Opinion of Advocate General Ćapeta delivered on 30 March 2023.

JurisdictionEuropean Union
Date30 March 2023
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

TAMARA ĆAPETA

vom 30. März 2023(1)

Rechtssache C106/22

Xella Magyarország Építőanyagipari Kft.

gegen

Innovációs és Technológiai Miniszter,

Beteiligte:

„JANES ÉS TÁRSA“ Szállítmányozó, Kereskedelmi és Vendéglátó Kft.

(Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Törvényszék [Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zuständigkeit – Niederlassungsfreiheit – Freier Kapitalverkehr – Verordnung (EU) Nr. 2019/452 – Überprüfung von Investitionen – Bescheid, mit dem der Erwerb einer EU-Gesellschaft durch eine andere EU-Gesellschaft wegen der ausländischen Eigentumsstruktur der zuletzt genannten Gesellschaft und der strategischen Stellung der Zielgesellschaft vorläufig untersagt wird“






I. Einleitung

1. Die Geschichte des vorliegenden Falles spielt im Dorf Lázi im Komitat Győr-Moson-Sopron (Ungarn), wo sich ein Steinbruch befindet, in dem Sand, Ton, Kaolin und Kies abgebaut werden. Der ungarische Minister für Innovation und Technologie (im Folgenden: Minister) untersagte vorläufig den beabsichtigten Erwerb einer ungarischen Gesellschaft, in deren Eigentum der in Rede stehende Steinbruch steht, durch die Antragstellerin, eine weitere ungarische Gesellschaft. In dem Bescheid, mit dem dieses Veto begründet wurde, legte der Minister dar, dass es den nationalen Interessen Ungarns entgegenstünde, einer Gesellschaft, die sich in mittelbarer bermudischer Eigentümerschaft befinde, die Übernahme der Kontrolle über eine im Bereich des Abbaus von Bauzuschlagstoffen tätige Gesellschaft zu gestatten.

2. Dieser Bescheid wurde vor dem Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn) angefochten. Dieses Gericht ersucht in seiner Vorlage insbesondere um Hinweise dazu, ob das ungarische Recht, das dem Minister erlaubt, sein Veto gegen das in Rede stehende Rechtsgeschäft einzulegen, mit Art. 65 Abs. 1 Buchst. b AEUV und der Verordnung (EU) 2019/452(2) (im Folgenden: Verordnung über die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen) vereinbar ist.

3. Die übergeordnete Frage, die der Gerichtshof daher zu beantworten haben wird, ist die, ob das Vorliegen einer Drittstaatsbeteiligung an einem EU-Unternehmen unter bestimmten Umständen die nationale öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Mitgliedstaaten gefährden kann. Hätte man mir eine solche Frage vor 20 Jahren gestellt, hätte ich kaum Zweifel daran gehabt, dass es sich um eine Form von Protektionismus handelt, die von einer freien und offenen Marktwirtschaft nicht toleriert wird.

4. Damals waren Begriffe wie „friend-shoring“ (ausschließlicher Handel mit befreundeten Staaten) und „outbound investment screening“ (Überprüfung von Investitionen in Drittstaaten) außerhalb nationaler Sicherheitskreise jedoch kaum bekannt und hätten überzeugte Befürworter der Globalisierung sicherlich mit Abscheu erfüllt(3). Heute hingegen sollen diese Begriffe die neuen handelspolitischen Ziele der Europäischen Union prägen(4).

5. Die Welt hat sich verändert, wie jeder Unionsbürger gesehen und gespürt hat, sei es in Form leerer Supermarktregale oder höherer Stromrechnungen. Die russische Aggression in der Ukraine hat nämlich die Gefahren der Abhängigkeit vom guten Willen der Handelspartner von gestern schmerzlich bloßgelegt(5). Daher sollte man insbesondere dann, wenn man mit Maßnahmen konfrontiert wird, die unzweifelhaft einen Rückschritt hinsichtlich der Offenheit des Binnenmarkts der Union gegenüber dem Handel mit Drittstaaten darstellen, nicht vorschnell urteilen: Die geostrategischen Interessen von morgen können das Bekenntnis von heute zum Freihandel beeinflussen.

6. Wie sind diese Interessen rechtlich verankert und wie ist die Rechtsetzungsbefugnis zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten aufgeteilt? Der Gerichtshof ist in der vorliegenden Rechtssache aufgerufen, diese verfassungsrechtliche Frage der Unionszuständigkeiten für Direktinvestitionen aus Drittstaaten aufzudröseln. Von besonderem Gewicht wird bei dieser Prüfung die Aufnahme des Begriffs der „ausländischen Direktinvestition“ in den Anwendungsbereich der gemeinsamen Handelspolitik durch den Vertrag von Lissabon sein. Wie verträgt sich das mit dem Begriff der „Direktinvestition“, wie er in den Bestimmungen über den freien Kapitalverkehr verwendet wird? Inwieweit fallen Direktinvestitionen aus dem Ausland in die ausschließliche Zuständigkeit der Union für die Regelung des Handels und inwieweit bleiben sie Teil der geteilten Zuständigkeit des Binnenmarkts? Die Antwort auf diese Fragen sollte wiederum klären, in welchem Umfang den Mitgliedstaaten nach dem heutigen Vertragswerk ein Ermessen dahin eingeräumt wird, den Erwerb von Gesellschaften auf ihrem Staatsgebiet aus Erwägungen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit heraus zu überprüfen und vorläufig zu untersagen.

