Opinion of Advocate General Richard de la Tour delivered on 9 March 2023.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:191
Date09 March 2023
Celex Number62022CC0142
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 9. März 2023(1)

Rechtssache C142/22

OE

gegen

Minister for Justice and Equality

(Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland)]

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 27 – Grundsatz der Spezialität – Strafverfolgung wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die dieser Übergabe zugrunde liegt – Zustimmung der vollstreckenden Justizbehörde – Unwirksamer Europäischer Haftbefehl – Folgen für das Ersuchen um Zustimmung – Abschließend im Rahmen der Übergabeentscheidung beantwortete Frage“






I. Einleitung

1. Art. 27 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten(2) in der Fassung des Rahmenbeschlusseses 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009(3) legt den Grundsatz der Spezialität fest, wonach Personen, die übergeben wurden, wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, weder verfolgt noch verurteilt noch einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden dürfen.

2. Nach Art. 27 Abs. 3 Buchst. g des Rahmenbeschlusses 2002/584 findet der Grundsatz der Spezialität im Sinne von Abs. 2 dieses Artikels keine Anwendung, wenn die vollstreckende Justizbehörde, die die Person übergeben hat, ihre Zustimmung nach Absatz 4 dieses Artikels dazu gibt, dass diese wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, verfolgt, verurteilt oder einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden darf.

3. Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen wird der Gerichtshof im Wesentlichen ersucht, darüber zu entscheiden, ob die Feststellung, dass ein Europäischer Haftbefehl, auf dessen Grundlage eine Person übergeben wurde, von einer Behörde ausgestellt wurde, bei der es sich nicht um eine „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 handelte, und dieser Haftbefehl deshalb als unwirksam anzusehen gewesen wäre, die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie um Zustimmung ersucht wird, die Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats zu ermächtigen, diese Person wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Straftat als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, zu verfolgen oder zu verurteilen, daran hindert, eine solche Zustimmung zu erteilen.

4. In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, zu antworten, dass die vollstreckende Justizbehörde durch einen solchen Grund für die Unwirksamkeit eines Europäischen Haftbefehls nicht daran gehindert ist, die beantragte Zustimmung zu erteilen.

II. Rechtsrahmen

A. Unionsrecht

5. Im Rahmen der vorliegenden Rechtssache sind Art. 1 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 und 2, Art. 8 Abs. 1 und Art 27 des Rahmenbeschlusses 2002/584 maßgeblich.

B. Irisches Recht

6. Der Rahmenbeschluss 2002/584 wurde durch den European Arrest Warrant Act 2003 (Gesetz über den Europäischen Haftbefehl von 2003) in seiner geänderten Fassung in irisches Recht umgesetzt.

7. Art. 2 Abs. 1 dieses Gesetzes enthält u. a. die folgenden Definitionen:

– „Justizbehörde“ ist/sind „der Richter oder andere Personen, die nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats befugt sind, Aufgaben wahrzunehmen, die den von einem Gericht in [Irland] gemäß Section 33 wahrzunehmenden Aufgaben entsprechen oder ähnlich sind“. Der Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) stellt klar, dass es sich um die Aufgabe der Ausstellung Europäischer Haftbefehle handelt;

– „ausstellende Justizbehörde“ ist „die Justizbehörde des Austellungsstaats, die den betreffenden Haftbefehl erlassen hat“, und

– „Ausstellungsmitgliedstaat“ ist „ein Mitgliedstaat …, dessen Justizbehörde diesen Europäischen Haftbefehl erlassen hat“.

8. Section 22 des Gesetzes über den Europäischen Haftbefehl von 2003, ersetzt durch Section 80 des Criminal Justice (Terrorist Offences) Act 2005 (Gesetz über die Strafjustiz von 2005 [Terroristische Straftaten]) sieht in Abs. 7 vor:

– „Der High Court (Obergericht, Irland) kann in Bezug auf eine Person, die nach diesem Gesetz an einen Ausstellungsstaat übergeben wurde, nach Eingang eines entsprechenden schriftlichen Ersuchens des Ausstellungsstaats seine Zustimmung dazu erteilen,

(a) dass gegen die Person im Ausstellungsstaat ein Verfahren wegen einer Straftat eingeleitet wird,

(b) dass im Ausstellungsstaat wegen einer Straftat eine Strafe, einschließlich einer Strafe in Form einer Freiheitsentziehung, gegen die Person verhängt wird oder

(c) dass ein Verfahren gegen die Person eingeleitet wird oder dass die Person im Ausstellungsstaat zum Zweck der Vollstreckung einer Strafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung in Bezug auf eine Straftat in Haft genommen wird.“

