Towercast v Autorité de la concurrence and Ministère de l’Économie.

JurisdictionEuropean Union
Date16 March 2023
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

16. März 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen – Verordnung (EG) Nr. 139/2004 – Art. 21 Abs. 1 – Ausschließliche Anwendung dieser Verordnung auf unter den Begriff des Zusammenschlusses fallende Vorgänge – Tragweite – Zusammenschluss, der nicht von gemeinschaftsweiter Bedeutung ist, unterhalb der vom Recht eines Mitgliedstaats vorgesehenen Schwellen für eine verpflichtende Ex‑ante-Kontrolle liegt und nicht zu einer Verweisung an die Europäische Kommission geführt hat – Kontrolle eines solchen Zusammenschlusses durch die Wettbewerbsbehörden dieses Mitgliedstaats am Maßstab des Art. 102 AEUV – Zulässigkeit“

In der Rechtssache C‑449/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) mit Entscheidung vom 1. Juli 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Juli 2021, in dem Verfahren

Towercast SASU

gegen

Autorité de la concurrence,

Ministre chargé de l’économie,

Beteiligte:

Tivana Topco SA,

Tivana Midco SARL,

TDF Infrastructure Holding SAS,

TDF Infrastructure SAS,

Tivana France Holdings SAS,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richterin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen, N. Wahl (Berichterstatter) und J. Passer,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Juli 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Towercast SASU, vertreten durch P. Mèle und D. Théophile, Avocats,

– der Autorité de la concurrence, vertreten durch E. Combe und J. Neto als Bevollmächtigte im Beistand von Y. Anselin, Avocat,

– der Tivana Midco SARL und der Tivana Topco SA, vertreten durch S. Hamon und M.‑C. Rameau, Avocates,

– der Tivana France Holdings SAS, der TDF Infrastructure SAS und der TDF Infrastructure Holding SAS, vertreten durch H. Calvet, Y. Chevalier, A. Helfer, F. Salat-Baroux und Y. Trifounovitch, Avocats,

– der französischen Regierung, vertreten durch G. Bain, A.‑L. Desjonquères und P. Dodeller als Bevollmächtigte,

– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Aiello, Avvocato dello Stato,

– der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman, P. Huurnink und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch T. Baumé, P. Berghe und F. Castillo de la Torre als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 13. Oktober 2022

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 21 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. 2004, L 24, S. 1).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Towercast SASU auf der einen Seite und der Autorité de la concurrence (Wettbewerbsbehörde, Frankreich) und dem Ministre de l’économie (Minister für Wirtschaft, Frankreich) auf der anderen Seite wegen einer Entscheidung, mit der die Beschwerde von Towercast wegen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung zurückgewiesen wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Verordnung (EWG) Nr. 4064/89

3 Die Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. 1989, L 395, S. 1) trat am 21. September 1990 in Kraft. Ihre Erwägungsgründe 6 bis 8 sahen vor:

„6. Die Artikel 85 und 86 des [EWG‑] Vertrages sind zwar nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auf bestimmte Zusammenschlüsse anwendbar, reichen jedoch nicht aus, um alle Zusammenschlüsse zu erfassen, die sich als unvereinbar mit dem vom Vertrag geforderten System des unverfälschten Wettbewerbs erweisen könnten.

7. Daher ist ein neues Rechtsinstrument in Form einer Verordnung zu schaffen, die eine wirksame Kontrolle sämtlicher Zusammenschlüsse entsprechend ihren Auswirkungen auf die Wettbewerbsstruktur in der [Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft] ermöglicht und die zugleich das einzige auf derartige Zusammenschlüsse anwendbare Instrument ist.

8. Diese Verordnung ist daher nicht nur auf Artikel 87 [des EWG-Vertrags], sondern vor allem auf Artikel 235 des [EWG‑] Vertrages zu stützen, wonach sich die Gemeinschaft für die Verwirklichung ihrer Ziele zusätzliche Befugnisse geben kann, und zwar auch hinsichtlich der Zusammenschlüsse auf den Märkten für landwirtschaftliche Erzeugnisse im Sinne des Anhangs II des [EWG‑]Vertrages.“

4 Art. 22 der Verordnung bestimmte:

„(1) Für Zusammenschlüsse im Sinne des Artikels 3 gilt allein diese Verordnung.

(2) Die Verordnungen Nr. 17 [des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des [EWG‑]Vertrages (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204)], (EWG) Nr. 1017/68 [des Rates vom 19. Juli 1968 über die Anwendung von Wettbewerbsregeln auf dem Gebiet des Eisenbahn‑, Straßen- und Binnenschiffsverkehrs (ABl. 1968, L 175, S. 1)], (EWG) Nr. 4056/86 [des Rates vom 22. Dezember 1986 über die Einzelheiten der Anwendung der Artikel 85 und 86 des [EWG‑]Vertrages auf den Seeverkehr (ABl. 1986, L 378, S. 4)] und (EWG) Nr. 3975/87 [des Rates vom 14. Dezember 1987 über die Einzelheiten der Anwendung der Wettbewerbsregeln auf Luftfahrtunternehmen (ABl. 1987, L 374, S. 1)] finden auf Zusammenschlüsse im Sinne des Artikels 3 keine Anwendung.

