Schlussanträge des Generalanwalts G. Pitruzzella vom 11. November 2020.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2020:899
Celex Number62019CC0585
Date11 November 2020
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

GIOVANNI PITRUZZELLA

vom 11. November 2020(1)

Rechtssache C585/19

Academia de Studii Economice din Bucureşti

gegen

Organismul Intermediar pentru Programul Operaţional Capital Uman – Ministerul Educaţiei Naţionale

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunalul Bucureşti [Landgericht Bukarest, Rumänien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2003/88 – Arbeitnehmer mit mehreren Arbeitsverträgen – Arbeitszeit und Ruhezeiten – Höchstgrenzen der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit – Anwendung pro Arbeitnehmer oder pro Vertrag“






1. Gelten die von der Richtlinie 2003/88(2) vorgeschriebenen Grenzen der täglichen und der wöchentlichen Arbeitszeit auch für den Fall, dass ein Arbeitnehmer mit demselben Arbeitgeber mehrere Verträge geschlossen hat? Oder sind sie „pro Vertrag“ anzuwenden und ist daher die etwaige Überschreitung dieser Grenzen für jeden einzelnen Arbeitsvertrag zu beurteilen?

2. Diese Rechtsfragen sind im Wesentlichen der Hintergrund der vorliegenden Rechtssache, die dem Gerichtshof zum ersten Mal Gelegenheit gibt, die Auslegung einiger Bestimmungen der Richtlinie 2003/88 zu präzisieren, die in den verschiedenen Mitgliedstaaten unter diesem Blickwinkel unterschiedlich angewandt werden.

I. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

3. Die Erwägungsgründe 1, 4, 5 und 11 der Richtlinie 2003/88 lauten:

„(1) Die Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23. November 1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung [(ABl. 1993, L 307, S. 18)], die Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung im Hinblick auf tägliche Ruhezeiten, Ruhepausen, wöchentliche Ruhezeiten, wöchentliche Höchstarbeitszeit, Jahresurlaub sowie Aspekte der Nacht- und der Schichtarbeit und des Arbeitsrhythmus enthält, ist in wesentlichen Punkten geändert worden. Aus Gründen der Übersichtlichkeit und Klarheit empfiehlt es sich deshalb, die genannten Bestimmungen zu kodifizieren.

(4) Die Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit stellen Zielsetzungen dar, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen.

(5) Alle Arbeitnehmer sollten angemessene Ruhezeiten erhalten. Der Begriff ‚Ruhezeit‘ muss in Zeiteinheiten ausgedrückt werden, d. h. in Tagen, Stunden und/oder Teilen davon. Arbeitnehmern in der Gemeinschaft müssen Mindestruhezeiten – je Tag, Woche und Jahr – sowie angemessene Ruhepausen zugestanden werden. In diesem Zusammenhang muss auch eine wöchentliche Höchstarbeitszeit festgelegt werden.

(11) Die Arbeitsbedingungen können die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer beeinträchtigen. Die Gestaltung der Arbeit nach einem bestimmten Rhythmus muss dem allgemeinen Grundsatz Rechnung tragen, dass die Arbeitsgestaltung dem Menschen angepasst sein muss.“

4. Art. 1 der Richtlinie 2003/88 sieht Folgendes vor:

„(1) Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.

(2) Gegenstand dieser Richtlinie sind

a) die täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten, der Mindestjahresurlaub, die Ruhepausen und die wöchentliche Höchstarbeitszeit sowie

b) bestimmte Aspekte der Nacht- und der Schichtarbeit sowie des Arbeitsrhythmus.

(3) Diese Richtlinie gilt unbeschadet ihrer Artikel 14, 17, 18 und 19 für alle privaten oder öffentlichen Tätigkeitsbereiche im Sinne des Artikels 2 der Richtlinie 89/391/EWG. …“

5. In Art. 2 der Richtlinie 2003/88 heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie sind:

1. Arbeitszeit: jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt;

2. Ruhezeit: jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit;

…“

6. Art. 3 („Tägliche Ruhezeit“) der Richtlinie 2003/88 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jedem Arbeitnehmer pro 24-Stunden-Zeitraum eine Mindestruhezeit von elf zusammenhängenden Stunden gewährt wird.“

7. Art. 6 („Wöchentliche Höchstarbeitszeit“) der Richtlinie 2003/88 lautet:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit nach Maßgabe der Erfordernisse der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer:

a) die wöchentliche Arbeitszeit durch innerstaatliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften oder in Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern festgelegt wird;

b) die durchschnittliche Arbeitszeit pro Siebentageszeitraum 48 Stunden einschließlich der Überstunden nicht überschreitet.“

8. In Art. 17 („Abweichungen“) der Richtlinie 2003/88 heißt es:

„(1) Unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer können die Mitgliedstaaten von den Artikeln 3 bis 6, 8 und 16 abweichen, wenn die Arbeitszeit wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen und/oder nicht im Voraus festgelegt wird oder von den Arbeitnehmern selbst festgelegt werden kann, und zwar insbesondere in Bezug auf nachstehende Arbeitnehmer:

a) leitende Angestellte oder sonstige Personen mit selbstständiger Entscheidungsbefugnis;

b) Arbeitskräfte, die Familienangehörige sind;

c) Arbeitnehmer, die im liturgischen Bereich von Kirchen oder Religionsgemeinschaften beschäftigt sind.

