Opinion of Advocate General Tanchev delivered on 29 April 2021.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:349
Date29 April 2021
Celex Number62019CC0598
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

EVGENI TANCHEV

vom 29. April 2021(1)

Rechtssache C598/19

Confederación Nacional de Centros Especiales de Empleo (CONACEE)

gegen

Diputación Foral de Guipúzcoa,

Federación Empresarial Española de Asociaciones de Centros Especiales de Empleo (Feacem)

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Superior de Justicia del País Vasco [Oberstes Gericht des Baskenlands, Spanien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Öffentliche Auftragsvergabe – Richtlinie 2014/24/EU – Art. 18 und 20 – Nationale Rechtsvorschriften, die das Recht zur Teilnahme an bestimmten Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge besonderen Beschäftigungszentren in sozialer Trägerschaft vorbehalten – Zusätzliche, nicht in der Richtlinie vorgesehene Voraussetzungen“






1. Mit diesem Vorabentscheidungsersuchen bittet das Tribunal Superior de Justicia del País Vasco (Oberstes Gericht des Baskenlands, Spanien) (im Folgenden: vorlegendes Gericht) den Gerichtshof um die erstmalige Auslegung des Art. 20 der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe(2).

2. Mit der Vorlagefrage wird der Gerichtshof im Wesentlichen ersucht, zu klären, ob die Mitgliedstaaten, wenn sie von der Möglichkeit nach Art. 20 der Richtlinie 2014/24 Gebrauch machen, das Recht zur Teilnahme an Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge bestimmten Betreibern vorzubehalten, allen Wirtschaftsteilnehmern, die die in dieser Bestimmung enthaltenen Kriterien erfüllen, die Teilnahme an den Vergabeverfahren gestatten müssen, oder ob die Mitgliedstaaten, wenn sie von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, den Kreis der Wirtschaftsteilnehmer, die teilnehmen und Angebote für die betreffenden Aufträge abgeben können, weiter einschränken dürfen.

3. Ich bin zu dem Ergebnis gelangt, dass die Mitgliedstaaten den Kreis der Wirtschaftsteilnehmer, denen die Teilnahme gestattet wird, in der Tat anhand von Kriterien bestimmen dürfen, die enger sind als die Anforderungen nach Art. 20 der Richtlinie 2014/24, bei denen es sich – meiner Auffassung nach – um Mindestanforderungen handelt. Entscheidet ein Mitgliedstaat, dies zu tun, muss er jedoch gleichwohl die Bestimmungen der Richtlinie einschließlich des Art. 18 („Grundsätze der Auftragsvergabe“) sowie die allgemein anwendbaren Anforderungen des Unionsrechts über die Vergabe öffentlicher Aufträge einhalten.

I. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

4. Der erste Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/24 lautet:

„Die Vergabe öffentlicher Aufträge durch oder im Namen von Behörden der Mitgliedstaaten hat im Einklang mit den im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) niedergelegten Grundsätzen zu erfolgen, insbesondere den Grundsätzen des freien Warenverkehrs, der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit sowie den sich daraus ableitenden Grundsätzen wie Gleichbehandlung, Nichtdiskriminierung, gegenseitige Anerkennung, Verhältnismäßigkeit und Transparenz. Für über einen bestimmten Wert hinausgehende öffentliche Aufträge sollten Vorschriften zur Koordinierung der nationalen Vergabeverfahren festgelegt werden, um zu gewährleisten, dass diese Grundsätze praktische Geltung erlangen und dass das öffentliche Auftragswesen für den Wettbewerb geöffnet wird.“

5. Im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/24 heißt es:

„Die öffentliche Auftragsvergabe spielt im Rahmen der in der Mitteilung der Kommission mit dem Titel ‚Europa 2020, Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum‘ vom 3. März 2010 dargelegten Strategie ‚Europa 2020‘ (i[m] Folgenden ‚Strategie Europa 2020 für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum‘) eine Schlüsselrolle als eines der marktwirtschaftlichen Instrumente, die zur Erzielung eines intelligenten, nachhaltigen und integrativen Wachstums bei gleichzeitiger Gewährleistung eines möglichst effizienten Einsatzes öffentlicher Gelder genutzt werden sollen. Zu diesem Zweck müssen die Vorschriften für die öffentliche Auftragsvergabe, die gemäß der [Richtlinie 2004/17(3)] und der [Richtlinie 2004/18(4)] erlassen wurden, überarbeitet und modernisiert werden, damit die Effizienz der öffentlichen Ausgaben gesteigert, die Teilnahme insbesondere kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) an öffentlichen Vergabeverfahren erleichtert und es den Vergabestellen ermöglicht wird, die öffentliche Auftragsvergabe in stärkerem Maße zur Unterstützung gemeinsamer gesellschaftlicher Ziele zu nutzen. …“

6. Der 36. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/24 lautet:

„Beschäftigung und Beruf tragen zur Integration in die Gesellschaft bei und sind zentrale Elemente für die Gewährleistung von Chancengleichheit. In diesem Zusammenhang können geschützte Werkstätten eine wichtige Rolle spielen. Das gilt auch für andere soziale Unternehmen, deren Hauptanliegen die Förderung der sozialen und beruflichen Eingliederung oder Wiedereingliederung von Personen mit Behinderung oder von benachteiligten Personen wie Arbeitslosen, Angehörigen benachteiligter Minderheiten oder auf andere Weise an den Rand der Gesellschaft gedrängten Personen ist. Es ist jedoch möglich, dass solche Werkstätten oder Unternehmen nicht in der Lage sind, unter normalen Wettbewerbsbedingungen Aufträge zu erhalten. Es ist daher angemessen, vorzusehen, dass Mitgliedstaaten das Recht, an Verfahren zur Vergabe von öffentlichen Aufträgen oder von bestimmten Auftragslosen teilzunehmen, derartigen Werkstätten oder Unternehmen vorbehalten oder die Ausführung eines Auftrags geschützten Beschäftigungsprogrammen vorbehalten können.“

7. Art. 2 Abs. 1 Nr. 5 der Richtlinie 2014/24 definiert „öffentliche Aufträge“ für die Zwecke der Richtlinie als „zwischen einem oder mehreren Wirtschaftsteilnehmern und einem oder mehreren öffentlichen Auftraggebern schriftlich geschlossene entgeltliche Verträge über die Ausführung von Bauleistungen, die Lieferung von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen“.

