Junqueras Vies

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2019:958
Date12 November 2019
CourtCourt of Justice (European Union)
Celex Number62019CC0502

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 12. November 2019(1)

Rechtssache C502/19

Strafverfahren

Beteiligte:

Oriol Junqueras Vies,

Ministerio Fiscal,

Abogacía del Estado,

Partido político VOX

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Supremo [Oberstes Gericht], Spanien)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der sich in Untersuchungshaft befindet und während des strafrechtlichen Hauptverfahrens zum Mitglied des Europäischen Parlaments gewählt wurde – Weigerung, dem Betroffenen die Erlaubnis zu erteilen, einer nach dem nationalen Recht vorgesehenen Verpflichtung nachzukommen – Protokoll (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union – Art. 9 – Geltungsbereich und Umfang der parlamentarischen Immunität – Begriffe ‚Gewählter‘ und ‚Mitglied des Europäischen Parlaments‘ – Akt zur Einführung der Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 39 – Passives Wahlrecht“






Einleitung

1. Bei Eröffnung jeder neuen Legislaturperiode des House of Commons (Unterhaus, Vereinigtes Königreich) richtet der Speaker (Sprecher) eine Petition an den König (oder, wie gegenwärtig, an die Königin), damit diese(r) dem Unterhaus „Redefreiheit, Schutz vor Verhaftung, Zugang zur Krone, wenn die Umstände dies verlangen, und wohlwollendste Auslegung seiner Arbeit“ gewähre. Der König bestätigt daraufhin sämtliche von ihm selbst oder seinen zahlreichen Vorgängern gewährten Privilegien(2).

2. In der Tat findet die parlamentarische Immunität unter der Bezeichnung Parliamentary privilege ihren Ursprung in der Geschichte des Parlaments des Vereinigten Königreichs. Der wichtigste Bestandteil dieses Privilegs, die Redefreiheit, wurde am Ende des 16. Jahrhunderts institutionalisiert und 1689 in der Bill of Rights kodifiziert. Daraus entstand die heutige Straffreiheit (oder Indemnität) für Äußerungen oder Handlungen, die in Ausübung des parlamentarischen Mandats getätigt werden.

3. Im kontinentaleuropäischen Recht wird die Entstehung der parlamentarischen Immunität üblicherweise mit der französischen Revolution in Verbindung gebracht. Tatsächlich benötigte das aus dieser Revolution hervorgegangene neue Organ, die Assemblée nationale (Nationalversammlung), Schutz vor der – bis dahin absoluten – Macht des Monarchen. Erstmals zum Ausdruck kam diese Immunität in den Dekreten der Assemblée nationale selbst. Sie umfasste bereits die beiden Komponenten der parlamentarischen Immunität in ihrer heutigen Gestalt, nämlich die Indemnität (Straffreiheit) für Handlungen, die in Ausübung der parlamentarischen Aufgaben begangen werden(3), und den Schutz vor (straf‑)rechtlicher Verfolgung (Unverletzlichkeit) für alle sonstigen Handlungen außer in Fällen, in denen die Assemblée die Verfolgung genehmigt(4). Die parlamentarische Immunität erhielt in der Verfassung von 1791 Verfassungsrang.

4. Die Immunität in ihrer in der französischen Revolution eingeführten Form, die zwei Bestandteile – die Straffreiheit und die Unverletzlichkeit – umfasst, ist in die parlamentarischen Rechte der kontinentaleuropäischen Staaten weitgehend übernommen worden.

5. Zwar stellt sich die parlamentarische Immunität in Gestalt eines jedem Abgeordneten persönlich gewährten Schutzes dar, ihr Zweck ist jedoch ein anderer. Sie ist kein Vorrecht des Abgeordneten, das diesen der Geltung der allgemeinen Gesetze entziehen soll, sondern ein Mechanismus zum Schutz des Parlaments als Ganzes(5).

6. Insbesondere die Unverletzlichkeit bezweckt u. a., sicherzustellen, dass das Parlament vollzählig zusammentreten kann, ohne dass bestimmte Abgeordnete durch missbräuchliche oder schikanöse straf- oder zivilrechtliche Verfolgung von den Debatten ausgeschlossen werden(6).

7. Gegenwärtig wird die Berechtigung dieser Immunität häufig in Frage gestellt. Es wird vertreten, dass sie einen Anachronismus darstelle, ein Überbleibsel aus einer Zeit, in der die Parlamente Angriffen von Seiten der Exekutivgewalt und der – häufig in deren Dienst stehenden – Justiz ausgesetzt gewesen seien. In einem modernen Rechtsstaat sei dagegen die Unabhängigkeit der Gerichte die beste Garantie gegen ungerechtfertigte Eingriffe, die die Handlungsfähigkeit oder die Zusammensetzung des Parlaments bedrohten, so dass der Schutz vor (straf‑)rechtlicher Verfolgung seine Daseinsberechtigung verliere. Dieser Schutz sei außerdem eine Quelle von Missbrauch und eine Beeinträchtigung des grundlegenden Rechts von Personen, die durch Handlungen, die Parlamentsmitglieder außerhalb der Ausübung ihres Mandats begingen, geschädigt seien, auf Zugang zu den Gerichten(7).

8. Diese Kritik enthält gewiss viel Wahres.

9. Dennoch scheint mir zum einen, dass sie von einer sehr optimistischen Sicht der Dinge zeugt. Die Rechtsstaatlichkeit ist nicht überall gleich weit fortgeschritten und die politische Entwicklung läuft nicht immer ausschließlich in die Richtung ihrer Stärkung. Selbst wenn die Gerichte grundsätzlich unabhängig sind, gilt dies zudem nicht unbedingt für die Ordnungskräfte und die Staatsanwaltschaft(8).

10. Zum anderen ermöglichen es Maßnahmen wie die gerichtliche Kontrolle von Entscheidungen über die Aufhebung der Immunität, die Beschränkung des Umfangs oder Inhalts der Immunität sowie die Praxis der Parlamente, die Immunität grundsätzlich – außer in Fällen der tendenziösen Verfolgung (fumus persecutionis) – aufzuheben, Missbrauch zu verhindern und die Immunität auf ihre Rolle als Schutzschild des Parlaments zu begrenzen.

11. Wird sie richtig angewandt, stellt die Immunität der Abgeordneten somit eine der Garantien für deren Unabhängigkeit und damit die Unabhängigkeit jedes Parlaments und somit auch des Europäischen Parlaments dar.

12. Um in den Genuss dieser Immunität zu kommen, muss man allerdings zuerst die Eigenschaft eines Abgeordneten erlangen. In der institutionellen Ordnung der Europäischen Union bestimmt sich der Erwerb dieser Eigenschaft teils nach den nationalen Vorschriften der Mitgliedstaaten, teils nach den Vorschriften des Unionsrechts. Die vorliegende Rechtssache wirft die Frage auf, wie die Geltungsbereiche dieser verschiedenen Rechtsordnungen voneinander abgegrenzt sind. Sie ist daher von verfassungsrechtlicher Bedeutung, die weit über die persönliche Situation des Beschwerdeführers des Ausgangsverfahrens und die innerstaatliche politische Debatte, mit der dieser in Zusammenhang gebracht wird, hinausgeht. Ich werde die rechtlichen Fragen, die sich in der vorliegenden Rechtssache stellen, aus diesem verfassungsrechtlichen Blickwinkel erörtern.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

13. Art. 9 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union(9) im Anhang des EU-Vertrags und des AEU-Vertrags (im Folgenden: Protokoll) lautet:

„Während der Dauer der Sitzungsperiode des Europäischen Parlaments

a) steht seinen Mitgliedern im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zu,

b) können seine Mitglieder im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaats weder festgehalten noch gerichtlich verfolgt werden.

Die Unverletzlichkeit besteht auch während der Reise zum und vom Tagungsort des Europäischen Parlaments.

Bei Ergreifung auf frischer Tat kann die Unverletzlichkeit nicht geltend gemacht werden; sie steht auch nicht der Befugnis des Europäischen Parlaments entgegen, die Unverletzlichkeit eines seiner Mitglieder aufzuheben.“

14. Das Verfahren der Wahl der Mitglieder des Parlaments ist im Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments im Anhang zum Beschluss 76/787/EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 20. September 1976(10) in der durch den Beschluss 2002/772/EG, Euratom des Rates vom 25. Juni 2002 und vom 23. September 2002(11) geänderten Fassung (im Folgenden: Akt von 1976) geregelt. In Art. 5 dieses Akts heißt es:

„(1) Der Fünfjahreszeitraum, für den die Mitglieder des Europäischen Parlaments gewählt werden, beginnt mit der Eröffnung der ersten Sitzung nach jeder Wahl.

(2) Das Mandat eines Mitglieds des Europäischen Parlaments beginnt und endet zu gleicher Zeit wie der in Absatz 1 genannte Zeitraum.“

15. Art. 6 Abs. 2 des Akts von 1976 lautet:

„Die Mitglieder des Europäischen Parlaments genießen die Vorrechte und Befreiungen, die nach dem Protokoll vom 8. April 1965 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften für sie gelten.“

16. Art. 8 Abs. 1 dieses Akts bestimmt:

„Vorbehaltlich der Vorschriften dieses Akts bestimmt sich das Wahlverfahren in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften.“

17. Art. 12 des Akts von 1976 lautet:

„Das Europäische Parlament prüft die Mandate seiner Mitglieder. Zu diesem Zweck nimmt das Europäische Parlament die von den Mitgliedstaaten amtlich bekanntgegebenen Wahlergebnisse zur Kenntnis und befindet über die Anfechtungen, die gegebenenfalls auf Grund der Vorschriften dieses Akts – mit Ausnahme der innerstaatlichen Vorschriften, auf die darin verwiesen wird – vorgebracht werden könnten.“

18. Art. 13 Abs. 1 dieses Akts bestimmt schließlich:

„Ein Sitz wird frei, wenn das Mandat eines Mitglieds des Europäischen Parlaments im Falle seines Rücktritts oder seines Todes oder des Entzugs erlischt.“

Spanisches Recht

19. Art. 71 der spanischen Verfassung sieht vor:

„(1) Die Abgeordneten und Senatoren genießen Unverletzlichkeit[(12)] hinsichtlich der in Ausübung ihres Mandats geäußerten Meinungen.

(2) Ebenso genießen die Abgeordneten und Senatoren während ihrer Mandatszeit Immunität und dürfen nur bei Ergreifung auf frischer Tat festgenommen werden. Sie dürfen nur mit vorheriger Erlaubnis der betreffenden Kammer angeklagt oder gerichtlich verfolgt werden.

(3) Für Strafverfahren gegen Abgeordnete und Senatoren ist die Strafkammer des Tribunal Supremo [Oberstes Gericht, Spanien] zuständig.

…“

20. Die Ley orgánica 5/1985 del Régimen Electoral General (Gesetz 5/1985 über die...

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