Conclusiones del Abogado General Sr. M. Campos Sánchez-Bordona, presentadas el 2 de diciembre de 2021.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:977
Date02 December 2021
Celex Number62020CC0645
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 2. Dezember 2021(1)

Rechtssache C645/20

V A,

Z A

gegen

TP

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation [Kassationshof, Frankreich])

„Vorabentscheidungsersuchen – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit für Erbsachen – Subsidiäre Zuständigkeit – Gewöhnlicher Aufenthalt des Erblassers im Zeitpunkt seines Todes in einem Drittstaat – Erblasser mit Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und Vermögen in diesem Staat – Verpflichtung zur Feststellung der eigenen Zuständigkeit von Amts wegen“






1. Die Cour de cassation (Kassationshof, Frankreich) möchte vom Gerichtshof wissen, ob Behörden eines Mitgliedstaats(2), in dem sich Vermögen des Erblassers befindet, ihre Zuständigkeit für die Erbsache in ihrer Gesamtheit nach Art. 10 der Verordnung Nr. 650/2012 von Amts wegen bejahen müssen.

2. Zweifel hieran sind im Rahmen eines Rechtsstreits über Nachlassansprüche zwischen den Kindern eines verstorbenen französischen Staatsangehörigen (dessen letzter gewöhnlicher Aufenthalt in Frankreich streitig ist) und seiner Witwe (die aber nicht die Mutter dieser Kinder ist) entstanden.

3. Keine der Parteien bestreitet die Staatsangehörigkeit des Erblassers zum Zeitpunkt seines Todes oder den Umstand, dass er Eigentümer einer in Frankreich belegenen Immobilie war. Streitig ist ausschließlich der Ort, an dem er zum Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

4. In der ersten Instanz hat sich ein französisches Gericht für zuständig erklärt, um über den Antrag der Kinder des Erblassers auf die Bestellung eines Nachlassverwalters zu entscheiden.

5. Im Berufungsverfahren wurde hingegen entschieden, die französischen Gerichte seien nicht für den gesamten Nachlass zuständig, da der Erblasser seinen letzten Wohnsitz im Vereinigten Königreich gehabt habe.

6. Im Kassationsbeschwerdeverfahren machen die Beschwerdeführer geltend, die französischen Gerichte hätten sich jedenfalls von Amts wegen für zuständig erklären müssen; dies ist Gegenstand der Frage des vorlegenden Gerichts.

I. Anwendbares Recht: Verordnung Nr. 650/2012

7. Der siebte Erwägungsgrund lautet:

„Die Hindernisse für den freien Verkehr von Personen, denen die Durchsetzung ihrer Rechte im Zusammenhang mit einem Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug derzeit noch Schwierigkeiten bereitet, sollten ausgeräumt werden, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu erleichtern. In einem europäischen Rechtsraum muss es den Bürgern möglich sein, ihren Nachlass im Voraus zu regeln. Die Rechte der Erben und Vermächtnisnehmer sowie der anderen Personen, die dem Erblasser nahestehen, und der Nachlassgläubiger müssen effektiv gewahrt werden.“

8. Im 23. Erwägungsgrund heißt es:

„In Anbetracht der zunehmenden Mobilität der Bürger sollte die Verordnung zur Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Rechtspflege in der Union und einer wirklichen Verbindung zwischen dem Nachlass und dem Mitgliedstaat, in dem die Erbsache abgewickelt wird, als allgemeinen Anknüpfungspunkt zum Zwecke der Bestimmung der Zuständigkeit und des anzuwendenden Rechts den gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers im Zeitpunkt des Todes vorsehen. …“

9. Der 27. Erwägungsgrund lautet:

„Die Vorschriften dieser Verordnung sind so angelegt, dass sichergestellt wird, dass die mit der Erbsache befasste Behörde in den meisten Situationen ihr eigenes Recht anwendet. Diese Verordnung sieht daher eine Reihe von Mechanismen vor, die dann greifen, wenn der Erblasser für die Regelung seines Nachlasses das Recht eines Mitgliedstaats gewählt hat, dessen Staatsangehöriger er war.“

10. Der 30. Erwägungsgrund lautet:

„Um zu gewährleisten, dass die Gerichte aller Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit in Bezug auf den Nachlass von Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt ihres Todes nicht in einem Mitgliedstaat hatten, auf derselben Grundlage ausüben können, sollte diese Verordnung die Gründe, aus denen diese subsidiäre Zuständigkeit ausgeübt werden kann, abschließend und in einer zwingenden Rangfolge aufführen.“

11. Im 43. Erwägungsgrund heißt es:

„Die Zuständigkeitsregeln dieser Verordnung können in einigen Fällen zu einer Situation führen, in der das für Entscheidungen in Erbsachen zuständige Gericht nicht sein eigenes Recht anwendet. …“

12. Im 57. Erwägungsgrund wird auf Folgendes hingewiesen:

„Die in dieser Verordnung festgelegten Kollisionsnormen können dazu führen, dass das Recht eines Drittstaats zur Anwendung gelangt. In derartigen Fällen sollte den Vorschriften des Internationalen Privatrechts dieses Staates Rechnung getragen werden. Falls diese Vorschriften die Rück- und Weiterverweisung entweder auf das Recht eines Mitgliedstaats oder aber auf das Recht eines Drittstaats, der sein eigenes Recht auf die Erbsache anwenden würde, vorsehen, so sollte dieser Rück- und Weiterverweisung gefolgt werden, um den internationalen Entscheidungseinklang zu gewährleisten. …“

13. Art. 4 („Allgemeine Zuständigkeit“) lautet:

„Für Entscheidungen in Erbsachen sind für den gesamten Nachlass die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte“.

