Opinion of Advocate General Emiliou delivered on 10 November 2022.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:873
Date10 November 2022
Celex Number62021CC0040
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NICHOLAS EMILIOU

vom 10. November 2022(1)

Rechtssache C40/21

T.A.C.

gegen

ANI

(Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Timişoara [Berufungsgericht Timisoara], Rumänien)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Entscheidung 2006/928/EG – Kooperations- und Kontrollverfahren – Öffentliches Wahlamt – Interessenkonflikt – Sanktionen – Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter für einen vorbestimmten Zeitraum – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 49 Abs. 3 – Verhältnismäßigkeit der Sanktionen – Unmittelbare Wirkung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Befugnisse nationaler Gerichte – Art. 15 Abs. 1 – Recht zu arbeiten – Begriff ‚Arbeit‘ – Art. 47 – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf“






I. Einleitung

1. In einem Interessenkonflikt rechtswidrig zu handeln, ist wohl eine der größten Sünden für Politiker und Beamte. Derartiges berührt nämlich den Kern ihres Auftrags, dem Gemeinwohl zu dienen. Das Problem „Interessenkonflikt“ gibt es seit Jahrhunderten und hat zu vielen (verbindlichen und nicht verbindlichen) Rechtsvorschriften auf nationaler, inter- und sub-nationaler Ebene(2) geführt.

2. Einige Leitgrundsätze zu diesem Thema finden sich u. a. im „International Code of Conduct for Public Officials“, der 1996 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen (im Folgenden: VN) angenommen wurde(3), und im „Muster-Verhaltenskodex für Amtsträger und Angehörige des öffentlichen Dienstes“ des Europarats aus dem Jahr 2000(4). Naturgemäß gibt es in verschiedenen von der Europäischen Union angenommenen Rechtsakten Bestimmungen, die in ihrem jeweiligen Bereich darauf abzielen, Interessenkonflikte von Unions- oder nationalen Beamten zu verhindern. Ein solches Rechtsinstrument ist die Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung(5).

3. Die vorliegende Rechtssache, die auf ein Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Timişoara (Berufungsgericht Timisoara, Rumänien) zurückgeht, betrifft die Wechselwirkungen zwischen der Entscheidung 2006/928, den zur Umsetzung dieser Entscheidung erlassenen nationalen Rechtsvorschriften und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). Das vorlegende Gericht möchte vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht – insbesondere Art. 15 Abs. 1, Art. 47 und Art. 49 Abs. 3 der Charta – einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der gegen die Person, die in einem Interessenkonflikt gehandelt hat, automatisch eine Sanktion verhängt wird, die darin besteht, dass sie für einen fest vorbestimmten Zeitraum kein öffentliches Wahlamt ausüben darf (im Folgenden: streitige Sanktion).

4. Trotz ihrer scheinbaren Einfachheit wirft diese Frage eine Reihe interessanter rechtlicher Fragen auf, die den Anwendungsbereich dieser Bestimmungen der Charta und die Befugnisse und Pflichten der nationalen Gerichte in Fällen betreffen, in denen das nationale Recht bei Verstößen gegen nationale Vorschriften zur Umsetzung des Unionsrechts unverhältnismäßige Sanktionen vorschreibt.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

5. Art. 1 Abs. 1 der Entscheidung 2006/928 bestimmt:

„Bis zum 31. März jedes Jahres und zum ersten Mal bis zum 31. März 2007 erstattet Rumänien der Kommission Bericht über die Fortschritte bei der Erfüllung der im Anhang aufgeführten Vorgaben.“

6. Der Anhang enthält eine Aufstellung dieser Vorgaben. Nr. 2 des Anhangs lautet:

„Einrichtung einer Behörde für Integrität mit folgenden Zuständigkeiten: Überprüfung von Vermögensverhältnissen, Unvereinbarkeiten und möglichen Interessenskonflikten und Verabschiedung verbindlicher Beschlüsse als Grundlage für abschreckende Sanktionen.“

B. Nationales Recht

7. Art. 25 der Legea nr. 176/2010 privind integritatea în exercitarea funcțiilor și demnităților publice, pentru modificarea și completarea Legii nr. 144/2007 privind înființarea, organizarea și funcționarea Agenției Naționale de Integritate, precum și pentru modificarea și completarea altor acte normative (Gesetz Nr. 176/2010 über die Integrität bei der Wahrnehmung öffentlicher Ämter und Würden, zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes Nr. 144/2007 über die Errichtung, Organisation und Arbeitsweise der Nationalen Integritätsbehörde sowie zur Änderung und Ergänzung weiterer Rechtsakte, im Folgenden: Gesetz Nr. 176/2010) sieht vor:

„(1) Die Handlung einer Person, bezüglich deren festgestellt wurde, dass sie unter Verstoß gegen die gesetzlichen Verpflichtungen betreffend den Interessenkonflikt oder die Unvereinbarkeit einen Verwaltungsakt erlassen, ein Rechtgeschäft abgeschlossen, eine Entscheidung erlassen oder am Erlass einer Entscheidung mitgewirkt hat, stellt ein Disziplinarvergehen dar und wird nach den für die betreffende Würde, das betreffende Amt oder die betreffende Tätigkeit geltenden Vorschriften geahndet, sofern die Bestimmungen dieses Gesetzes nichts anderes bestimmen und die Handlung nicht die Tatbestandsmerkmale einer Straftat erfüllt.

