Conclusiones del Abogado General Sr. M. Campos Sánchez-Bordona, presentadas el 30 de marzo de 2023.

JurisdictionEuropean Union
Date30 March 2023
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 30. März 2023(1)

Rechtssache C27/22

Volkswagen Group Italia S.p.A.,

Volkswagen Aktiengesellschaft

gegen

Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato,

Beteiligte:

Associazione Cittadinanza Attiva Onlus,

Coordinamento delle associazioni per la tutela dell’ambiente e dei diritti degli utenti e consumatori (Codacons)

(Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato [Staatsrat, Italien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Grundrechte – Grundsatz ne bis in idem – Wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängte Sanktionen – Rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung in einem Mitgliedstaat – In einem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Handlungen gegen dieselbe Person verhängte Verwaltungsgeldbuße strafrechtlicher Natur – Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem im Fall der Kumulierung grenzüberschreitender Sanktionsverfahren – Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem – Koordinierung der Kumulierung von Sanktionsverfahren“






1. In diesem Vorabentscheidungsersuchen geht es um die grenzüberschreitende Anwendung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) in einer Angelegenheit, die nicht mit der Freizügigkeit der Personen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in Zusammenhang steht.

2. Im vorliegenden Sachverhalt treffen Sanktionen und Sanktionsverfahren der Behörden zweier Mitgliedstaaten – Deutschland und Italien – zusammen(2). Das sanktionierte Verhalten, das sich in beiden Mitgliedstaaten (und vielen weiteren) ausgewirkt hat, wird derselben Gruppe von Automobilunternehmen mit Sitz in Deutschland zugerechnet.

3. In derartigen Verfahren entsteht bei der Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem auf der Grundlage von Art. 52 der Charta ein Problem, wenn die von den Behörden zweier Mitgliedstaaten eingeleiteten Verfahren nicht hinreichend koordiniert werden, was zu einem Nebeneinander von Sanktionen führt.

4. Der Gerichtshof hat nämlich festgestellt, dass die Koordinierung der Sanktionsverfahren eine unabdingbare Voraussetzung für die Anwendbarkeit dieser Einschränkung ist. Gleichwohl ist zu klären, ob es möglich (und realistisch) ist, diese Voraussetzung beizubehalten, wenn es zu einer Kumulierung von Sanktionsverfahren kommt, die in zwei Mitgliedstaaten von Behörden mit unterschiedlichen Zuständigkeitsbereichen durchgeführt werden, und es keinen rechtlichen Mechanismus zur Koordinierung ihrer Maßnahmen gibt(3).

I. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

1. Charta der Grundrechte der Europäischen Union

5. Art. 50 („Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden“) bestimmt:

„Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“

6. In Art. 52 („Tragweite … der Rechte …“) ist vorgesehen:

„(1) Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

…“

2. Richtlinie 2005/29/EG(4)

7. Art. 1 lautet:

„Zweck dieser Richtlinie ist es, durch Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über unlautere Geschäftspraktiken, die die wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher beeinträchtigen, zu einem reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts und zum Erreichen eines hohen Verbraucherschutzniveaus beizutragen.“

8. Art. 3 Abs. 4 bestimmt:

„Kollidieren die Bestimmungen dieser Richtlinie mit anderen Rechtsvorschriften der Gemeinschaft, die besondere Aspekte unlauterer Geschäftspraktiken regeln, so gehen die Letzteren vor und sind für diese besonderen Aspekte maßgebend.“

9. Art. 13 sah vor:

„Die Mitgliedstaaten legen die Sanktionen fest, die bei Verstößen gegen die nationalen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie anzuwenden sind, und treffen alle geeigneten Maßnahmen, um ihre Durchsetzung sicherzustellen. Diese Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“

10. Nach seiner Änderung durch die Richtlinie (EU) 2019/2161(5) hat ebendieser Art. 13 mit Wirkung vom 28. Mai 2022 folgenden Wortlaut:

„(1) Die Mitgliedstaaten erlassen Vorschriften über Sanktionen, die bei Verstößen gegen die gemäß dieser Richtlinie erlassenen nationalen Vorschriften zu verhängen sind, und treffen alle für die Anwendung der Sanktionen erforderlichen Maßnahmen. Die vorgesehenen Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.

(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass bei der Verhängung der Sanktionen folgende als nicht abschließend zu verstehende und beispielhafte Kriterien, sofern zutreffend, berücksichtigt werden:

e) Sanktionen, die gegen den Gewerbetreibenden für denselben Verstoß in grenzüberschreitenden Fällen in anderen Mitgliedstaaten verhängt wurden, sofern Informationen über solche Sanktionen im Rahmen des aufgrund der Verordnung (EU) 2017/2394 des Europäischen Parlaments und des Rates[(6)] errichteten Mechanismus verfügbar sind;

(3) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass im Rahmen der Verhängung von Sanktionen nach Artikel 21 der Verordnung (EU) 2017/2394 entweder Geldbußen im Verwaltungsverfahren verhängt werden können oder gerichtliche Verfahren zur Verhängung von Geldbußen eingeleitet werden können oder beides erfolgen kann, wobei sich der Höchstbetrag solcher Geldbußen auf mindestens 4 % des Jahresumsatzes des Gewerbetreibenden in dem (den) betreffenden Mitgliedstaat(en) beläuft. …

