Opinion of Advocate General Kokott delivered on 10 November 2022.
Jurisdiction | European Union |
Court | Court of Justice (European Union) |
ECLI | ECLI:EU:C:2022:875 |
Celex Number | 62021CC0616 |
Date | 10 November 2022 |
Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
JULIANE KOKOTT
vom 10. November 2022(1)
Rechtssache C‑616/21
Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej
gegen
Gmina L.
(Vorabentscheidungsersuchen des Naczelny Sąd Administracyjny [Oberstes Verwaltungsgericht, Polen])
„Vorabentscheidungsersuchen – Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 2, 9 und 13 – Dienstleistung gegen Entgelt – Begriff des Steuerpflichtigen – Wirtschaftliche Tätigkeit – Typologische Betrachtungsweise – Einrichtung des öffentlichen Rechts, die die Asbestbeseitigung im Gemeindegebiet für die Einwohner unentgeltlich organisiert, aber dafür einen Zuschuss von einem Fonds erhält – Keine größeren Wettbewerbsverzerrungen“
I. Einführung
1. Die Beseitigung von gefährlichen Altlasten wie asbesthaltigen Produkten durch eine Gemeinde dient nicht nur dem Gesundheitsschutz der Einwohner, sondern kann auch interessante mehrwertsteuerrechtliche Fragen aufwerfen. Hätten die betroffenen Einwohner selbst ein Unternehmen mit der Beseitigung beauftragt, wäre die mehrwertsteuerrechtliche Beurteilung klar. Das Unternehmen erbringt an diese eine steuerbare und steuerpflichtige Leistung. Der Staat erhält die entsprechende Mehrwertsteuer. Ein staatlicher Zuschuss in Höhe von 100 % der Kosten an die Einwohner hätte keine mehrwertsteuerrechtliche Relevanz.
2. Wie sieht es aber aus, wenn es eine Gemeinde für die betroffenen Einwohner unentgeltlich organisiert, dass diese Abfälle durch ein von ihr beauftragtes Unternehmen entsorgt werden, und sie dann die von ihr zunächst getragenen Kosten ganz oder anteilig von einem Dritten (hier einem staatlichen Fonds) erstattet bekommt? Auch insoweit erhält der Staat mindestens einmal seine Mehrwertsteuer durch das Unternehmen. Wenn die Gemeinde jedoch in Höhe von 40 bis 100 % einen Zuschuss aus staatlichen Mitteln erhält, führt dies dann zu einer weiteren steuerbaren und steuerpflichtigen Leistung der Gemeinde an die Einwohner und damit zum Entstehen einer weiteren Mehrwertsteuer?
3. Die Folge der dadurch entstehenden Leistungskette (Leistung von dem Unternehmen über die Gemeinde zum Einwohner) wäre, dass die Gemeinde diese Mehrwertsteuer abführen müsste, aus der Eingangsleistung aber grundsätzlich einen Vorsteuerabzug geltend machen könnte. Wenn der Zuschuss genauso hoch wie die Eingangskosten ist, ist alles ein Nullsummenspiel mit jeder Menge Verwaltungsaufwand. Ist der Zuschuss niedriger (oder fällt nicht in die Bemessungsgrundlage), würde ein Vorsteuerüberhang verbleiben, der das Steueraufkommen reduziert. Ist der Zuschuss höher, würde zusätzliches Steueraufkommen aus einem staatlichen Förderprogramm generiert. Alle drei Folgen bereiten Unbehagen, insbesondere wenn noch das durch das Engagement der Gemeinde bezweckte Ziel (Umweltschutz, Gesundheitsschutz, Gefahrenabwehr) berücksichtigt wird, das auch der Allgemeinheit und nicht nur dem Einwohner zugutekommt.
4. Die mehrwertsteuerrechtliche Würdigung der mit staatlichen Mitteln geförderten kommunalen Asbestbeseitigung wirft einige grundlegende mehrwertsteuerrechtliche Fragen auf, die der Gerichtshof in diesem Vorabentscheidungsersuchen beantworten muss. So ist u. a. zu klären, wie der Empfänger und der Erbringer einer Dienstleistung zu bestimmen sind. Ebenso grundlegend ist die Frage, ob eine Gemeinde – vorausgesetzt sie wäre Erbringer einer Dienstleistung – in einem solchen Fall auch eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
5. Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem(2) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sieht vor:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt“.
6. Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie regelt:
„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“
7. Art. 13 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet hingegen:
„(1) Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten nicht als Steuerpflichtige, soweit sie die Tätigkeiten ausüben oder Umsätze bewirken, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Umsätzen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben.
Falls sie solche Tätigkeiten ausüben oder Umsätze bewirken, gelten sie für diese Tätigkeiten oder Umsätze jedoch als Steuerpflichtige, sofern eine Behandlung als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde.
Die Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten in Bezug auf die in Anhang I genannten Tätigkeiten in jedem Fall als Steuerpflichtige, sofern der Umfang dieser Tätigkeiten nicht unbedeutend ist.
