Opinion of Advocate General Medina delivered on 25 January 2024.

JurisdictionEuropean Union
Celex Number62022CC0753
ECLIECLI:EU:C:2024:82
Date25 January 2024
CourtCourt of Justice (European Union)

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

LAILA MEDINA

vom 25. Januar 2024(1)

Rechtssache C753/22

QY

gegen

Bundesrepublik Deutschland

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts [Deutschland])

„Vorabentscheidungsersuchen – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Gemeinsame Asylpolitik – Entscheidung eines Mitgliedstaats über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Gefahr, in diesem Mitgliedstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren – Folgen für den neuen, in einem anderen Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz – Prüfung dieses neuen Antrags durch den anderen Mitgliedstaat – Ermittlung einer möglichen extraterritorialen Bindungswirkung der Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Gegenseitige Anerkennung – Informationsaustausch“






I. Einleitung

1. Das Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) hat in einem Verfahren zwischen Frau QY, einer syrischen Staatsangehörigen, der in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (im Folgenden: Bundesamt) ein Vorabentscheidungsersuchen betreffend die Entscheidung dieses Bundesamts vorgelegt, mit der der Antrag von Frau QY auf Anerkennung dieser Eigenschaft abgelehnt wurde.

2. Im vorliegenden Fall kann Deutschland, der Mitgliedstaat, an den der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtet wurde (im Folgenden: zweiter Mitgliedstaat), Frau QY nicht nach Griechenland, in den Mitgliedstaat, der ihr erstmals einen solchen Status zuerkannt hat (im Folgenden: erster Mitgliedstaat), zurückführen, da sie dies in Anbetracht der Lebensverhältnisse für Flüchtlinge in diesem Mitgliedstaat der ernsthaften Gefahr aussetzen würde, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) zu erfahren(2).

3. Vor diesem Hintergrund möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Primärrecht der Union und die einschlägigen Bestimmungen dreier im Bereich des Asylrechts der Union erlassener Sekundärrechtsakte, nämlich der Dublin‑III-Verordnung(3), der Verfahrensrichtlinie(4) und der Qualifikationsrichtlinie(5), dahin auszulegen seien, dass der zweite Mitgliedstaat verpflichtet sei, die vom ersten Mitgliedstaat zuerkannte Flüchtlingseigenschaft ohne weitere Prüfung der für die Bejahung der Flüchtlingseigenschaft erforderlichen materiellen Voraussetzungen anzuerkennen.

4. Der vorliegende Fall wirft die Frage auf, ob es eine gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zwischen den Mitgliedstaaten geben kann, und, wenn ja, ob diese Anerkennung fortbesteht, wenn der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens nicht mehr gelten kann. Ähnliche Fragestellungen sind derzeit Gegenstand von drei weiteren beim Gerichtshof anhängigen Rechtssachen(6).

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

5. Art. 78 Abs. 1 und 2 AEUV lautet:

„(1) Die Union entwickelt eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden soll. Diese Politik muss mit dem Genfer Abkommen vom 28. Juli 1951[(7)] [im Folgenden: Genfer Abkommen] … im Einklang stehen.

(2) Für die Zwecke des Absatzes 1 erlassen das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen in Bezug auf ein gemeinsames europäisches Asylsystem ([im Folgenden: GEAS)], das Folgendes umfasst:

a) einen in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asylstatus für Drittstaatsangehörige;

…“

1. DublinIII-Verordnung

6. Art. 3 Abs. 1 und 2 der Dublin‑III-Verordnung bestimmt:

„(1) Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.

(2) Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.

Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der [Charta] mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat … die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.

Kann keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.“

7. Art. 34 dieser Verordnung enthält Vorschriften über den Informationsaustausch.

2. Verfahrensrichtlinie

8. Art. 33 („Unzulässige Anträge“) Abs. 1 und 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie lautet:

„(1) Zusätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der [Dublin‑III-Verordnung] ein Antrag nicht geprüft wird, müssen die Mitgliedstaaten nicht prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der [Qualifikationsrichtlinie] zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf der Grundlage des vorliegenden Artikels als unzulässig betrachtet wird.

