EI v S.C. Brink’s Cash Solutions S.R.L.

JurisdictionEuropean Union
Date05 October 2023
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

5. Oktober 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen – Richtlinie 98/59/EG – Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b und Art. 6 – Verfahren zur Information und Konsultation der Arbeitnehmer bei einer beabsichtigten Massenentlassung – Fehlende Benennung von Arbeitnehmervertretern – Nationale Regelung, die es dem Arbeitgeber erlaubt, die betroffenen Arbeitnehmer nicht einzeln zu informieren und zu konsultieren“

In der Rechtssache C‑496/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) mit Entscheidung vom 22. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Juli 2022, in dem Verfahren

EI

gegen

SC Brink’s Cash Solutions SRL

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen (Berichterstatter) und J. Passer,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Mai 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von EI, vertreten durch V. Stănilă, Avocat,

– der SC Brink’s Cash Solutions SRL, vertreten durch S. Şusnea und R. Zahanagiu, Avocaţi,

– der rumänischen Regierung, vertreten durch M. Chicu, E. Gane und O.‑C. Ichim als Bevollmächtigte,

– der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und A. Hoesch als Bevollmächtigte,

– der griechischen Regierung, vertreten durch V. Baroutas und M. Tassopoulou als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Gheorghiu, C. Hödlmayr und B.‑R. Killmann als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b und Art. 6 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (ABl. 1998, L 225, S. 16) in der durch die Richtlinie (EU) 2015/1794 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Oktober 2015 (ABl. 2015, L 263, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 98/59).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen EI und seinem ehemaligen Arbeitgeber, der SC Brink’s Cash Solutions SRL, über seine Entlassung.

Rechtlicher Rahmen

Richtlinie 98/59

3 Die Erwägungsgründe 2, 6 und 12 der Richtlinie 98/59 lauten:

„(2) Unter Berücksichtigung der Notwendigkeit einer ausgewogenen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der Gemeinschaft ist es wichtig, den Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen zu verstärken.

(6) Die auf der Tagung des Europäischen Rates in Straßburg am 9. Dezember 1989 von den Staats- und Regierungschefs von elf Mitgliedstaaten angenommene Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer sieht unter Nummer 7 Unterabsatz 1 erster Satz und Unterabsatz 2, unter Nummer 17 Unterabsatz 1 und unter Nummer 18 dritter Gedankenstrich folgendes vor:

‚7. Die Verwirklichung des Binnenmarktes muss zu einer Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft führen […].

Diese Verbesserung muss, soweit nötig, dazu führen, dass bestimmte Bereiche des Arbeitsrechts, wie die Verfahren bei Massenentlassungen oder bei Konkursen, ausgestaltet werden.

[…]

17. Unterrichtung, Anhörung und Mitwirkung der Arbeitnehmer müssen in geeigneter Weise, unter Berücksichtigung der in den verschiedenen Mitgliedstaaten herrschenden Gepflogenheiten, weiterentwickelt werden.

[…]

18. Unterrichtung, Anhörung und Mitwirkung sind rechtzeitig vor allem in folgenden Fällen vorzusehen:

[– …]

[– …]

– bei Massenentlassungen;

[– …]‘;

(12) Die Mitgliedstaaten sollten dafür Sorge tragen, dass den Arbeitnehmervertretern und/oder den Arbeitnehmern administrative und/oder gerichtliche Verfahren zur Durchsetzung der Verpflichtungen gemäß dieser Richtlinie zur Verfügung stehen.“

4 Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie sieht vor:

„Für die Durchführung dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:

b) ‚Arbeitnehmervertreter‘ sind die Arbeitnehmervertreter nach den Rechtsvorschriften oder der Praxis der Mitgliedstaaten.“

5 Art. 2 in Teil II („Information und Konsultation“) der Richtlinie bestimmt:

„(1) Beabsichtigt ein Arbeitgeber, Massenentlassungen vorzunehmen, so hat er die Arbeitnehmervertreter rechtzeitig zu konsultieren, um zu einer Einigung zu gelangen.

(2) Diese Konsultationen erstrecken sich zumindest auf die Möglichkeit, Massenentlassungen zu vermeiden oder zu beschränken, sowie auf die Möglichkeit, ihre Folgen durch soziale Begleitmaßnahmen, die insbesondere Hilfen für eine anderweitige Verwendung oder Umschulung der entlassenen Arbeitnehmer zum Ziel haben, zu mildern.