…“

9. Art. 22 („Sonstige Bestimmungen“) der Richtlinie 2003/88 sieht Folgendes vor:

„(1) Es ist einem Mitgliedstaat freigestellt, Artikel 6 nicht anzuwenden, wenn er die allgemeinen Grundsätze der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer einhält und mit den erforderlichen Maßnahmen dafür sorgt, dass

a) kein Arbeitgeber von einem Arbeitnehmer verlangt, im Durchschnitt des in Artikel 16 Buchstabe b) genannten Bezugszeitraums mehr als 48 Stunden innerhalb eines Siebentagezeitraums zu arbeiten, es sei denn der Arbeitnehmer hat sich hierzu bereit erklärt;

b) keinem Arbeitnehmer Nachteile daraus entstehen, dass er nicht bereit ist, eine solche Arbeit zu leisten;

c) der Arbeitgeber aktuelle Listen über alle Arbeitnehmer führt, die eine solche Arbeit leisten;

d) die Listen den zuständigen Behörden zur Verfügung gestellt werden, die aus Gründen der Sicherheit und/oder des Schutzes der Gesundheit der Arbeitnehmer die Möglichkeit zur Überschreitung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit unterbinden oder einschränken können;

e) der Arbeitgeber die zuständigen Behörden auf Ersuchen darüber unterrichtet, welche Arbeitnehmer sich dazu bereit erklärt haben, im Durchschnitt des in Artikel 16 Buchstabe b) genannten Bezugszeitraums mehr als 48 Stunden innerhalb eines Siebentagezeitraums zu arbeiten.

(3) Sofern die Mitgliedstaaten von den in diesem Artikel genannten Möglichkeiten Gebrauch machen, setzen sie die Kommission unverzüglich davon in Kenntnis.“

B. Rumänisches Recht

10. Die Art. 111, 112, 114 und 135 der Legea nr. 53/2003 privind Codul muncii (Gesetz Nr. 53/2003 vom 24. Januar 2003 über das Arbeitsgesetzbuch) sehen Folgendes vor:

„Art. 111: Arbeitszeit ist jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den Bestimmungen seines Arbeitsvertrags, des anwendbaren Tarifvertrags und/oder der geltenden Rechtsvorschriften arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt.

Art. 112 Abs. 1: Für vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer beträgt die Regelarbeitszeit 8 Stunden pro Tag und 40 Stunden pro Woche.

Art. 114 Abs. 1: Die gesetzliche Höchstarbeitszeit darf 48 Stunden pro Woche einschließlich der Überstunden nicht überschreiten.

Art. 135 Abs. 1: Die Arbeitnehmer haben zwischen zwei Arbeitstagen Anspruch auf eine Ruhezeit, die nicht weniger als 12 zusammenhängende Stunden betragen darf.“

II. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11. Die Academia de Studii Economice din București (Akademie für wirtschaftswissenschaftliche Studiengänge Bukarest, Rumänien, im Folgenden: ASE), eine rumänische Hochschule, erhielt eine nicht rückzahlbare europäische Finanzierung des Europäischen Sozialfonds, die von den rumänischen Behörden gewährt worden war, nämlich vom Organismul Intermediar pentru Programul Operațional Capital Uman – Ministerul Educației Naționale (Zwischengeschaltete Stelle für das operationelle Programm „Humankapital“ – Ministerium für Bildung, Rumänien, im Folgenden: OI POCU MEN) zur Durchführung des Projekts POSDRU/89/1.5/S/59184 (Sektorielles Operationelles Programm Personalentwicklung) mit dem Titel „Leistung und Exzellenz in der Postdoktoranden-Forschung in den Wirtschaftswissenschaften in Rumänien“, im Folgenden: Projekt).

12. Am 4. Juni 2018 stellte der OI POCU MEN in einem Bericht über die Feststellung von Finanzverstößen fest, dass ein Teil der Gehaltskosten betreffend die Experten des Teams für die Durchführung des Projekts nicht erstattungsfähig sei, da diese Beschäftigten zwischen Oktober 2012 und Januar 2013 an einigen Tagen eine Gesamtzahl von vertraglich festgelegten Stunden erklärt hätten, die über der in den Anweisungen des OI POCU MEN gemäß den Bestimmungen der Richtlinie 2003/88 festgelegten Obergrenze von 13 Arbeitsstunden pro Tag lägen.

13. Die als nicht erstattungsfähig angesehenen Kosten von 13 808 RON (2 904 Euro) entsprechen den Gehaltskosten (Nettogehalt, Steuer, Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge) betreffend die Beschäftigten des Teams für die Durchführung des Projekts.

14. Aus den Akten des Ausgangsverfahrens geht, wie das vorlegende Gericht ausführt, hervor, dass die Experten mit mehreren Arbeitsverträgen vom selben Arbeitgeber, der ASE, eingestellt wurden. Sie scheinen von dieser Einrichtung als Arbeitnehmer auf der Grundlage eines unbefristeten Individualvertrags für 40 Stunden pro Woche in Vollzeit eingestellt worden zu sein, aber auch einen oder mehrere befristete individuelle Teilzeitarbeitsverträge mit demselben Arbeitgeber geschlossen zu haben. So verzeichneten diese Arbeitnehmer an einigen Tagen eine Gesamtzahl von Arbeitsstunden zwischen...

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