(2) Einer Person, die gemäß den Bestimmungen von Abs. 1 aus dem Amt entlassen oder ihres Amtes enthoben worden ist oder bei der ein Interessenkonflikt oder eine Unvereinbarkeit festgestellt worden ist, ist für einen Zeitraum von drei Jahren ab dem Tag der Entlassung oder der Entfernung aus dem betreffenden öffentlichen Amt oder der betreffenden öffentlichen Würde oder der Beendigung des Mandats das Recht verwehrt, ein öffentliches Amt oder eine öffentliche Würde, die den Bestimmungen dieses Gesetzes unterliegen, zu bekleiden, mit Ausnahme von Wahlämtern. Hat die Person ein wählbares Amt bekleidet, darf sie dasselbe Amt für einen Zeitraum von drei Jahren nach der Beendigung des Mandats nicht mehr ausüben. Bekleidet die Person zum Zeitpunkt der Feststellung der Unvereinbarkeit oder des Interessenkonflikts kein öffentliches Amt oder keine öffentliche Würde mehr, so gilt die dreijährige Sperre kraft Gesetzes ab dem Tag, an dem der Beurteilungsbericht endgültig wird oder das Urteil, mit dem das Vorliegen eines Interessenkonflikts oder eine Unvereinbarkeit bestätigt wird, endgültig und unwiderrufbar wird.“

8. In diesem Zusammenhang verweist das vorlegende Gericht auf die Decizia nr. 418/2014 (Entscheidung Nr. 418/2014) der Curtea Constituțională (Verfassungsgericht, Rumänien), wonach der Begriff „aceeași funcție“ (dasselbe Amt) in Art. 25 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 176/2010 alle Wahlämter, einschließlich das eines Bürgermeisters, umfasst.

III. Sachverhalt, nationales Verfahren und Vorlagefragen

9. T.A.C., der Kläger des Ausgangsverfahrens, war zum maßgeblichen Zeitpunkt Bürgermeister einer Stadt in Rumänien.

10. In einem Beurteilungsbericht vom 25. November 2019 (im Folgenden: Beurteilungsbericht) stellte die Agenția Națională de Integritate (Nationale Integritätsbehörde, Rumänien, im Folgenden: ANI) – eine für die Beurteilung von Interessenkonflikten zuständige Verwaltungsbehörde – fest, dass der Kläger die gesetzliche Regelung über Interessenkonflikte im Bereich der Verwaltung nicht beachtet habe. Während seiner Amtszeit als Bürgermeister habe er mit einem Verein, dessen Gründungsmitglied und Vizepräsidentin die Ehefrau des Klägers sei, einen Nutzungsüberlassungsvertrag geschlossen. Durch diesen Vertrag sei dem Verein das Recht eingeräumt worden, bestimmte der Stadt gehörende Räumlichkeiten für einen Zeitraum von fünf Jahren unentgeltlich für kulturelle Aktivitäten zu nutzen.

11. Am 19. Dezember 2019 erhob der Kläger beim Tribunalul București (Regionalgericht Bukarest, Rumänien) eine Klage auf Nichtigerklärung des Beurteilungsberichts. Zur Begründung seiner Klage machte der Kläger u. a. geltend, dass das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegenstehe, die vorschreibe, dass eine Sanktion, wie das Verbot, ein öffentliches Wahlamt für einen Zeitraum von drei Jahren zu bekleiden, automatisch gegen die Person, die in einem Interessenkonflikt gehandelt habe, verhängt werde, ohne dass dabei nach der Schwere des begangenen Verstoßes abgewogen werden könne.

12. Mit Urteil vom 27. Februar 2020 erklärte sich das Tribunalul București (Regionalgericht Bukarest) für die Behandlung dieser Klage nicht zuständig und verwies die Sache an die Curtea de Apel Timișoara (Berufungsgericht Timisoara). Da diese Zweifel hinsichtlich der richtigen Auslegung der einschlägigen unionsrechtlichen Regelungen hegt, hat sie beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist der in Art. 49 der Charta verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Strafen dahin auszulegen, dass er auch auf andere als die nach nationalem Recht formal als Straftaten definierten Handlungen Anwendung findet, die aber angesichts der von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte(6) entwickelten Kriterien, insbesondere dem der Schwere der Sanktion, als „strafrechtliche Anklage“ im Sinne von Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention(7) angesehen werden können, wie dies im Ausgangsverfahren bei der Beurteilung von Interessenkonflikten der Fall ist, die zur Anwendung der ergänzenden Sanktion des Verbots der Bekleidung öffentlicher Wahlämter für die Dauer von drei Jahren führen kann?

2. Falls Frage 1 bejaht wird: Ist der in Art. 49 der Charta verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Strafen dahin auszulegen, dass er einer Durchführungsbestimmung des nationalen Rechts entgegensteht, mit der im Fall der Feststellung eines Interessenkonflikts einer Person, die ein öffentliches Wahlamt bekleidet, automatisch kraft Gesetzes die ergänzende Sanktion des Verbots der Bekleidung öffentlicher Wahlämter für den vorbestimmten Zeitraum von drei Jahren zur Anwendung gelangt, ohne dass die Möglichkeit bestünde, eine Sanktion festzulegen, die zu dem begangenen Verstoß in einem...

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