14. Art. 10 („Subsidiäre Zuständigkeit“) sieht vor:

„(1) Hatte der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt seines Todes nicht in einem Mitgliedstaat, so sind die Gerichte eines Mitgliedstaats, in dem sich Nachlassvermögen befindet, für Entscheidungen in Erbsachen für den gesamten Nachlass zuständig, wenn

a) der Erblasser die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats im Zeitpunkt seines Todes besaß, oder, wenn dies nicht der Fall ist,

b) der Erblasser seinen vorhergehenden gewöhnlichen Aufenthalt in dem betreffenden Mitgliedstaat hatte, sofern die Änderung dieses gewöhnlichen Aufenthalts zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts nicht länger als fünf Jahre zurückliegt.

(2) Ist kein Gericht in einem Mitgliedstaat nach Absatz 1 zuständig, so sind dennoch die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem sich Nachlassvermögen befindet, für Entscheidungen über dieses Nachlassvermögen zuständig.“

15. Art. 15 („Prüfung der Zuständigkeit“) bestimmt:

„Das Gericht eines Mitgliedstaats, das in einer Erbsache angerufen wird, für die es nach dieser Verordnung nicht zuständig ist, erklärt sich von Amts wegen für unzuständig.“

16. Art. 20 („Universelle Anwendung“) lautet:

„Das nach dieser Verordnung bezeichnete Recht ist auch dann anzuwenden, wenn es nicht das Recht eines Mitgliedstaats ist.“

II. Sachverhalt, Rechtsstreit und Vorlagefrage

17. Der französische Staatsangehörige XA verstarb am 3. September 2015 in Frankreich und hinterließ als Erben seine Ehefrau TP und seine drei Kinder aus erster Ehe, YA, ZA und VA (im Folgenden: Streitgenossen A).

18. Die Streitgenossen A beantragten in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gegen TP beim Präsidenten eines Tribunal de grande instance (Regionalgericht, Frankreich) die Bestellung eines Nachlassverwalters.

19. Mit diesem Antrag trugen sie vor, die französischen Gerichte seien nach Art. 4 der Verordnung Nr. 650/2012 zuständig, denn ihr Vater habe zum Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Frankreich gehabt.

20. Dieser Umstand wurde vom Regionalgericht als erwiesen erachtet, und es erklärte sich für die Entscheidung über den Rechtsstreit für zuständig. TP legte hiergegen bei der Cour d’appel de Versailles (Berufungsgericht Versailles, Frankreich) Berufung ein.

21. Da das Berufungsgericht der Auffassung war, der Erblasser habe seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt im Vereinigten Königreich gehabt, gelangte es zu dem Ergebnis, dass die französischen Gerichte nicht gemäß Art. 4 der Verordnung Nr. 650/2012 für diese Sache zuständig seien.

22. Vor der Cour de cassation (Kassationshof, Frankreich) machen die Streitgenossen A geltend,

— dass das Berufungsgericht seine Zuständigkeit gemäß Art. 10 der Verordnung Nr. 650/2012 von Amts wegen hätte prüfen müssen(3);

— dass der Erblasser die französische Staatsangehörigkeit besessen habe und Eigentümer von in Frankreich belegenem Vermögen gewesen sei(4);

— dass selbst dann, wenn er seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Frankreich gehabt hätte, die französischen Gerichte für die Entscheidung über den gesamten Nachlass subsidiär zuständig wären, da sich Nachlassgegenstände in Frankreich befänden und der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes französischer Staatsangehöriger gewesen sei;

— dass die Bestimmungen der Verordnung Nr. 650/2012 zwingendes Recht seien und das Gericht sie von Amts wegen anzuwenden habe.

23. In diesem Zusammenhang legt die Cour de cassation (Kassationshof) dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vor:

Sind die Bestimmungen von Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 dahin auszulegen, dass, wenn der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt seines Todes nicht in einem Mitgliedstaat hatte, das Gericht eines Mitgliedstaats, in dem der Erblasser nicht seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, das aber feststellt, dass der Erblasser die Staatsangehörigkeit dieses Staates hatte und dort Vermögen besaß, von Amts wegen seine in dieser Vorschrift vorgesehene subsidiäre Zuständigkeit zu prüfen hat?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

24. Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 1. Dezember 2020 beim Gerichtshof eingegangen.

25. TP, die spanische, die französische und die tschechische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

26. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ist nicht für erforderlich erachtet worden.

IV. Prüfung

A. Vorbemerkung

1. Kassationsbeschwerdegrundund dessen Voraussetzungen

27. In der Kassationsbeschwerdeschrift wird dem Berufungsgericht vorgeworfen, seine Zuständigkeit nicht von Amts wegen nach Art. 10 der Verordnung Nr. 650/2012 geprüft zu haben, obwohl es (nach der dort vertretenen Ansicht) dazu verpflichtet...

To continue reading

Request your trial

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT