Union, die in deren Delegation in Togo beschäftigt sind, über einen Antrag auf Ehescheidung, der mit Anträgen verbunden ist, die die Festlegung der Regelung und der Modalitäten der Ausübung des Sorgerechts und der elterlichen Verantwortung für die minderjährigen Kinder des Ehepaars, den Kindesunterhalt sowie die Nutzung der Familienwohnung in Lomé (Togo) betreffen.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3 Art. 31 Abs. 1 des am 18. April 1961 in Wien geschlossenen und am 24. April 1964 in Kraft getretenen Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen (United Nations Treaty Series, Bd. 500, S. 95, im Folgenden: Wiener Übereinkommen) lautet:

„Der Diplomat genießt Immunität von der Strafgerichtsbarkeit des Empfangsstaats. Ferner steht ihm Immunität von dessen Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit zu; ausgenommen hiervon sind folgende Fälle:

a) dingliche Klagen in Bezug auf privates, im Hoheitsgebiet des Empfangsstaats gelegenes unbewegliches Vermögen, es sei denn, dass der Diplomat dieses im Auftrag des Entsendestaats für die Zwecke der Mission im Besitz hat;

b) Klagen in Nachlasssachen, in denen der Diplomat als Testamentsvollstrecker, Verwalter, Erbe oder Vermächtnisnehmer in privater Eigenschaft und nicht als Vertreter des Entsendestaats beteiligt ist;

c) Klagen im Zusammenhang mit einem freien Beruf oder einer gewerblichen Tätigkeit, die der Diplomat im Empfangsstaat neben seiner amtlichen Tätigkeit ausübt.“

Unionsrecht

Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen

4 Art. 11 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union (im Folgenden: Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen), der sich in dessen Kapitel V („Beamte und sonstige Bedienstete der Europäischen Union“) befindet, sieht vor:

„Den Beamten und sonstigen Bediensteten der Union stehen im Hoheitsgebiet jedes Mitgliedstaats ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit folgende Vorrechte und Befreiungen zu:

a) Befreiung von der Gerichtsbarkeit bezüglich der von ihnen in amtlicher Eigenschaft vorgenommenen Handlungen, einschließlich ihrer mündlichen und schriftlichen Äußerungen, jedoch vorbehaltlich der Anwendung der Bestimmungen der Verträge über die Vorschriften betreffend die Haftung der Beamten und sonstigen Bediensteten gegenüber der Union und über die Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union für Streitsachen zwischen der Union und ihren Beamten sowie sonstigen Bediensteten. …

…“

5 Art. 17 Abs. 1 in Kapitel VII („Allgemeine Bestimmungen“) des Protokolls lautet:

„Die Vorrechte, Befreiungen und Erleichterungen werden den Beamten und sonstigen Bediensteten der Union ausschließlich im Interesse der Union gewährt.“

Statut und BBSB

6 Nach Art. 1b des Statuts der Beamten der Europäischen Union (im Folgenden: Statut) wird der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) für dessen Anwendung den Organen der Union gleichgestellt, sofern dieses Statut keine anderslautenden Bestimmungen enthält.

7 Art. 23 des Statuts präzisiert:

„Die den Beamten zustehenden Vorrechte und Befreiungen sind ausschließlich im Interesse der Union gewährt. Soweit in dem Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen nichts anderes bestimmt ist, sind die Beamten weder von der Erfüllung ihrer persönlichen Verpflichtungen noch von der Beachtung der geltenden Gesetze und polizeilichen Vorschriften befreit.

…“

8 Art. 3a Abs. 1 der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Union (im Folgenden: BBSB) sieht vor:

„‚Vertragsbediensteter‘ im Sinne dieser Beschäftigungsbedingungen ist ein Bediensteter, der in Teilzeit- oder Vollzeitbeschäftigung eingestellt wird, ohne eine Planstelle zu besetzen, die in dem Stellenplan aufgeführt ist, der dem Einzelplan des Haushaltsplans für das betreffende Organ beigefügt ist, und zwar

d) in Vertretungen und Delegationen der Unionsorgane;

…“

9 Art. 85 Abs. 1 Unterabs. 1 der BBSB lautet:

„Arbeitsverträge mit Vertragsbediensteten im Sinne des Artikels 3a werden auf bestimmte Dauer für mindestens drei Monate und höchstens fünf Jahre geschlossen. Sie können nur einmal auf bestimmte Dauer verlängert werden, und zwar um höchstens fünf Jahre. Die Dauer des ersten Vertrags und der ersten Verlängerung muss in der Funktionsgruppe I mindestens sechs Monate und in den übrigen Funktionsgruppen mindestens neun Monate betragen. Jede weitere Verlängerung erfolgt auf unbestimmte Dauer.“

Verordnung Nr. 2201/2003

10 Die Erwägungsgründe 5, 11, 12, 14 und 33 der Verordnung Nr. 2201/2003 lauten:

„(5) Um die Gleichbehandlung aller Kinder sicherzustellen, gilt diese Verordnung für alle Entscheidungen über die elterliche Verantwortung, einschließlich der Maßnahmen zum Schutz des Kindes, ohne Rücksicht darauf, ob eine Verbindung zu einem Verfahren in Ehesachen besteht.

(11) Unterhaltspflichten sind vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommen, da sie bereits durch die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 [des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1)] geregelt werden. Die nach dieser Verordnung zuständigen Gerichte werden in Anwendung des Artikels 5 [Nummer] 2 der Verordnung [Nr. 44/2001] in der Regel für Entscheidungen in Unterhaltssachen zuständig sein.

(12) Die in dieser Verordnung für die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet. Die Zuständigkeit sollte vorzugsweise dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten sein außer in bestimmten Fällen, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat oder in denen die Träger der elterlichen Verantwortung etwas anderes vereinbart haben.

(14) Die Anwendung des Völkerrechts im Bereich diplomatischer Immunitäten sollte durch die Wirkungen dieser Verordnung nicht berührt werden. Kann das nach dieser Verordnung zuständige Gericht seine Zuständigkeit aufgrund einer diplomatischen Immunität nach dem Völkerrecht nicht wahrnehmen, so sollte die Zuständigkeit in dem Mitgliedstaat, in dem die betreffende Person keine Immunität genießt, nach den Rechtsvorschriften dieses Staates bestimmt werden.

(33) Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der [Charta] anerkannt wurden. Sie zielt insbesondere darauf ab, die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne des Artikels 24 der [Charta] zu gewährleisten.“

11 Art. 1 („Anwendungsbereich“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„(1) Diese Verordnung gilt, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen mit folgendem Gegenstand:

a) die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und die Ungültigerklärung einer Ehe,

b) die Zuweisung, die Ausübung, die Übertragung sowie die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen...

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