8. Art. 2 Abs. 1 Nr. 10 der Richtlinie 2014/24 definiert „Wirtschaftsteilnehmer“ als „eine natürliche oder juristische Person oder öffentliche Einrichtung oder eine Gruppe solcher Personen und/oder Einrichtungen, einschließlich jedes vorübergehenden Zusammenschlusses von Unternehmen, die beziehungsweise der auf dem Markt die Ausführung von Bauleistungen, die Errichtung von Bauwerken, die Lieferung von Waren beziehungsweise die Erbringung von Dienstleistungen anbietet“.

9. Art. 18 („Grundsätze der Auftragsvergabe“) der Richtlinie 2014/24 sieht vor:

„(1) Die öffentlichen Auftraggeber behandeln alle Wirtschaftsteilnehmer in gleicher und nichtdiskriminierender Weise und handeln transparent und verhältnismäßig.

Das Vergabeverfahren darf nicht mit der Absicht konzipiert werden, es vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie auszunehmen oder den Wettbewerb künstlich einzuschränken. Eine künstliche Einschränkung des Wettbewerbs gilt als gegeben, wenn das Vergabeverfahren mit der Absicht konzipiert wurde, bestimmte Wirtschaftsteilnehmer auf unzulässige Weise zu bevorzugen oder zu benachteiligen.

…“

10. In Art. 20 („Vorbehaltene Aufträge“) der Richtlinie 2014/24 heißt es:

„(1) Die Mitgliedstaaten können das Recht zur Teilnahme an einem Vergabeverfahren geschützten Werkstätten und Wirtschaftsteilnehmern, deren Hauptzweck die soziale und berufliche Integration von Menschen mit Behinderungen oder von benachteiligten Personen ist, vorbehalten oder sie können bestimmen, dass solche Aufträge im Rahmen von Programmen mit geschützten Beschäftigungsverhältnissen durchgeführt werden, sofern mindestens 30 % der Arbeitnehmer dieser Werkstätten, Wirtschaftsteilnehmer oder Programme Menschen mit Behinderungen oder benachteiligte Arbeitnehmer sind.

…“

B. Spanisches Recht

11. Art. 20 der Richtlinie 2014/24 ist durch die Vierte Zusatzbestimmung der Ley 9/2017 de contratos del sector público (Gesetz 9/2017 über Verträge des öffentlichen Sektors) (im Folgenden: Gesetz 9/2017) vom 8. November 2017 umgesetzt worden, die vorsieht:

„(1) Durch Beschluss des Ministerrats oder des im Bereich der Autonomen Gemeinschaften und Gebietskörperschaften zuständigen Organs werden Mindestprozentsätze festgelegt für den Vorbehalt des Rechts auf Teilnahme an Verfahren zur Vergabe bestimmter öffentlicher Aufträge oder bestimmter Lose solcher Aufträge für besondere Beschäftigungszentren in sozialer Trägerschaft bzw. Eingliederungsbetriebe …, die die in [den einschlägigen] Rechtsvorschriften geregelten Voraussetzungen für diese Einstufung erfüllen, bzw. Mindestprozentsätze für den Vorbehalt der Durchführung solcher Aufträge im Rahmen geschützter Beschäftigungsprogramme, vorausgesetzt, dass der prozentuale Anteil an behinderten oder sozial ausgegrenzten Beschäftigten der besonderen Beschäftigungszentren, Eingliederungsbetriebe oder Programme dem in den für sie einschlägigen Rechtsvorschriften geregelten Anteil entspricht oder jedenfalls mindestens 30 % beträgt.

In dem Beschluss des Ministerrats oder des im Bereich der Autonomen Gemeinschaften oder der Gebietskörperschaften zuständigen Organs werden die Mindestvoraussetzungen für die Erfüllung der Bestimmungen des vorstehenden Absatzes festgelegt.

2. Im Aufruf zum Wettbewerb wird auf diese Bestimmung Bezug genommen.

…“.

12. In der 14. Schlussbestimmung des Gesetzes 9/2017 heißt es:

„(4) Als besondere Beschäftigungszentren in sozialer Trägerschaft gelten Zentren, die die in Abs. 1 und 2 dieses Artikels festgelegten Kriterien erfüllen und an deren Förderung eine oder mehrere öffentliche oder private Einrichtungen, die keine Gewinnerzielungsabsicht verfolgen oder die nach ihrer Satzung sozialen Charakter haben (Vereine, Stiftungen, öffentlich-rechtliche Körperschaften, Genossenschaften in sozialer Trägerschaft oder andere sozialwirtschaftliche Einrichtungen) zu mehr als 50 % unmittelbar oder mittelbar beteiligt sind, sowie Zentren, die zu Handelsgesellschaften gehören, deren Kapitalmehrheit von einer der oben genannten Einrichtungen...

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