(3) Stellt die [Europäische] Kommission auf Antrag eines Mitgliedstaats fest, dass ein Zusammenschluss im Sinne von Artikel 3, der jedoch keine gemeinschaftsweite Bedeutung im Sinne des Artikels 1 hat, eine beherrschende Stellung begründet oder verstärkt, durch welche wirksamer Wettbewerb im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats erheblich behindert wird, so kann die Kommission – sofern dieser Zusammenschluss den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt – die in Artikel 8 Absatz 2 Unterabsatz 2 sowie in Artikel 8 Absätze 3 und 4 vorgesehenen Entscheidungen erlassen.

(5) Die Kommission trifft in Anwendung von Absatz 3 nur die Maßnahmen, die unbedingt erforderlich sind, um wirksamen Wettbewerb im Gebiet des Mitgliedstaats zu wahren oder wiederherzustellen, auf dessen Antrag hin sie tätig geworden ist.

…“

Verordnung Nr. 139/2004

5 Unbeschadet der in Art. 26 Abs. 2 der Verordnung Nr. 139/2004 festgelegten Übergangsbestimmungen wurde die Verordnung Nr. 4064/89 mit Wirkung vom 1. Mai 2004 durch die Verordnung Nr. 139/2004 aufgehoben und ersetzt.

6 In den Erwägungsgründen 2, 5 bis 9, 20 und 24 der Verordnung Nr. 139/2004 heißt es:

„(2) Zur Verwirklichung der allgemeinen Ziele des [EG‑]Vertrags ist der [Europäischen] Gemeinschaft in Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe g) die Aufgabe übertragen worden, ein System zu errichten, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts vor Verfälschungen schützt. …

(5) [Es] ist zu gewährleisten, dass der Umstrukturierungsprozess nicht eine dauerhafte Schädigung des Wettbewerbs verursacht. Das Gemeinschaftsrecht muss deshalb Vorschriften für solche Zusammenschlüsse enthalten, die geeignet sind, wirksamen Wettbewerb im Gemeinsamen Markt oder in einem wesentlichen Teil desselben erheblich zu beeinträchtigen.

(6) Daher ist ein besonderes Rechtsinstrument erforderlich, das eine wirksame Kontrolle sämtlicher Zusammenschlüsse im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Wettbewerbsstruktur in der Gemeinschaft ermöglicht und das zugleich das einzige auf derartige Zusammenschlüsse anwendbare Instrument ist. Mit der Verordnung [Nr. 4064/89] konnte eine Gemeinschaftspolitik in diesem Bereich entwickelt werden. Es ist jedoch nunmehr an der Zeit, vor dem Hintergrund der gewonnenen Erfahrung die genannte Verordnung neu zu fassen, um den Herausforderungen eines stärker integrierten Markts und der künftigen Erweiterung der Europäischen Union besser gerecht [zu] werden. Im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach Artikel 5 [EG] geht die vorliegende Verordnung nicht über das zur Erreichung ihres Ziels, der Gewährleistung eines unverfälschten Wettbewerbs im Gemeinsamen Markt entsprechend dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, erforderliche Maß hinaus.

(7) Die Artikel 81 und 82 [EG] sind zwar nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auf bestimmte Zusammenschlüsse anwendbar, reichen jedoch nicht aus, um alle Zusammenschlüsse zu erfassen, die sich als unvereinbar mit dem vom [EG‑]Vertrag geforderten System des unverfälschten Wettbewerbs erweisen könnten. Diese Verordnung ist daher nicht nur auf Artikel 83 [EG], sondern vor allem auf Artikel 308 [EG] zu stützen, wonach sich die Gemeinschaft für die Verwirklichung ihrer Ziele zusätzliche Befugnisse geben kann; dies gilt auch für Zusammenschlüsse auf den Märkten für landwirtschaftliche Erzeugnisse im Sinne des Anhangs I des [EG‑]Vertrags.

(8) Die Vorschriften dieser Verordnung sollten für bedeutsame Strukturveränderungen gelten, deren Auswirkungen auf den Markt die Grenzen eines Mitgliedstaats überschreiten. Solche Zusammenschlüsse sollten grundsätzlich nach dem Prinzip der einzigen Anlaufstelle und im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip ausschließlich auf Gemeinschaftsebene geprüft werden. …

(9) Der Anwendungsbereich dieser Verordnung sollte anhand des geografischen Tätigkeitsbereichs der beteiligten Unternehmen bestimmt und durch Schwellenwerte eingegrenzt werden, damit Zusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter Bedeutung erfasst werden können. …

(20) Der Begriff des Zusammenschlusses ist so zu definieren, dass er Vorgänge erfasst, die zu einer dauerhaften Veränderung der Kontrolle an den beteiligten Unternehmen und damit an der Marktstruktur führen. In den Anwendungsbereich dieser Verordnung sollten daher auch alle Gemeinschaftsunternehmen einbezogen werden, die auf Dauer alle Funktionen einer selbstständigen wirtschaftlichen Einheit erfüllen. Ferner sollten Erwerbsvorgänge, die...

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