9. Section 22 Abs. 8 des Gesetzes über den Europäischen Haftbefehl von 2003, ersetzt durch Section 15 des European Arrest Warrant (Application to Third Countries and Amendment) and Extradition (Amendment) Act 2012 (Gesetz über den Europäischen Haftbefehl von 2012 [Änderung betreffend die Anwendung auf Drittstaaten] und Auslieferung [Änderung]) sieht vor, dass die Zustimmung gemäß Section 22 Abs. 7 des Gesetzes über den Europäischen Haftbefehl von 2003 zu verweigern ist, wenn die betreffende Straftat eine Straftat ist, für die eine Person gemäß Teil 3 dieses Gesetzes nicht ausgeliefert werden darf. Dieser Teil 3 enthält Anforderungen in Bezug auf Grundrechte, Entsprechung der Straftatbestände, Doppelbestrafung, Strafverfolgung gegen die gesuchte Person innerhalb des Hoheitsgebiets des Staates aufgrund derselben Tat, Strafmündigkeitsalter, Extraterritorialität und Abwesenheitsverfahren.

III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

10. Im Jahr 2016 wurden gegen OE drei Europäische Haftbefehle erlassen, wobei zwei dieser Haftbefehle von der Staatsanwaltschaft Amsterdam (Niederlande) und der dritte von einer Abteilung der niederländischen nationalen Staatsanwaltschaft ausgestellt worden waren. Diese Haftbefehle waren auf die Übergabe von OE zum Zweck der Strafverfolgung wegen einer Reihe von Straftaten, u. a. Straftaten der Geldwäsche, der Körperverletzung und des versuchten Mordes, gerichtet.

11. Da die von OE erhobenen Einwände vom High Court (Obergericht) zurückgewiesen wurden und OE gegen das Urteil dieses Gerichts kein Rechtsmittel einlegte, wurde er 2017 an die niederländischen Behörden übergeben. Es steht fest, dass keine dieser Einwände gegen die Tatsache erhoben wurde, dass die Europäischen Haftbefehle von Staatsanwaltschaften ausgestellt worden waren. OE wurde danach zu einer Freiheitsstrafe von 18 Jahren verurteilt, die er gegenwärtig in den Niederlanden verbüßt.

12. Am 1. Mai 2019 richtete die niederländische nationale Staatsanwaltschaft an den High Court (Obergericht) in dessen Eigenschaft als vollstreckende Justizbehörde ein Ersuchen um Zustimmung gemäß den in Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Bestimmungen, um die Erlaubnis zur Einleitung einer Strafverfolgung gegen OE wegen vor der Übergabe begangener anderer Straftaten als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegen, zu erhalten. Dieses Ersuchen wurde am 23. Juli 2019 an den High Court (Obergericht) gerichtet. OE wurde wegen der neuen Tatbestände bereits angeklagt, für schuldig befunden und zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, doch bedarf es der Zustimmung der vollstreckenden Justizbehörde, damit diese neue Freiheitsstrafe vollstreckt werden kann.

13. Dieses Zustimmungsersuchen wurde jedoch nach der Verkündung des Urteils vom 27. Mai 2019, OG und PI (Staatsanwaltschaft Lübeck und Staatsanwaltschaft Zwickau)(4) zurückgezogen, wonach Staatsanwaltschaften eines Mitgliedstaats, bei denen die Gefahr besteht, dass sie im Rahmen des Erlasses einer Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive unterworfen sind, nicht unter den Begriff „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 fallen können.

14. In der weiteren Folge wurde ein neues Ersuchen um Zustimmung an den High Court (Obergericht) gerichtet, das aber in diesem Fall durch einen Untersuchungsrichter in Amsterdam gestellt worden war.

15. OE trat diesem Ersuchen um Zustimmung vor dem High Court (Obergericht) entgegen und machte dabei geltend, dass die Behörden, die die Europäischen Haftbefehle ausgestellt hätten, keine „ausstellende Justizbehörden“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 seien. Insoweit ist klarzustellen, dass OE keine Einwände gegen seine Übergabe an die niederländischen Behörden auf der Grundlage dieser Europäischen Haftbefehle erhebt, sondern vielmehr geltend macht, dass die Zustimmung zur Verfolgung von anderen Straftaten als solchen, die der Übergabe zugrunde liegen, nicht erteilt werden könne, wenn die ursprünglichen Europäischen Haftbefehle nicht wirksam von einer ausstellenden Justizbehörde ausgestellt worden seien.

16. Da der High Court (Obergericht) der Auffassung war, dass die Entscheidung über die Übergabe von OE rechtskräftig geworden sei, wies er den von diesem eingelegten Rechtsbehelf zurück. Letztgenannter legte beim Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland)...

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