Opinion of Advocate General Ćapeta delivered on 24 November 2022.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:931
Date24 November 2022
Celex Number62021CC0574
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

TAMARA ĆAPETA

vom 24. November 2022(1)

Rechtssache C574/21

QT

gegen

O2 Czech Republic a.s.

(Vorabentscheidungsersuchen des Nejvyšší soud [Oberstes Gericht, Tschechische Republik])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 86/653/EWG – Art. 17 Abs. 2 Buchst. a – Selbständige Handelsvertreter – Ausgleichsanspruch nach Beendigung des Vertragsverhältnisses – Berechnungsmethode – Begriff der ‚dem Handelsvertreter entgehenden Provisionen‘ – Einmalprovisionszahlungen“






I. Einleitung

1. Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter(2) begründet das Recht eines Handelsvertreters, den Unternehmer nach Beendigung des Vertragsverhältnisses auf Zahlung eines als Ausgleich bezeichneten Geldbetrags in Anspruch zu nehmen.

2. Mit diesem Vorabentscheidungsersuchen des Nejvyšší soud (Oberstes Gericht, Tschechische Republik) wird eine Auslegungsfrage bezüglich dieser Bestimmung aufgeworfen. Es betrifft, genauer gesagt, die Auslegung des darin enthaltenen Begriffs „der dem Handelsvertreter … entgehenden Provisionen“ (welche ich als „entgehende Provisionen“ bezeichnen werde).

3. Der vorliegende Fall berührt auch einige allgemeinere Fragen bezüglich der Voraussetzungen, unter denen der Ausgleichsanspruch entsteht, sowie der Methode für die Berechnung des Ausgleichsanspruchs gemäß der Richtlinie 86/653.

II. Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

4. Am 1. Januar 1998 schloss QT mit der Rechtsvorgängerin der O2 Czech Republic a.s. (hierin im Folgenden: O2 Czech Republic) einen Handelsvertretervertrag. Nach diesem Vertrag hatte QT die Rechtsstellung eines Handelsvertreters und O2 Czech Republic die eines Unternehmers.

5. Der Handelsvertretervertrag betraf den Vertrieb und Verkauf durch 02 Czech Republic erbrachter Telekommunikationsdienste in den Systemen NMT 450 und GSM, die Lieferungen und den Verkauf von Mobiltelefonen, Zubehör und weiteren potenziellen Produkten sowie die Kundenpflege.

6. Gemäß dem Handelsvertretervertrag wurde QT für jeden einzelnen Vertrag, den er für O2 Czech Republic geschlossen hatte, jeweils eine einmalige Vergütung gezahlt. Nach den Ausführungen von O2 Czech Republic in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof verhielt es sich so, dass QT, wenn er den Abschluss eines neuen Vertrags mit einem bereits von ihm geworbenen Kunden vermittelt hatte (z. B. die Verlängerung des Abonnements), eine einmalige Provision für den neuen Vertrag gezahlt wurde. Wenn jedoch ein neuer Vertrag zwischen O2 Czech Republic und demselben Kunden durch einen anderen Vertreter abgeschlossen wurde, wurde die einmalige Provision diesem anderen Vertreter gezahlt. Wenn O2 Czech Republic einen neuen Vertrag mit demselben Kunden direkt abschloss, wurde keinerlei Provision gezahlt.

7. Am 31. März 2010 kündigte O2 Czech Republic den Handelsvertretervertrag.

8. QT erhob Klage vor dem Obvodní soud v Praze 4 (Stadtbezirksgericht Prag 4, Tschechische Republik) mit dem Antrag, O2 Czech Republic zur Zahlung eines Betrags von 2 023 799 CZK (etwa 80 000 Euro) zuzüglich Verzugszinsen zu verurteilen, wobei er sich auf seinen Ausgleichsanspruch gemäß der tschechischen Rechtsvorschrift zur Umsetzung von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653 stützte.

9. Mit Urteil vom 14. September 2015 gab das erstinstanzliche Gericht, der Obvodní soud v Praze 4 (Stadtbezirksgericht Prag 4), der Klage von QT teilweise statt. Das Berufungsgericht, der Městský soud v Praze (Stadtgericht Prag, Tschechische Republik), hob dieses Urteil auf das von O2 Czech Republic eingelegte Rechtsmittel hin mit Entscheidung vom 16. März 2016 wegen mangelhafter Feststellung des Sachverhalts auf und verwies die Rechtssache zur erneuten Verhandlung an das Gericht erster Instanz zurück.

10. Mit seinem zweiten Urteil vom 30. Januar 2019 wies der Obvodní soud v Praze 4 (Stadtbezirksgericht Prag 4) die Klage von QT ab. Das erstinstanzliche Gericht gelangte zu dem Ergebnis, dass QT es versäumt habe, nachzuweisen, dass O2 Czech Republic durch die von QT geworbenen Kunden auch nach Beendigung des Vertragsverhältnisses erhebliche Vorteile gezogen habe. Gegen dieses Urteil legte QT Berufung ein.

