Conclusiones del Abogado General Sr. A. Rantos, presentadas el 11 de noviembre de 2021.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:916
Celex Number62020CC0485
Date11 November 2021
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ATHANASIOS RANTOS

vom 11. November 2021(1)

Rechtssache C485/20

XXXX

gegen

HR Rail SA

(Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État [Staatsrat, Belgien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 2000/78/EG – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung – Person, die im Rahmen ihrer Einstellung eine Probezeit absolviert – Arbeitnehmer, der für die Besetzung seines bisherigen Arbeitsplatzes endgültig ungeeignet ist – Art. 5 – Angemessene Vorkehrungen – Verpflichtung des Arbeitgebers, diesen Arbeitnehmer an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden, für den er kompetent, fähig und verfügbar ist – Unverhältnismäßige Belastung“






I. Einleitung

1. Ein Arbeitnehmer, XXXX (im Folgenden: Kläger), der von der Firma HR Rail SA eingestellt wurde, war wegen einer während seiner Probezeit eingetretenen Behinderung für die Besetzung seines bisherigen Arbeitsplatzes endgültig nicht mehr geeignet. Er wurde daraufhin wegen mangelnder Eignung entlassen. Der Kläger wendet sich gegen diese Entscheidung und macht geltend, er sei wegen seiner Behinderung diskriminiert worden.

2. War sein Arbeitgeber in einer solchen Situation gemäß der Richtlinie 2000/78/EG(2) und zur Vermeidung jeglicher Diskriminierung wegen einer Behinderung verpflichtet, den Kläger, anstatt ihn zu entlassen, an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden, für den er kompetent, fähig und verfügbar war? Dies ist im Wesentlichen die vom Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) aufgeworfene Frage.

3. Der Gerichtshof wird aufgrund dieser Frage u. a. zu prüfen haben, ob die Richtlinie 2000/78 auf Personen anwendbar ist, die im Rahmen ihrer Einstellung eine Probezeit absolvieren, und welche Tragweite der Begriff „angemessene Vorkehrungen“ im Sinne von Art. 5 dieser Richtlinie in Verbindung mit dem am 13. Dezember 2006 in New York unterzeichneten und am 3. Mai 2008 in Kraft getretenen Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen(3) (im Folgenden: VN‑Übereinkommen) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) hat.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Völkerrecht

4. Art. 1 („Zweck“) des VN‑Übereinkommens lautet:

„Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern.

Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“

5. In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) Abs. 3 und 4 dieses Übereinkommens heißt es:

„Im Sinne dieses Übereinkommens

bedeutet ‚Diskriminierung aufgrund von Behinderung‘ jede Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das auf die Gleichberechtigung mit anderen gegründete Anerkennen, Genießen oder Ausüben aller Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird. Sie umfasst alle Formen der Diskriminierung, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen;

bedeutet ‚angemessene Vorkehrungen‘ notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können“.

6. Art. 5 („Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung“) Abs. 3 des genannten Übereinkommens lautet:

„Zur Förderung der Gleichberechtigung und zur Beseitigung von Diskriminierung unternehmen die Vertragsstaaten alle geeigneten Schritte, um die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen zu gewährleisten.“

7. Art. 27 („Arbeit und Beschäftigung“) Abs. 1 des VN‑Übereinkommens sieht vor:

„Die Vertragsstaaten anerkennen das gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit; dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird. Die Vertragsstaaten sichern und fördern die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit, einschließlich für Menschen, die während der Beschäftigung eine Behinderung erwerben, durch geeignete Schritte, einschließlich des Erlasses von Rechtsvorschriften, um unter anderem

a) Diskriminierung aufgrund von Behinderung in allen Angelegenheiten im Zusammenhang mit einer Beschäftigung gleich welcher Art, einschließlich der Auswahl‑, Einstellungs‑ und Beschäftigungsbedingungen, der Weiterbeschäftigung, des beruflichen Aufstiegs sowie sicherer und gesunder Arbeitsbedingungen, zu verbieten;

h) die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen im privaten Sektor durch geeignete Strategien und Maßnahmen zu fördern, wozu auch Programme für positive Maßnahmen, Anreize und andere Maßnahmen gehören können;

i) sicherzustellen, dass am Arbeitsplatz angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen getroffen werden;