(2) Die Mitgliedstaaten können die Tätigkeiten von Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die nach den Artikeln 132, 135, 136 und 371, den Artikeln 374 bis 377, dem Artikel 378 Absatz 2, dem Artikel 379 Absatz 2 oder den Artikeln 380 bis 390c von der Mehrwertsteuer befreit sind, als Tätigkeiten behandeln, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen.“
8. Art. 28 der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft den Kommissionär von Dienstleistungen und lautet:
„Steuerpflichtige, die bei der Erbringung von Dienstleistungen im eigenen Namen, aber für Rechnung Dritter tätig werden, werden behandelt, als ob sie diese Dienstleistungen selbst erhalten und erbracht hätten.“
9. Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie regelt die Bemessungsgrundlage:
„Bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter die Artikel 74 bis 77 fallen, umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen.“
B. Polnisches Recht
10. Die Republik Polen hat die Mehrwertsteuerrichtlinie durch das Ustawa z dnia 11 marca 2004 r. o podatku od towarów i usług (Gesetz vom 11. März 2004 über die Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen, Dz. U. 2018, Pos. 2174, mit Änderungen, im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) umgesetzt.
11. Art. 29a Abs. 1 Mehrwertsteuergesetz betrifft dabei die Bemessungsgrundlage und sieht vor:
„Als Bemessungsgrundlage gilt, vorbehaltlich der Abs. 2, 3 und 5, der Art. 30a bis 30c, 32, des Art. 119 und des Art. 120 Abs. 1, 4 und 5, alles, was die Zahlung darstellt, die der Lieferant bzw. Dienstleistungserbringer aufgrund des Verkaufs vom Erwerber, Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten erhalten hat bzw. erhalten soll, einschließlich der erhaltenen Zuschüsse, Subventionen und sonstigen Zuzahlungen ähnlicher Art, die einen unmittelbaren Einfluss auf den Preis der durch den Steuerpflichtigen gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen haben.“
12. Das Ustawa z dnia 8 marca 1990 r. o samorządzie gminnym (Gesetz vom 8. März 1990 über die Selbstverwaltung der Gemeinden, (Dz. U. 2020, Pos. 713, mit Änderungen, im Folgenden: Gesetz über die Selbstverwaltung der Gemeinden) regelt in Art. 7 Abs. 1:
„Die Befriedigung der kollektiven Bedürfnisse der Gemeinschaft ist eine eigene Aufgabe der Gemeinde. Zu den eigenen Aufgaben gehören insbesondere Angelegenheiten:
1) der Raumordnung, der Immobilienwirtschaft, des Umwelt- und Naturschutzes sowie der Wasserwirtschaft; …
5) des Gesundheitsschutzes; …“
13. Das Ustawa z dnia 27 kwietnia 2001 r. Prawo ochrony środowiska (Gesetz vom 27. April 2001, Umweltschutzgesetz, Dz. U. 2020, Pos. 1219, mit Änderungen, im Folgenden: Umweltschutzgesetz) sieht in Art. 400 Abs. 2 vor:
„Die Woiwodschaftsfonds für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, im Folgenden als ‚Woiwodschaftsfonds‘ bezeichnet, sind juristische Personen der kommunalen Selbstverwaltung im Sinne von Art. 9 Nr. 14 des in Abs. 1 genannten Gesetzes [d. h. der Ustawa z dnia 27 sierpnia 2009 r. o finansach publicznych (Gesetz vom 27. August 2009 über die öffentlichen Finanzen, Dz. U. 2019, Pos. 869, mit späteren Änderungen)].“
14. Art. 400b Abs. 2 und 2a Umweltschutzgesetz regelt:
„(2) Ziel der Tätigkeit der Woiwodschaftsfonds ist die Finanzierung des Umweltschutzes und der Wasserwirtschaft in dem in Art. 400a Abs. 1 Nrn. 2, 2a, 5 bis 9a, 11 bis 22 und 24 – 42 genannten Umfang.
(2a) Ziel der Tätigkeit des Nationalfonds und der Woiwodschaftsfonds ist es auch, die Bedingungen für die Umsetzung der Finanzierung des Umweltschutzes und der Wasserwirtschaft zu schaffen, insbesondere durch die Unterstützung und Förderung von Aktivitäten, die auf eine solche Umsetzung abzielen, sowie durch die Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen, einschließlich Gebietskörperschaften, Unternehmern und Einrichtungen mit Sitz außerhalb der Republik Polen.“
15. Die Bestimmungen über die Beseitigung von Asbest ergeben sich aus einem Parlamentsgesetz.(3) Dazu existiert ein Beschluss des Ministerrats vom 14. Juli 2009 zur Aufstellung eines mehrjährigen Programms mit dem Namen „Programm zur Säuberung des Landes von Asbest für die Jahre 2009-2032“.(4) In dem Beschluss werden die von der Europäischen Union auferlegten Aufgaben in einer mehrjährigen Perspektive definiert und die Ziele sowie der rechtliche, finanzielle und organisatorische Rahmen für das Programm festgelegt. Die Gebietskörperschaften werden darin verpflichtet, Programme zur Beseitigung von asbesthaltigen Produkten auszuarbeiten.
16. Der Rat der Stadt L. hat, gestützt...
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