…“

B. Nationales Recht. Decreto legislativo Nr. 206 vom 6. September 2005(7)

11. Art. 20 Abs. 2 lautet:

„Eine Geschäftspraxis ist unlauter, wenn sie der beruflichen Sorgfalt widerspricht und in Bezug auf das jeweilige Produkt das wirtschaftliche Verhalten des Durchschnittsverbrauchers, den sie erreicht oder an den sie sich richtet, oder des durchschnittlichen Mitglieds einer Gruppe von Verbrauchern, wenn sich eine Geschäftspraxis an eine bestimmte Gruppe von Verbrauchern richtet, spürbar beeinflusst oder dazu geeignet ist, es spürbar zu beeinflussen.“

12. Nach Art. 20 Abs. 4 werden zwei Kategorien von unlauteren Praktiken unterschieden: irreführende Praktiken (gemäß den Art. 21, 22 und 23) und aggressive Praktiken (die in den Art. 24, 25 und 26 erwähnt werden).

13. Art. 27 Abs. 9 sieht vor:

„Zusammen mit der Maßnahme, die die unlautere Geschäftspraxis untersagt, verhängt die Behörde unter Berücksichtigung der Schwere und der Dauer des Verstoßes eine Verwaltungsgeldbuße in Höhe von 5 000 Euro bis 5 000 000 Euro. In Fällen unlauterer Geschäftspraktiken nach Art. 21 Abs. 3 und 4 beträgt die Geldbuße mindestens 50 000 Euro.“

II. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14. Mit der Entscheidung Nr. 26137 vom 4. August 2016 verhängte die AGCM gegen die Volkswagen Group Italia S.p.A. und die Volkswagen Aktiengesellschaft (im Folgenden: VWGI bzw. VWAG) eine Geldbuße in Höhe von 5 Mio. Euro mit der Begründung, dass diese Gesellschaften sich unlauterer Geschäftspraktiken im Sinne der Art. 21 Abs. 1 Buchst. b, Art. 23 Abs. 1 Buchst. d und Art. 21 Abs. 3 und Abs. 4 des Verbrauchergesetzbuchs bedient hätten. Mit diesen Bestimmungen wird die Richtlinie 2005/29 in das italienische Recht umgesetzt.

15. Nach der Vorlageentscheidung bestanden die der VWGI und der VWAG von der AGCM zur Last gelegten Verstöße in:

– dem Inverkehrbringen in Italien von Dieselfahrzeugen, die mit Systemen ausgestattet waren, die dazu bestimmt waren, die Messung der Schadstoffemissionen für die Zwecke der Typgenehmigung zu verändern(8);

– der Verbreitung von Werbung, in der trotz der Veränderung der Emissionswerte betont wurde, dass diese Fahrzeuge den Vorgaben der Umweltschutzvorschriften entsprechen.

16. Die VWGI und die VWAG fochten die Entscheidung der AGCM vor dem Tribunale Amministrativo Regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht für die Region Latium, Italien, im Folgenden: TAR Latium) an.

17. Nachdem die AGCM ihre Entscheidung Nr. 26137/2016 erlassen hatte, aber vor dem Erlass eines Urteils durch das TAR Latium, stellte die Staatsanwaltschaft Braunschweig der VWAG im Jahr 2018 einen Bußgeldbescheid zu, mit dem sie nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (im Folgenden: OWiG) eine Geldbuße in Höhe von 1 Mrd. Euro gegen die VWAG verhängte(9).

18. Diese Geldbuße bezog sich teilweise auf dieselben Handlungen wie diejenigen Handlungen, die von der AGCM geahndet wurden. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das in Deutschland beanstandete Verhalten Folgendes umfasste:

– das weltweite Inverkehrbringen (insgesamt 10,7 Millionen Fahrzeuge, davon 700 000 auf dem italienischen Markt) von Fahrzeugen, die mit Systemen ausgestattet sind, die dazu bestimmt sind, die Messung der Schadstoffemissionen für die Zwecke der Typgenehmigung zu verändern;

– die Verbreitung von Werbung, in der trotz der Veränderung der Emissionswerte behauptet wurde, dass diese Fahrzeuge besonders umweltfreundlich seien.

19. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Braunschweig wurde am 13. Juni 2018 rechtskräftig, da die VWAG auf eine Anfechtung verzichtete und zudem das Bußgeld am 18. Juni 2018 bezahlte.

20. Am 3. April 2019 wies das TAR Latium in seinem Urteil Nr. 6920/2019 die Klage der VWGI und der VWAG zurück, obwohl die beiden Unternehmen auf die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Braunschweig hingewiesen hatten.

21. Die VWGI und die VWAG beriefen sich insbesondere auf eine Reihe von Entscheidungen der Gerichte anderer Mitgliedstaaten, in denen innerstaatliche Verfahren wegen der Veränderung von Emissionswerten mit der Begründung...

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