MS v Saatgut-Treuhandverwaltungs GmbH.

JurisdictionEuropean Union
Date16 March 2023
CourtCourt of Justice (European Union)
62021CJ0522

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

16. März 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Geistiges Eigentum – Sortenschutz – Verordnung (EG) Nr. 2100/94 – Ausnahmeregelung gemäß Art. 14 Abs. 3 – Art. 94 Abs. 2 – Verletzung – Schadensersatzanspruch – Verordnung (EG) Nr. 1768/95 – Art. 18 Abs. 2 – Ersatz des Schadens – Auf der Grundlage der vierfachen Lizenzgebühr berechneter Mindestpauschalbetrag – Befugnis der Europäischen Kommission – Ungültigkeit“

In der Rechtssache C‑522/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Pfälzischen Oberlandesgericht Zweibrücken (Deutschland) mit Beschluss vom 18. August 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 24. August 2021, in dem Verfahren

MS

gegen

Saatgut-Treuhandverwaltungs GmbH

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin L. S. Rossi, der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin O. Spineanu-Matei (Berichterstatterin),

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: S. Beer, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juli 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von MS, vertreten durch Rechtsanwalt N. Küster,

der Saatgut-Treuhandverwaltungs GmbH, vertreten durch Rechtsanwältin E. Trauernicht und Rechtsanwalt K. von Gierke,

der Europäischen Kommission, vertreten durch A. C. Becker, B. Eggers und G. Koleva als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. Oktober 2022

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit von Art. 18 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1768/95 der Kommission vom 24. Juli 1995 über die Ausnahmeregelung gemäß Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 2100/94 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz (ABl. 1995, L 173, S. 14) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2605/98 der Kommission vom 3. Dezember 1998 (ABl. 1998, L 328, S. 6) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1768/95) im Hinblick auf Art. 94 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 2100/94 des Rates vom 27. Juli 1994 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz (ABl. 1994, L 227, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen MS und der Saatgut Treuhandverwaltungs GmbH (im Folgenden: STV) über die Berechnung der Höhe des Ersatzes für den STV durch den unberechtigten Nachbau der Wintergerstensorte KWS Meridian durch MS entstandenen Schaden.

Rechtlicher Rahmen

Verordnung Nr. 2100/94

3

Art. 11 („Recht auf den gemeinschaftlichen Sortenschutz“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 2100/94 sieht vor:

„Das Recht auf den gemeinschaftlichen Sortenschutz steht der Person zu, die die Sorte hervorgebracht oder entdeckt und entwickelt hat bzw. ihrem Rechtsnachfolger; diese Person und ihr Rechtsnachfolger werden im folgenden ‚Züchter‘ genannt.“

4

Art. 13 („Rechte des Inhabers des gemeinschaftlichen Sortenschutzes und verbotene Handlungen“) der Verordnung Nr. 2100/94 bestimmt in den Abs. 1 bis 3:

„(1) Der gemeinschaftliche Sortenschutz hat die Wirkung, dass allein der oder die Inhaber des gemeinschaftlichen Sortenschutzes, im folgenden ‚Inhaber‘ genannt, befugt sind, die in Absatz 2 genannten Handlungen vorzunehmen.

(2) Unbeschadet der Artikel 15 und 16 bedürfen die nachstehend aufgeführten Handlungen in Bezug auf Sortenbestandteile oder Erntegut der geschützten Sorte – beides im folgenden ‚Material‘ genannt – der Zustimmung des Inhabers:

a)

Erzeugung oder Fortpflanzung (Vermehrung),

Der Inhaber kann seine Zustimmung von Bedingungen und Einschränkungen abhängig machen.

(3) Auf Erntegut findet Absatz 2 nur Anwendung, wenn es dadurch gewonnen wurde, dass Sortenbestandteile der geschützten Sorte ohne Zustimmung verwendet wurden, und wenn der Inhaber nicht hinreichend Gelegenheit hatte, sein Recht im Zusammenhang mit den genannten Sortenbestandteilen geltend zu machen.“

5

In Art. 14 („Abweichung vom gemeinschaftlichen Sortenschutz“) dieser Verordnung heißt es:

„(1) Unbeschadet des Artikels 13 Absatz 2 können Landwirte zur Sicherung der landwirtschaftlichen Erzeugung zu Vemehrungszwecken im Feldanbau in ihrem eigenen Betrieb das Ernteerzeugnis verwenden, das sie in ihrem eigenen Betrieb durch Anbau von Vermehrungsgut einer unter den gemeinschaftlichen Sortenschutz fallenden Sorte gewonnen haben, wobei es sich nicht um eine Hybride oder eine synthetische Sorte handeln darf.

