LM v Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld and Österreichische Gesundheitskasse.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:89
Date10 February 2022
Docket NumberC-219/20
Celex Number62020CJ0219
CourtCourt of Justice (European Union)
62020CJ0219

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

10. Februar 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Freier Dienstleistungsverkehr – Entsendung von Arbeitnehmern – Richtlinie 96/71/EG – Art. 3 Abs. 1 Buchst. c – Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen – Entlohnung – Art. 5 – Sanktionen – Verjährungsfrist – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 41 – Recht auf eine gute Verwaltung – Art. 47 – Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz“

In der Rechtssache C‑219/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich) mit Entscheidung vom 12. Mai 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Mai 2020, in dem Verfahren

LM

gegen

Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld,

Beteiligte:

Österreichische Gesundheitskasse,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Sechsten Kammer sowie der Richter N. Jääskinen und M. Safjan,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von LM, vertreten durch Rechtsanwältin P. Cernochova,

der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und C. Leeb als Bevollmächtigte,

der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, M. Van Regemorter und C. Pochet als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch B.‑R. Killmann und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 41 Abs. 1 und Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und von Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen LM und der Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (Österreich) wegen der Geldstrafe, die über LM wegen Nichteinhaltung der im österreichischen Recht vorgesehenen Lohnverpflichtungen für entsandte Arbeitnehmer verhängt wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 96/71/EG

3

Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. 1997, L 18, S. 1) sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass unabhängig von dem auf das jeweilige Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Unternehmen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern bezüglich der nachstehenden Aspekte die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen garantieren, die in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Arbeitsleistung erbracht wird,

durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften und/oder

durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche im Sinne des Absatzes 8, sofern sie die im Anhang genannten Tätigkeiten betreffen, festgelegt sind:

c)

Mindestlohnsätze einschließlich der Überstundensätze; dies gilt nicht für die zusätzlichen betrieblichen Altersversorgungssysteme;

Zum Zweck dieser Richtlinie wird der in Unterabsatz 1 Buchstabe c) genannte Begriff der Mindestlohnsätze durch die Rechtsvorschriften und/oder Praktiken des Mitgliedstaats bestimmt, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird.“

4

Art. 5 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sehen geeignete Maßnahmen für den Fall der Nichteinhaltung dieser Richtlinie vor.

…“

Richtlinie 2014/67/EU

5

Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71 und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt‑Informationssystems („IMI-Verordnung“) (ABl. 2014, L 159, S. 11) bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten dürfen nur die Verwaltungsanforderungen und Kontrollmaßnahmen vorschreiben, die notwendig sind, um eine wirksame Überwachung der Einhaltung der Pflichten, die aus dieser Richtlinie und der Richtlinie 96/71… erwachsen, zu gewährleisten, vorausgesetzt, sie sind im Einklang mit dem Unionsrecht gerechtfertigt und verhältnismäßig.

Zu diesem Zweck können die Mitgliedstaaten insbesondere folgende Maßnahmen vorsehen:

b)

die Pflicht zur Bereithaltung oder Verfügbarmachung … der Lohnzettel, der Arbeitszeitnachweise mit Angabe des Beginns, des Endes und der Dauer der täglichen Arbeitszeit sowie der Belege über die Entgeltzahlung oder der Kopien gleichwertiger Dokumente …

c)

die Pflicht, nach der Entsendung auf Ersuchen der Behörden des Aufnahmemitgliedstaats die unter Buchstabe b genannten Dokumente innerhalb einer angemessenen Frist vorzulegen;

…“

Österreichisches Recht

6

In § 7i Abs. 5 und 7 des Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetzes (BGBl. Nr. 459/1993) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: AVRAG) heißt es:

„(5) Wer als Arbeitgeber/in einen/e Arbeitnehmer/in beschäftigt oder beschäftigt hat, ohne ihm/ihr zumindest das nach Gesetz, Verordnung oder Kollektivvertrag zustehende Entgelt unter Beachtung der jeweiligen Einstufungskriterien, ausgenommen die in § 49 Abs. 3 ASVG angeführten Entgeltbestandteile, zu leisten, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Bezirksverwaltungsbehörde mit einer Geldstrafe zu bestrafen. Bei Unterentlohnungen, die durchgehend mehrere Lohnzahlungszeiträume umfassen, liegt eine einzige Verwaltungsübertretung vor. … Sind von der Unterentlohnung höchstens drei Arbeitnehmer/innen betroffen, beträgt die Geldstrafe für jede/n Arbeitnehmer/in 1000 Euro bis 10000 Euro, im Wiederholungsfall 2000 Euro bis 20000 Euro, sind mehr als drei Arbeitnehmer/innen betroffen, für jede/n Arbeitnehmer/in 2000 Euro bis 20000 Euro, im Wiederholungsfall 4000 Euro bis 50000 Euro.

(7) Die Frist für die Verfolgungsverjährung (§ 31 Abs. 1 VStG) beträgt drei Jahre ab der Fälligkeit des Entgelts. Bei Unterentlohnungen, die durchgehend mehrere Lohnzahlungszeiträume umfassen, beginnt die Frist für die Verfolgungsverjährung im Sinne des ersten Satzes ab der Fälligkeit des Entgelts für den letzten Lohnzahlungszeitraum der Unterentlohnung. Die Frist für die Strafbarkeitsverjährung (§ 31 Abs. 2 VStG) beträgt in diesen Fällen fünf Jahre. Hinsichtlich von Sonderzahlungen beginnen die Fristen nach den beiden ersten Sätzen ab dem Ende des jeweiligen Kalenderjahres (Abs. 5 dritter Satz) zu laufen.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

7

Die GVAS s. r. o., eine Gesellschaft mit Sitz in der Slowakei, entsandte mehrere Arbeitnehmer nach Österreich.

8

Auf der Grundlage von Feststellungen, die bei einer am 19. Juni 2016 durchgeführten Kontrolle getroffen wurden, verhängte die Bezirksverwaltungsbehörde Hartberg-Fürstenfeld über LM in seiner Eigenschaft als Vertreter der GVAS auf der Grundlage von § 7i Abs. 5 AVRAG eine Geldstrafe in Höhe von 6600 Euro wegen Nichteinhaltung von Lohnverpflichtungen in Bezug auf vier entsandte Arbeitnehmer.

9

Diese Entscheidung wurde LM am 20. Februar 2020 zugestellt.

10

LM erhob gegen dieses Straferkenntnis Beschwerde beim vorlegenden Gericht, dem Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich).

11

Dieses Gericht hat Zweifel an der Vereinbarkeit von § 7i Abs. 7 AVRAG, der für die LM zur Last gelegte Übertretung nach § 7i Abs. 5 AVRAG eine Verjährungsfrist von fünf Jahren vorsieht, mit dem Unionsrecht. Eine solche Frist sei besonders lang für ein fahrlässig begangenes Bagatelldelikt im Verwaltungsstrafrecht, und es sei fraglich, ob sich eine Person angemessen verteidigen könne, insbesondere wenn diese Verteidigung fast fünf Jahre nach den vorgeworfenen Handlungen stattfinde.

12

Vor diesem Hintergrund hat das Landesverwaltungsgericht Steiermark beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 6 EMRK, Art. 41 Abs. 1 und Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin gehend auszulegen, dass sie einer nationalen Norm, welche zwingend eine fünfjährige Verjährungsfrist bei einem Fahrlässigkeitsdelikt in einem Verwaltungsstrafverfahren vorsieht, entgegenstehen?

Zur Vorlagefrage

Zuständigkeit des Gerichtshofs und Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

13

Die österreichische und die belgische Regierung tragen vor, dass dem Gerichtshof keine Zuständigkeit zur Auslegung von Art. 6 EMRK zukomme.

14

Nach ständiger Rechtsprechung ist der Gerichtshof nach Art. 267 AEUV nicht befugt, über die Auslegung völkerrechtlicher Bestimmungen zu entscheiden, die zwischen den Mitgliedstaaten Bindungen außerhalb des unionsrechtlichen Bereichs schaffen (Beschluss vom 6. November 2019, EOS Matrix, C‑234/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:986, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

15

Folglich ist der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefrage nicht zuständig, soweit sie sich auf die Auslegung von Art. 6 EMRK bezieht, während er für die Auslegung von Art. 47 Abs. 2 der Charta zuständig ist, der, wie es in den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) heißt, Art. 6 Abs. 1 EMRK entspricht (vgl. in...

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