Conclusiones del Abogado General Sr. P. Pikamäe, presentadas el 11 de febrero de 2021.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:116
Celex Number62019CC0901
Date11 February 2021
CourtCourt of Justice (European Union)

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PRIIT PIKAMÄE

vom 11. Februar 2021(1)

Rechtssache C901/19

CF,

DN

gegen

Bundesrepublik Deutschland

(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs Baden‑Württemberg [Deutschland])

„Richtlinie 2011/95/EU – Mindestnormen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus – Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz – Art. 2 Buchst. f – Tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens – Art. 15 Buchst. c – Ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts – Beurteilung des Grads willkürlicher Gewalt“






1. Wie ist der Grad willkürlicher Gewalt eines bewaffneten Konflikts zu messen, um einen Antrag auf subsidiären Schutz auf der Grundlage von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95/EU(2) zu beurteilen? Kann die Gewährung eines solchen Schutzes von der Erfüllung eines vorgelagerten quantitativen Kriteriums abhängig gemacht werden, das sich auf eine Mindestzahl von Opfern, Verwundeten oder Toten im Kampfgebiet im Verhältnis zu der vor Ort anwesenden Bevölkerung bezieht, oder setzt sie von vornherein eine sowohl quantitative als auch qualitative Gesamtwürdigung aller diesen bewaffneten Konflikt kennzeichnenden Aspekte voraus?

2. Das sind die in der vorliegenden Rechtssache aufgeworfenen Fragen, was dem Gerichtshof Gelegenheit gibt, seine unter der Geltung der Richtlinie 2004/83/EG(3) ergangene Rechtsprechung zu präzisieren.

I. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

3. In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2011/95 heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

a) ‚internationaler Schutz‘ die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus im Sinne der Buchstaben e und g;

b) ,Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde‘ eine Person, der die Flüchtlingseigenschaft gemäß Buchstabe e oder der subsidiäre Schutzstatus gemäß Buchstabe g zuerkannt wurde;

f) ‚Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz‘ einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, der aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Artikel 15 zu erleiden, und auf den Artikel 17 Absätze 1 und 2 keine Anwendung findet und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will;

…“

4. Art. 4 („Prüfung der Tatsachen und Umstände“) der Richtlinie 2011/95 bestimmt u. a.:

„(1) Die Mitgliedstaaten können es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Es ist Pflicht des Mitgliedstaats, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen.

(3) Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist:

a) alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind …;

b) die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte;

c) die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind;

(4) Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

…“

5. Art. 15 der Richtlinie 2011/95 lautet:

„Als ernsthafter Schaden gilt

a) die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder

b) Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder

c) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.“

B. Deutsches Recht

6. Die Richtlinie 2011/95 ist durch das Asylgesetz (BGBl. 2008 I S. 1798, im Folgenden: AsylG) in deutsches Recht umgesetzt worden.

7. § 4 Abs. 1 und 3 AsylG legt in Umsetzung der Art. 2 und 15 der Richtlinie 2011/95 die Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiärem Schutz fest. In dieser Vorschrift heißt es:

„(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1. die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,

2. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder

3. eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

…“

II. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8. Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass es sich bei den Klägern des Ausgangsverfahrens um zwei afghanische Zivilpersonen aus der Provinz Nangarhar (Afghanistan) handelt, deren Asylanträge in Deutschland durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgelehnt wurden. Die vor den Verwaltungsgerichten Karlsruhe und Freiburg erhobenen Klagen blieben erfolglos. Vor dem Berufungsgericht, dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Deutschland), beantragten die Kläger, ihnen mangels Erlangung der Flüchtlingseigenschaft subsidiären Schutz nach § 4 AsylG zu gewähren.

9. In diesem Zusammenhang ersucht dieses Gericht um eine weitere Klärung der unionsrechtlichen Kriterien für die Gewährung von subsidiärem Schutz im Fall konfliktbedingter willkürlicher Gewalt zulasten der Zivilbevölkerung im Sinne von Art. 15 Buchst. c in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2011/95. Der Gerichtshof habe sich dazu noch nicht geäußert, und die Rechtsprechung der anderen Gerichte zu dieser Frage sei uneinheitlich. Während teilweise eine umfassende Beurteilung auf der Grundlage aller Umstände des Einzelfalls vorgenommen werde, stellten andere Ansätze primär auf die Prüfung der Anzahl ziviler Opfer ab.

10. Das vorlegende Gericht weist insbesondere darauf hin, dass sich die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Deutschland) zu § 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 AsylG, der Art. 15 Buchst. c in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2011/95 umsetze, im Hinblick auf die Feststellung, ob eine Person, die nicht aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen sei, ernsthaft und individuell bedroht sei, erheblich von der Rechtsprechung anderer Gerichte und insbesondere von der des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unterscheide, die sich auf eine Gesamtwürdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls stütze.

11. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts setze die Feststellung einer ernsthaften individuellen Bedrohung (bei Personen, die nicht aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen seien) notwendigerweise eine quantitative Bewertung des „Tötungs- und Verletzungsrisikos“ voraus, ausgedrückt durch das Verhältnis an Opfern zur Gesamtzahl der Bevölkerung in dem betreffenden Gebiet, wobei das ermittelte Verhältnis einen bestimmten Mindestwert erreichen müsse. Das Bundesverwaltungsgericht habe diesen Mindestwert zwar bislang nicht beziffert, aber entschieden, dass eine Wahrscheinlichkeit, verletzt oder getötet zu werden, von ca. 0,12 % oder 1 zu 800 pro Jahr weit unter dem erforderlichen Mindestwert liege. Nach dieser Rechtsprechung bedürfe es, wenn diese Wahrscheinlichkeitsschwelle nicht überschritten werde, keiner zusätzlichen Beurteilung der Intensität der Gefahr, und selbst eine Gesamtwürdigung der besonderen Umstände des Einzelfalls könne nicht zur Feststellung einer ernsthaften individuellen Bedrohung führen.

12. Sofern die ernsthafte individuelle Bedrohung in erster Linie von der Zahl ziviler Opfer abhängig wäre, müssten die Anträge der Kläger auf subsidiären Schutz daher nach Auffassung des vorlegenden Gerichts abgelehnt werden. Dagegen wäre bei einer Gesamtwürdigung, die auch andere risikoerzeugende Umstände berücksichtigen würde, das derzeitige Ausmaß der Gewalt in der Provinz Nangarhar so hoch, dass die Kläger, die keinen Zugang zu Schutz innerhalb des Landes hätten, allein durch ihre Anwesenheit in dem betreffenden Gebiet ernsthaft bedroht wären.

13. Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Gerichtshof zwar bereits in seinem Urteil vom 17. Februar 2009, Elgafaji (C‑465/07, im Folgenden: Urteil Elgafaji, EU:C:2009:94), entschieden habe, dass bei einer Person, die nicht aufgrund von Umständen, die ihrer persönlichen Situation innewohnten, spezifisch betroffen sei, eine ernsthafte individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Fall eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 der Richtlinie 2011/95 ausnahmsweise als erwiesen angesehen werden könne, wenn der den Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein...

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