(3) Damit die Arbeitnehmervertreter konstruktive Vorschläge unterbreiten können, hat der Arbeitgeber ihnen rechtzeitig im Verlauf der Konsultationen

a) die zweckdienlichen Auskünfte zu erteilen und

b) in jedem Fall schriftlich Folgendes mitzuteilen:

i) die Gründe der geplanten Entlassung;

ii) die Zahl und die Kategorien der zu entlassenden Arbeitnehmer;

iii) die Zahl und die Kategorien der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer;

iv) den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen;

v) die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, soweit die innerstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Praktiken dem Arbeitgeber die Zuständigkeit dafür zuerkennen;

vi) die vorgesehene Methode für die Berechnung etwaiger Abfindungen, soweit sie sich nicht aus den innerstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Praktiken ergeben.

…“

6 Art. 3 Abs. 1 in Teil III („Massenentlassungsverfahren“) der Richtlinie sieht vor:

„Der Arbeitgeber hat der zuständigen Behörde alle beabsichtigten Massenentlassungen schriftlich anzuzeigen.

Die Anzeige muss alle zweckdienlichen Angaben über die beabsichtigte Massenentlassung und die Konsultationen der Arbeitnehmervertreter gemäß Artikel 2 enthalten, insbesondere die Gründe der Entlassung, die Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, die Zahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer und den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen.“

7 Art. 6 der Richtlinie 98/59 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass den Arbeitnehmervertretern und/oder den Arbeitnehmern administrative und/oder gerichtliche Verfahren zur Durchsetzung der Verpflichtungen gemäß dieser Richtlinie zur Verfügung stehen.“

Rumänisches Recht

8 Die Richtlinie 98/59 wurde durch die Legea nr. 53/2003 privind Codul muncii (Gesetz Nr. 53/2003 über das Arbeitsgesetzbuch) vom 24. Januar 2003 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 72 vom 5. Februar 2003) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren neu bekannt gemachten Fassung (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 345 vom 18. Mai 2011) (im Folgenden: Arbeitsgesetzbuch) in rumänisches Recht umgesetzt.

9 Art. 69 des Arbeitsgesetzbuchs sieht vor:

„(1) Beabsichtigt der Arbeitgeber, Massenentlassungen vorzunehmen, so ist er verpflichtet, rechtzeitig und um zu einer Einigung zu gelangen, Konsultationen mit der Gewerkschaft oder gegebenenfalls mit den Arbeitnehmervertretern unter den gesetzlich vorgesehenen Voraussetzungen einzuleiten, die sich zumindest auf Folgendes erstrecken:

a) Methoden und Mittel, um Massenentlassungen zu vermeiden oder die Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer zu beschränken;

b) Milderung der Folgen der Entlassung durch soziale Maßnahmen, die insbesondere Hilfen für eine Umschulung der entlassenen Arbeitnehmer zum Ziel haben.

(2) Damit die Gewerkschaft oder die Arbeitnehmervertreter rechtzeitig Vorschläge unterbreiten können, hat der Arbeitgeber ihnen im Verlauf der Konsultationen gemäß Abs. 1 alle relevanten Informationen zu erteilen und schriftlich Folgendes anzuzeigen:

a) die Gesamtzahl und die Kategorien der Arbeitnehmer;

b) die Gründe der geplanten Entlassung;

c) die Zahl und die Kategorien der von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer;

d) die Kriterien, die nach dem Gesetz und/oder den Tarifverträgen bei der Festlegung der Rangfolge der Entlassung berücksichtigt werden;

e) die vorgesehenen Maßnahmen zur Begrenzung der Zahl der Entlassungen;

f) die Maßnahmen, mit denen die Folgen der Entlassung gemildert werden sollen, und die Abfindungen, die entlassenen Arbeitnehmern nach dem anwendbaren Gesetz und/oder Tarifvertrag zu gewähren sind;

g) der Zeitpunkt und der Zeitraum, ab bzw. in dem die Entlassungen erfolgen werden;

h) die Frist, in der die Gewerkschaft oder gegebenenfalls die Arbeitnehmervertreter Vorschläge zur Vermeidung von Entlassungen oder zur Beschränkung der Zahl entlassener Arbeitnehmer machen können.

(3) Die in Abs. 2 Buchst. d genannten Kriterien gelten für die Auswahl der Arbeitnehmer nach der Bewertung der Erreichung von Leistungszielen.

…“

10 Art. 70 des Arbeitsgesetzbuchs bestimmt:

„Der Arbeitgeber hat der örtlichen Arbeitsaufsichtsbehörde und der örtlichen Arbeitsagentur eine Abschrift der Anzeige nach Art. 69 Abs. 2 zu dem...

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