(2) Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten, wenn

a) ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat …“.

3. Qualifikationsrichtlinie

9. In Art. 4 Abs. 1, 2 und 3 der Qualifikationsrichtlinie ist die Prüfung der Tatsachen und Umstände bei Anträgen auf internationalen Schutz geregelt.

10. Die Art. 11, 12, 13 und 14 dieser Richtlinie sind für den vorliegenden Fall ebenfalls von Bedeutung.

B. Deutsches Recht

11. § 60 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: AufenthaltsG) bestimmt, dass in Anwendung des Genfer Abkommens, „ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden [darf], in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.“

12. Dem vorlegenden Gericht zufolge schließt nach § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthaltsG, wenn außerhalb des Bundesgebiets einer Person die Flüchtlingseigenschaft in Bezug auf einen bestimmten Staat zuerkannt worden ist, die Zuerkennung dieser Eigenschaft auch für deutsche Behörden die Abschiebung in diesen Staat aus. Mit dem Erlass dieser Regelung habe der deutsche Gesetzgeber eine für die betroffene Person auf den Abschiebungsschutz beschränkte Bindungswirkung der Anerkennung dieser Eigenschaft angeordnet, aber keinen neuen Anspruch hinsichtlich der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft geschaffen.

III. Ausgangsverfahren, Vorlagefrage und Verfahren vor dem Gerichtshof

13. Frau QY, einer syrischen Staatsangehörigen, wurde 2018 in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Zu einem vom vorlegenden Gericht nicht offengelegten Zeitpunkt stellte sie einen Antrag auf internationalen Schutz in Deutschland.

14. Ein deutsches Verwaltungsgericht stellte in seinem Urteil fest, dass Frau QY in Anbetracht der Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge in Griechenland der ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren, so dass sie nicht in diesen Mitgliedstaat zurückgeführt werden könne.

15. Mit Bescheid vom 1. Oktober 2019 gewährte das Bundesamt ihr subsidiären Schutz und lehnte ihren Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab.

16. Das Verwaltungsgericht (Deutschland) wies die von Frau QY eingereichte Klage mit der Begründung ab, der geltend gemachte Anspruch folge nicht bereits daraus, dass ihr in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei. Der Antrag sei unbegründet, weil ihr in Syrien keine Verfolgung drohe.

17. Frau QY legte daraufhin Sprungrevision beim Bundesverwaltungsgericht (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, ein. Sie macht geltend, dass das Bundesamt an die bereits erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch Griechenland gebunden sei.

18. Das vorlegende Gericht führt aus, dass keine Bestimmung des deutschen Rechts Frau QY das Recht auf Anerkennung der von einem anderen Mitgliedstaat zuerkannten Flüchtlingseigenschaft verleihe. Es weist ferner darauf hin, dass ihr Antrag von den deutschen Behörden nicht als unzulässig abgelehnt werden könne, weil Frau QY zwar in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei, ihr aber Gefahr drohe, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren, würde sie in diesen Mitgliedstaat zurückgeführt. Das vorlegende Gericht betont, dass es erforderlich sei, die Rechtsfolgen zu ermitteln, die sich daraus ergäben, dass diese Möglichkeit aufgrund der Gefahr des Verstoßes gegen diese Bestimmung nicht zur Verfügung stehe.

19. Es hält es für notwendig, zu klären, ob das Unionsrecht der Vornahme einer neuerlichen Prüfung durch das Bundesamt entgegenstehe, bei der dieses nicht durch eine frühere Entscheidung gebunden sei, mit der ein anderer Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt habe, und ob einer solchen Entscheidung...

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1 cases
  • Opinion of Advocate General Emiliou delivered on 27 June 2024.
    • European Union
    • Court of Justice (European Union)
    • June 27, 2024
    ...of asylum law, Opinion of Advocate General Medina in Bundesrepublik Deutschland (Effect of a decision granting refugee status) (C‑753/22, EU:C:2024:82, point 37 See Opinion of Advocate General Richard de la Tour in Generalstaatsanwaltschaft Hamm (Request for the extradition of a refugee to ......