Ministero dell'Interno v TO.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:616
Date01 August 2022
Docket NumberC-422/21
Celex Number62021CJ0422
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

1. August 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Personen, die internationalen Schutz beantragen – Richtlinie 2013/33/EU – Art. 20 Abs. 4 und 5 – Grob gewalttätiges Verhalten – Recht der Mitgliedstaaten, die anwendbaren Sanktionen festzulegen – Umfang – Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen“

In der Rechtssache C‑422/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 30. Dezember 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Juli 2021, in dem Verfahren

Ministero dell’Interno

gegen

TO

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten I. Jarukaitis sowie der Richter D. Gratsias (Berichterstatter) und Z. Csehi,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. D’Ascia und D. G. Pintus, Avvocati dello Stato,

– der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte im Beistand von A. Detheux, Avocat,

– der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

– der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und A. Hoesch als Bevollmächtigte,

– der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und M. Gijzen als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und E. Montaguti als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Ministero dell’Interno (Innenministerium, Italien) und TO über dessen Antrag auf Aufhebung einer Entscheidung der Prefettura di Firenze (Präfektur Florenz, Italien), mit der er von den im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen ausgeschlossen wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 Zweck der Richtlinie 2013/33 ist nach ihrem Art. 1 die Festlegung von Normen für die Aufnahme von Antragstellern auf internationalen Schutz (im Folgenden: Antragsteller) in den Mitgliedstaaten.

4 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

f) ‚im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährte Vorteile‘ sämtliche Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten im Einklang mit dieser Richtlinie zugunsten von Antragstellern treffen;

g) ‚im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen‘ Unterkunft, Verpflegung und Kleidung in Form von Sach- oder Geldleistungen oder Gutscheinen oder einer Kombination davon sowie Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs;

i) ‚Unterbringungszentrum‘ jede Einrichtung, die als Sammelunterkunft für Antragsteller dient;

…“

5 Art. 8 („Haft“) der Richtlinie 2013/33 sieht in Abs. 3 vor:

„Ein Antragsteller darf nur in Haft genommen werden,

e) wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist,

…“

6 Art. 17 („Allgemeine Bestimmungen zu materiellen Leistungen im Rahmen der Aufnahme und zur medizinischen Versorgung“) der Richtlinie 2013/33 sieht in den Abs. 1 bis 4 vor:

„(1) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Antragsteller ab Stellung des Antrags auf internationalen Schutz im Rahmen der Aufnahme materielle Leistungen in Anspruch nehmen können.

(2) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einem angemessenen Lebensstandard entsprechen, der den Lebensunterhalt sowie den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit von Antragstellern gewährleistet.

Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass dieser Lebensstandard gewährleistet ist, wenn es sich um schutzbedürftige Personen im Sinne von Artikel 21 und um in Haft befindliche Personen handelt.

(3) Die Mitgliedstaaten können die Gewährung aller oder bestimmter materieller Leistungen sowie die medizinische Versorgung davon abhängig machen, dass die Antragsteller nicht über ausreichende Mittel für einen Lebensstandard verfügen, der ihre Gesundheit und ihren Lebensunterhalt gewährleistet.

(4) Die Mitgliedstaaten können von den Antragstellern verlangen, dass sie für die Kosten der in dieser Richtlinie im Rahmen der Aufnahme vorgesehenen materiellen Leistungen sowie der medizinischen Versorgung gemäß Absatz 3 ganz oder teilweise aufkommen, sofern sie über ausreichende Mittel verfügen, beispielsweise wenn sie über einen angemessenen Zeitraum gearbeitet haben.

Stellt sich heraus, dass ein Antragsteller zum Zeitpunkt der Gewährung der materiellen Leistungen sowie der medizinischen Versorgung über ausreichende Mittel verfügt hat, um diese Grundbedürfnisse zu decken, können die Mitgliedstaaten eine Erstattung von dem Antragsteller verlangen.“

7 Art. 18 („Modalitäten der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen“) der Richtlinie 2013/33 bestimmt in Abs. 1:

„Sofern die Unterbringung als Sachleistung erfolgt, sollte eine der folgenden Unterbringungsmöglichkeiten oder eine Kombination davon gewählt werden:

a) Räumlichkeiten zur Unterbringung von Antragstellern für die Dauer der Prüfung eines an der Grenze oder in Transitzonen gestellten Antrags auf internationalen Schutz;

b) Unterbringungszentren, die einen angemessenen Lebensstandard gewährleisten;

c) Privathäuser, Wohnungen, Hotels oder andere für die Unterbringung von Antragstellern geeignete Räumlichkeiten.“

8 Art. 20 („Einschränkung oder Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen“) der Richtlinie 2013/33, die einzige Bestimmung von deren Kapitel III, hat folgenden Wortlaut:

„(1) Die Mitgliedstaaten können die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen in begründeten Ausnahmefällen einschränken oder entziehen, wenn ein Antragsteller

a) den von der zuständigen Behörde bestimmten Aufenthaltsort verlässt, ohne diese davon zu unterrichten oder erforderlichenfalls eine Genehmigung erhalten zu haben; oder

b) seinen Melde- und Auskunftspflichten oder Aufforderungen zu persönlichen Anhörungen im Rahmen des Asylverfahrens während einer im einzelstaatlichen Recht festgesetzten angemessenen Frist nicht nachkommt; oder

c) einen Folgeantrag nach Artikel 2 Buchstabe q der Richtlinie 2013/32/EU [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60)] gestellt hat.

Wird in den unter den Buchstaben a und b genannten Fällen ein Antragsteller aufgespürt oder meldet er sich freiwillig bei der zuständigen Behörde, so ergeht unter Berücksichtigung der Motive des Untertauchens eine ordnungsgemäß begründete Entscheidung über die erneute Gewährung einiger oder aller im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen, die entzogen oder eingeschränkt worden sind.

(2) Die Mitgliedstaaten können die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einschränken, wenn sie nachweisen können, dass der Antragsteller ohne berechtigten Grund nicht so bald wie vernünftigerweise möglich nach der Ankunft in dem betreffenden Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.

(3) Die Mitgliedstaaten können die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einschränken oder entziehen, wenn ein Antragsteller verschwiegen hat, dass er über Finanzmittel verfügt, und dadurch bei der Aufnahme zu Unrecht in den Genuss von materiellen Leistungen gekommen ist.

(4) Die Mitgliedstaaten können Sanktionen für grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren und grob gewalttätiges Verhalten festlegen.

(5) Entscheidungen über die Einschränkung oder den Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen oder über Sanktionen nach den Absätzen 1, 2, 3 und 4 dieses Artikels werden jeweils für den Einzelfall, objektiv und unparteiisch getroffen...

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