11. Mit Urteil vom 27. November 2019 bestätigte der Městský soud v Praze (Stadtgericht Prag) das Urteil des erstinstanzlichen Gerichts, mit dem die Klage von QT abgewiesen worden war. Das Berufungsgericht betonte, dass es sich bei den Provisionen für die Vermittlung der Geschäfte um einmalige Vergütungen gehandelt habe und diese sämtlich QT ordnungsgemäß ausbezahlt worden seien; die Argumentation von QT, die auf die Provisionen abstelle, auf die er bei Abschluss weiterer Geschäfte, sei es mit neuen oder bestehenden Kunden, hypothetisch Anspruch gehabt hätte, begründe keinen Ausgleichsanspruch. Zwar habe QT neue Kunden geworben und die Geschäftsverbindungen mit bestehenden Kunden wesentlich erweitert, woraus O2 Czech Republic nach Beendigung des Vertragsverhältnisses möglicherweise noch Vorteile ziehe, doch habe O2 Czech Republic QT für diese Geschäfte bereits Provisionen gemäß dem Handelsvertretervertrag gezahlt, so dass die Zahlung eines Ausgleichs nicht der Billigkeit entspräche.

12. Gegen das Urteil des Městský soud v Praze (Stadtgericht Prag) legte QT Rechtsmittel zum Nejvyšší soud (Oberstes Gericht) ein, dem vorlegenden Gericht in dieser Rechtssache.

13. Ausweislich der Vorlageentscheidung hatte QT zwar in den Jahren 2006 und 2007 für O2 Czech Republic neue Kunden geworben bzw. mit bestehenden Kunden weitere Verträge abgeschlossen, z. B. über andere Produkte oder zur Vertragsverlängerung, jedoch selbst bei Berücksichtigung der in den betreffenden Jahren geltenden maximalen Dauer der Tarifbindung von höchstens 30 Monaten gingen diese nicht über den 31. März 2010, als der Handelsvertretervertrag gekündigt wurde, hinaus. Was den Zeitraum 2008 und 2009 angeht, galten insgesamt 431 Verpflichtungen über den 31. März 2010 hinaus fort, darunter 155 neue Verträge und 276 Vertragsänderungen. Folglich wurde von QT nachgewiesen, dass er für O2 Czech Republic neue Kunden geworben und auch die Geschäftsverbindung mit bestehenden Kunden wesentlich erweitert hatte. Diese Tätigkeit wurde QT von O2 Czech Republic ordnungsgemäß vergütet.

14. Nach Angaben des vorlegenden Gerichts beruht die tschechische Regelung auf der Ausgleichsregelung, da sie die in Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 86/653 vorgesehene Lösung umsetzt.

15. Des Weiteren erklärt das vorlegende Gericht – und dies wurde in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof auch von der tschechischen Regierung wiederholt – dass es in seiner Rechtsprechung den Begriff der entgehenden Provisionen dahin auslege, dass es sich um die Provisionen handele, die dem Vertreter für bereits vor Beendigung des Vertragsverhältnisses abgeschlossene Geschäfte zustünden.

16. Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass in der deutschen Rechtsprechung und Literatur ein entgegengesetzter Trend feststellbar sei. Nach dort vorherrschender Meinung umfassten entgehende Provisionen auch Provisionen für den Abschluss von Verträgen, die der Vertreter andernfalls, wenn nämlich der Handelsvertretervertrag fortbestanden hätte, aus künftigen Geschäften zwischen dem Unternehmer und den Kunden, die der Vertreter für den Unternehmer geworben oder hinsichtlich derer der Vertreter die Geschäftsverbindungen wesentlich erweitert hatte, erlangt hätte.

17. Deshalb fragt das vorlegende Gericht, wie der Begriff der entgehenden Provisionen in Art. 17 Abs. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 86/653 auszulegen ist. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist die Auslegung dieser Bestimmung für den Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters im vorliegenden Fall entscheidungserheblich, und als letztinstanzliches Gericht hält es sich für zur Vorlage gemäß Art. 267 AEUV verpflichtet.

18. Unter diesen Umständen hat der Nejvyšší soud (Oberstes Gericht) beschlossen, das Ausgangsverfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist der Begriff „[die] dem Handelsvertreter entgehenden Provisionen“ im Sinne von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 86/653 dahin auszulegen, dass diese Provisionen auch jene Provisionen für den Abschluss von Verträgen umfassen, die der Handelsvertreter mit den Kunden, die er für den Unternehmer geworben oder mit denen er die Geschäftsverbindung wesentlich erweitert hat, abgeschlossen hätte, wenn der Handelsvertretervertrag fortbestanden hätte?

Falls diese Frage zu bejahen ist, unter welchen Voraussetzungen gilt diese Schlussfolgerung auch im Hinblick auf die sogenannten Einmalprovisionen für den Vertragsabschluss?

19. QT, O2 Czech Republic, die tschechische Regierung, die deutsche Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht. Am 15. September 2022 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden, in der O2 Czech Republic, die tschechische Regierung und die deutsche Regierung sowie die Kommission mündliche Erklärungen abgegeben haben.

III. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

20. Art. 17 der Richtlinie 86/653 bestimmt, soweit hier relevant:

„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen dafür, dass der Handelsvertreter nach Beendigung des Vertragsverhältnisses Anspruch auf Ausgleich nach Absatz 2 oder Schadensersatz nach Absatz 3 hat.

(2) a) Der Handelsvertreter hat Anspruch auf einen Ausgleich, wenn und soweit

– er für den Unternehmer neue Kunden geworben oder die Geschäftsverbindungen mit vorhandenen Kunden wesentlich erweitert hat und der Unternehmer aus den Geschäften mit diesen Kunden noch erhebliche Vorteile zieht und

– die Zahlung eines solchen Ausgleichs unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der dem Handelsvertreter aus...

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