II. Rechtlicher und tatsächlicher Hintergrund des vorliegenden Verfahrens und Vorlagefragen

7. Xella Magyarország Építőanyagipari Kft. (im Folgenden: Antragstellerin) ist eine ungarische Gesellschaft, die Betonbaustoffe herstellt. Sie steht zu 100 % im Eigentum einer deutschen Gesellschaft, der Xella Baustoffe GmbH (im Folgenden: Xella Deutschland). Eigentümerin dieser deutschen Gesellschaft ist eine luxemburgische Gesellschaft, die Xella International SA (im Folgenden: Xella Luxemburg), die wiederum im Eigentum der in Bermuda registrierten LSF10 XL Investments Limited (im Folgenden: Gesellschaft in Bermuda) steht. Dem Ersuchen des vorlegenden Gerichts ist zu entnehmen, dass die Gesellschaft in Bermuda ein Tochterunternehmen von Lone Star Funds X (im Folgenden: Lone Star) ist, einer US-amerikanischen Beteiligungsgesellschaft. Gründer und Eigentümer von Lone Star ist eine natürliche Person irischer Staatsangehörigkeit.

8. „Janes és Társa“ Szállítmányozó, Kereskedelmi és Vendéglátó Kft. (im Folgenden: Janes) ist eine ungarische Gesellschaft, die Eigentümerin eines in Ungarn belegenen Steinbruchs ist. Sie betreibt den Abbau bestimmter Bauzuschlagstoffe, nämlich Kies, Sand, Ton und Kaolin. Die Gewinnung dieser Zuschlagstoffe durch Janes macht 0,52 % der nationalen Produktion Ungarns aus. Dem vorlegenden Gericht zufolge ist die Antragstellerin die größte Kundin von Janes und kauft etwa 90 % der Gesamtproduktion von Janes. Die restlichen 10 % der durch Janes gewonnenen Baustoffe würden von lokalen Bauunternehmen gekauft.

9. Am 29. Oktober 2020 schloss die Antragstellerin eine Vereinbarung über die Übernahme von 100 % der Anteile an Janes.

10. Das in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehende ungarische Gesetz(6) (im Folgenden: Gesetz LVIII 2020) sieht u. a. vor, dass Übernahmen „strategische[r] Gesellschaften“ durch „ausländische Investoren“ dem Minister angezeigt werden müssen. Gemäß § 276 Nr. 2 Buchst. a dieses Gesetzes umfasst der Begriff „ausländischer Investor“ nicht nur Staatsangehörige und juristische Personen aus Drittstaaten, sondern auch in Ungarn oder einem anderen Mitgliedstaat eingetragene Gesellschaften, an denen ein Drittstaatsangehöriger oder eine in einem Drittstaat ansässige juristische Person eine „Mehrheitskontrolle“ ausübt(7). Aufgrund ihrer von Anhang I Nr. 22 (Rohstoffe von kritischem Interesse) Unterpunkt 8 (Sonstiger Bergbau) der Regierungsverordnung Nr. 289/2020(8) erfassten Tätigkeiten gilt Janes offenbar als „strategische Gesellschaft“ im Sinne des Gesetzes LVIII 2020(9).

11. Wegen ihrer indirekten ausländischen Beteiligung und der Bezeichnung von Janes als „strategische Gesellschaft“ teilte die Antragstellerin dem Minister die geplante Übernahme mit.

12. Mit Bescheid vom 20. Juli 2021 untersagte der Minister vorläufig diese Übernahme (im Folgenden: angefochtener Bescheid). Dieser Bescheid erging auf der Grundlage von § 283 des Gesetzes LVIII 2020, das den Minister ermächtigt, zu prüfen, ob das mitgeteilte Rechtsgeschäft die nationalen Interessen, die öffentliche Sicherheit oder die öffentliche Ordnung Ungarns verletzt oder zu verletzen droht. Wenn der Minister der Auffassung ist, dass dies der Fall ist, muss er das Rechtsgeschäft vorläufig untersagen.

13. In der Begründung des angefochtenen Bescheides weist der Minister darauf hin, dass die Antragstellerin ein Unternehmen sei, das sich unmittelbar in deutscher Eigentümerschaft, mittelbar aber in luxemburgischer und bermudischer Eigentümerschaft befinde. Nach Ansicht des Ministers ist eines der kennzeichnenden Probleme des ungarischen Bausektors, dass Rohstoffe für die Bauwirtschaft nicht in geeigneter Menge zur Verfügung stünden. Im Bereich der Herstellung von Bauzuschlagstoffen werde der Markt von Gesellschaften in ausländischem Eigentum dominiert. Ferner betont der Minister die strategische Bedeutung einer sicheren und berechenbaren Rohstoffgewinnung und ‑versorgung. Sollte Janes in bermudische Hände fallen, stelle dies langfristig ein Risiko im Hinblick auf die Versorgung der Bauwirtschaft mit Ausgangsstoffen dar.

14. Die Antragstellerin wendet sich vor dem vorlegenden Gericht gegen den angefochtenen Bescheid. Sie macht im Wesentlichen geltend, dass dieser zu einer Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit führe, die nicht nach Art. 65 Abs. 1 Buchst. b AEUV gerechtfertigt werden könne.

15. Vor diesem tatsächlichen und rechtlichen Hintergrund hat das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof) entschieden, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist Art. 65 Abs. 1 Buchst. b AEUV – auch unter Berücksichtigung der Erwägungsgründe 4 und 6 der Verordnung 2019/452 und von Art. 4 Abs. 2 EUV – dahin auszulegen, dass er die Möglichkeit der Regelung gemäß Titel 85 und insbesondere der Regelung gemäß § 276 Nrn. 1 und 2 Buchst. a und § 283 Abs. 1 Buchst. b des Gesetzes LVIII von 2020 umfasst?

2. Falls die erste Frage bejaht wird: Schließt der bloße Umstand, dass die Europäische Kommission im Hinblick auf die Beteiligungskette des indirekten ausländischen Investors ein Fusionskontrollverfahren durchgeführt, ihre...

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