…“

8. Das VN‑Übereinkommen wurde im Namen der Europäischen Gemeinschaft mit dem Beschluss 2010/48/EG(4) genehmigt.

B. Unionsrecht

9. Die Erwägungsgründe 16, 17, 20 und 21 der Richtlinie 2000/78 lauten:

„(16) Maßnahmen, die darauf abstellen, den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung am Arbeitsplatz Rechnung zu tragen, spielen eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung von Diskriminierungen wegen einer Behinderung.

(17) Mit dieser Richtlinie wird unbeschadet der Verpflichtung, für Menschen mit Behinderung angemessene Vorkehrungen zu treffen, nicht die Einstellung, der berufliche Aufstieg, die Weiterbeschäftigung oder die Teilnahme an Aus‑ und Weiterbildungsmaßnahmen einer Person vorgeschrieben, wenn diese Person für die Erfüllung der wesentlichen Funktionen des Arbeitsplatzes oder zur Absolvierung einer bestimmten Ausbildung nicht kompetent, fähig oder verfügbar ist.

(20) Es sollten geeignete Maßnahmen vorgesehen werden, d. h. wirksame und praktikable Maßnahmen, um den Arbeitsplatz der Behinderung entsprechend einzurichten, z. B. durch eine entsprechende Gestaltung der Räumlichkeiten oder eine Anpassung des Arbeitsgeräts, des Arbeitsrhythmus, der Aufgabenverteilung oder des Angebots an Ausbildungs‑ und Einarbeitungsmaßnahmen.

(21) Bei der Prüfung der Frage, ob diese Maßnahmen zu übermäßigen Belastungen führen, sollten insbesondere der mit ihnen verbundene finanzielle und sonstige Aufwand sowie die Größe, die finanziellen Ressourcen und der Gesamtumsatz der Organisation oder des Unternehmens und die Verfügbarkeit von öffentlichen Mitteln oder anderen Unterstützungsmöglichkeiten berücksichtigt werden.“

10. Art. 1 („Zweck“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.“

11. Art. 2 („Der Begriff ,Diskriminierung‘“) Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:

„Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ,Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf.“

12. Art. 3 („Geltungsbereich“) Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 bestimmt:

„Im Rahmen der auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf

a) die Bedingungen – einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen – für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position, einschließlich des beruflichen Aufstiegs;

b) den Zugang zu allen Formen und allen Ebenen der Berufsberatung, der Berufsausbildung, der beruflichen Weiterbildung und der Umschulung, einschließlich der praktischen Berufserfahrung;

c) die Beschäftigungs‑ und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts;

…“

13. Art. 5 („Angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung“) der Richtlinie 2000/78 lautet:

„Um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, sind angemessene Vorkehrungen zu treffen. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen ergreift, um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus‑ und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten. Diese Belastung ist nicht unverhältnismäßig, wenn sie durch geltende Maßnahmen im Rahmen der Behindertenpolitik des Mitgliedstaates ausreichend kompensiert wird.“

14. Art. 7 („Positive und spezifische Maßnahmen“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1) Der Gleichbehandlungsgrundsatz hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, zur Gewährleistung der völligen Gleichstellung im Berufsleben spezifische Maßnahmen beizubehalten oder einzuführen, mit denen Benachteiligungen wegen eines in Artikel 1 genannten Diskriminierungsgrunds verhindert oder ausgeglichen werden.

(2) Im Falle von Menschen mit Behinderung steht der Gleichbehandlungsgrundsatz weder dem Recht der Mitgliedstaaten entgegen, Bestimmungen zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit am Arbeitsplatz beizubehalten oder zu...

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