(2) Absatz 1 gilt nur für folgende landwirtschaftliche Pflanzenarten:

b) Getreide:

Hordeum vulgare L. – Gerste

(3) Die Bedingungen für die Wirksamkeit der Ausnahmeregelung gemäß Absatz 1 sowie für die Wahrung der legitimen Interessen des Pflanzenzüchters und des Landwirts werden vor dem Inkrafttreten dieser Verordnung in einer Durchführungsordnung gemäß Artikel 114 nach Maßgabe folgender Kriterien festgelegt:

Es gibt keine quantitativen Beschränkungen auf der Ebene des Betriebs des Landwirts, soweit es für die Bedürfnisse des Betriebs erforderlich ist;

das Ernteerzeugnis kann von dem Landwirt selbst oder mittels für ihn erbrachter Dienstleistungen für die Aussaat vorbereitet werden, und zwar unbeschadet einschränkender Bestimmungen, die die Mitgliedstaaten in Bezug auf die Art und Weise, in der dieses Ernteerzeugnis für die Aussaat vorbereitet wird, festlegen können, insbesondere um sicherzustellen, dass das zur Vorbereitung übergebene Erzeugnis mit dem aus der Vorbereitung hervorgegangenen Erzeugnis identisch ist;

Kleinlandwirte sind nicht zu Entschädigungszahlungen an den Inhaber des Sortenschutzes verpflichtet. …

andere Landwirte sind verpflichtet, dem Inhaber des Sortenschutzes eine angemessene Entschädigung zu zahlen, die deutlich niedriger sein muss als der Betrag, der im selben Gebiet für die Erzeugung von Vermehrungsmaterial derselben Sorte in Lizenz verlangt wird; die tatsächliche Höhe dieser angemessenen Entschädigung kann im Laufe der Zeit Veränderungen unterliegen, wobei berücksichtigt wird, inwieweit von der Ausnahmeregelung gemäß Absatz 1 in Bezug auf die betreffende Sorte Gebrauch gemacht wird;

verantwortlich für die Überwachung der Einhaltung der Bestimmungen dieses Artikels oder der aufgrund dieses Artikels erlassenen Bestimmungen sind ausschließlich die Inhaber des Sortenschutzes; bei dieser Überwachung dürfen sie sich nicht von amtlichen Stellen unterstützen lassen;

die Landwirte sowie die Erbringer vorbereitender Dienstleistungen übermitteln den Inhabern des Sortenschutzes auf Antrag relevante Informationen; auch die an der Überwachung der landwirtschaftlichen Erzeugung beteiligten amtlichen Stellen können relevante Informationen übermitteln, sofern diese Informationen im Rahmen der normalen Tätigkeit dieser Stellen gesammelt wurden und dies nicht mit Mehrarbeit oder zusätzlichen Kosten verbunden ist. …“

6

Art. 94 („Verletzung“) der Verordnung sieht vor:

„(1) Wer

a)

hinsichtlich einer Sorte, für die ein gemeinschaftlicher Sortenschutz erteilt wurde, eine der in Artikel 13 Absatz 2 genannten Handlungen vornimmt, ohne dazu berechtigt zu sein, …

kann vom Inhaber auf Unterlassung der Verletzung oder Zahlung einer angemessenen Vergütung oder auf beides in Anspruch genommen werden.

(2) Wer vorsätzlich oder fahrlässig handelt, ist dem Inhaber darüber hinaus zum Ersatz des weiteren aus der Verletzung entstandenen Schadens verpflichtet. Bei leichter Fahrlässigkeit kann sich dieser Anspruch entsprechend dem Grad der leichten Fahrlässigkeit, jedoch nicht unter die Höhe des Vorteils, der dem Verletzer aus der Verletzung erwachsen ist, vermindern.“

7

Art. 114 („Sonstige Durchführungsvorschriften“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 2100/94 bestimmt:

„Die Einzelheiten der Anwendung dieser Verordnung werden in einer Durchführungsordnung geregelt. …“

Verordnung Nr. 1768/95

8

Die Verordnung Nr. 1768/95 wurde auf der Grundlage von Art. 114 der Verordnung Nr. 2100/94 erlassen.

9

Art. 5 („Höhe der Entschädigung“) der Verordnung Nr. 1768/95 bestimmt:

„(1) Die Höhe der dem Sortenschutzinhaber zu zahlenden angemessenen Entschädigung gemäß Artikel 14 Absatz 3 vierter Gedankenstrich der [Verordnung Nr. 2100/94] kann zwischen dem Betriebsinhaber und dem betreffenden Landwirt vertraglich vereinbart werden.

(2) Wurde ein solcher Vertrag nicht geschlossen oder ist ein solcher nicht anwendbar, so muss der Entschädigungsbetrag deutlich niedriger sein als der Betrag, der im selben Gebiet für die Erzeugung von Vermehrungsmaterial in Lizenz derselben Sorte der untersten zur amtlichen Zertifizierung zugelassenen Kategorie verlangt wird.

(4) Ist im Falle von Absatz 2 die Höhe der Entschädigung durch Vereinbarungen zwischen Vereinigungen von Sortenschutzinhabern und von Landwirten … festgesetzt, … so werden die vereinbarten Beträge in den betreffenden Gebieten und für die betreffenden Arten als Leitlinien für die Festsetzung der Entschädigung verwendet, wenn diese der Kommission zusammen mit den einschlägigen Bedingungen schriftlich von bevollmächtigten Vertretern der entsprechenden Vereinigungen mitgeteilt und daraufhin … veröffentlicht wurden.

(5) Liegt im Falle von Absatz 2 keine Vereinbarung im Sinne von Absatz 4 vor, so beläuft sich die Entschädigung auf 50 % des Betrags, der für die Erzeugung des Vermehrungsmaterials in Lizenz gemäß Absatz 2 verlangt wird.

Hat ein Mitgliedstaat der Kommission jedoch vor [dem] 1. Januar 1999 den unverzüglich bevorstehenden Abschluss einer Vereinbarung gemäß Absatz 4 zwischen den betreffenden Vereinigungen auf nationaler oder regionaler Ebene mitgeteilt, so...

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