NW and PQ v Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság and Miniszterelnöki Kabinetirodát vezető miniszter.
Jurisdiction | European Union |
Date | 25 April 2024 |
Court | Court of Justice (European Union) |
Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
25. April 2024(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Unionsbürger, der noch nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat – Aufenthalt eines Familienangehörigen dieses Unionsbürgers in der Union – Gefährdung der nationalen Sicherheit – Stellungnahme einer nationalen Fachbehörde – Begründung – Akteneinsicht“
In den verbundenen Rechtssachen C‑420/22 und C‑528/22
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Szegedi Törvényszék (Stuhlgericht Szeged, Ungarn) mit Entscheidungen vom 16. Juni 2022 und 8. August 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Juni 2022 und 8. August 2022, in den Verfahren
NW (C‑420/22),
PQ (C‑528/22)
gegen
Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság,
Miniszterelnöki Kabinetirodát vezető miniszter,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: M. Siekierzyńska, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Juli 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– des NW, vertreten durch B. Pohárnok, Ügyvéd,
– des PQ, vertreten durch A. Németh und B. Pohárnok, Ügyvédek,
– der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,
– der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard, A. Daniel und J. Illouz als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Katsimerou, E. Montaguti und A. Tokár als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. November 2023
folgendes
Urteil
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 20 AEUV, Art. 9 Abs. 3 und Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44) sowie von Art. 7, Art. 24, Art. 51 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen zwei Drittstaatsangehörigen, NW und PQ, einerseits und der Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság (Nationale Generaldirektion der Fremdenpolizei, Ungarn) (im Folgenden: Fremdenpolizeidirektion) sowie dem Miniszterelnöki Kabinetirodát vezető miniszter (Minister für die Leitung des Kabinettsbüros des Ministerpräsidenten, Ungarn) andererseits. Diese Rechtsstreitigkeiten betreffen Entscheidungen, mit denen NW die Daueraufenthaltskarte entzogen und er aufgefordert wird, das Hoheitsgebiet Ungarns zu verlassen, und der Antrag von PQ auf Erteilung einer nationalen Niederlassungserlaubnis abgelehnt wird.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten erteilen Drittstaatsangehörigen, die sich unmittelbar vor der Stellung des entsprechenden Antrags fünf Jahre lang ununterbrochen rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten haben, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten.“
4 Art. 5 dieser Richtlinie bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten verlangen vom Drittstaatsangehörigen den Nachweis, dass er für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen über Folgendes verfügt:
a) feste und regelmäßige Einkünfte, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaats für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreichen. Die Mitgliedstaaten beurteilen diese Einkünfte anhand ihrer Art und Regelmäßigkeit und können die Höhe der Mindestlöhne und ‑renten beim Antrag auf Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten berücksichtigen;
b) eine Krankenversicherung, die im betreffenden Mitgliedstaat sämtliche Risiken abdeckt, die in der Regel auch für die eigenen Staatsangehörigen abgedeckt sind.
(2) Die Mitgliedstaaten können von Drittstaatsangehörigen verlangen, dass sie die Integrationsanforderungen gemäß dem nationalen Recht erfüllen.“
5 Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Um die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu erlangen, reicht der Drittstaatsangehörige bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem er sich aufhält, einen Antrag ein. Dem Antrag sind vom nationalen Recht zu bestimmende Unterlagen beizufügen, aus denen hervorgeht, dass er die Voraussetzungen der Artikel 4 und 5 erfüllt, sowie erforderlichenfalls ein gültiges Reisedokument oder eine beglaubigte Abschrift davon.
Die Nachweise nach Unterabsatz 1 können auch Unterlagen in Bezug auf ausreichenden Wohnraum einschließen.“
6 Art. 9 Abs. 3 dieser Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass ein Drittstaatsangehöriger die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten verliert, wenn er in Anbetracht der Schwere der von ihm begangenen Straftaten eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung darstellt, ohne dass diese Bedrohung eine Ausweisung … rechtfertigt.“
7 Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 lautet:
„Die Entscheidung, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu versagen oder zu entziehen, ist zu begründen. Jede Entscheidung wird dem betreffenden Drittstaatsangehörigen nach den Verfahren der entsprechenden nationalen Rechtsvorschriften mitgeteilt. In dieser Mitteilung ist auf die möglichen Rechtsbehelfe und die entsprechenden Fristen hinzuweisen.“
8 Art. 13 dieser Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können für die Ausstellung dauerhafter oder unbefristeter Aufenthaltstitel günstigere Voraussetzungen als diejenigen dieser Richtlinie vorsehen. Diese Aufenthaltstitel begründen nicht das Recht auf Aufenthalt in anderen Mitgliedstaaten gemäß Kapitel III.“
Ungarisches Recht
9 § 94 Abs. 2 bis 5 des A szabad mozgás és tartózkodás jogával rendelkező személyek beutazásáról és tartózkodásáról szóló 2007. évi I. törvény (Gesetz Nr. I von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Personen, die über das Recht auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt verfügen) vom 5. Januar 2007 (Magyar Közlöny 2007/1.) bestimmt:
„(2) Ein Drittstaatsangehöriger, der über eine Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte verfügt, die ihm als Familienangehörigen eines ungarischen Staatsbürgers … ausgestellt wurde … erhält auf vor Ablauf seiner Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte gestellten Antrag hin ohne Prüfung … eine nationale Niederlassungserlaubnis, es sei denn:
…
c) seiner Niederlassung steht ein Versagungsgrund nach § 33 Absatz 1 Buchstabe c und Absatz 2 des [A harmadik országbeli állampolgárok beutazásáról és tartózkodásáról szóló 2007. évi II. törvény (Gesetz Nr. II von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen) vom 5. Januar 2007 (Magyar Közlöny 2007/1.)] entgegen.
…
(3) Hinsichtlich Absatz 2 Buchstabe c sind die benannten Fachbehörden gemäß den Vorschriften des [Gesetzes Nr. II von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen] über die Erteilung einer nationalen Niederlassungserlaubnis zu konsultieren, um ihre fachbehördliche Stellungnahme einzuholen.
(4) Besitzt ein Drittstaatsangehöriger, der Familienangehöriger eines ungarischen Staatsbürgers ist, eine gültige Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte, wird diese entzogen,
…
b) wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit Ungarns gefährdet.
(5) Zu jeder fachlichen Frage nach Absatz 4 Buchstabe b sind die Fachbehörden gemäß den Vorschriften des [Gesetzes Nr. II von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen] über die Erteilung einer nationalen Niederlassungserlaubnis zu konsultieren, um ihre fachbehördliche Stellungnahme einzuholen.“
10 § 33 Abs. 1 und 2 des Gesetzes Nr. II von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen bestimmt:
„(1) Ein Drittstaatsangehöriger kann eine vorläufige Niederlassungserlaubnis, eine nationale Niederlassungserlaubnis oder eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG erhalten,
…
c) gegen den kein Versagungsgrund nach diesem Gesetz vorliegt.
(2) Ein Drittstaatsangehöriger kann keine vorläufige Niederlassungserlaubnis, nationale Niederlassungserlaubnis bzw. Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG erhalten,
…
b) wenn seine Niederlassung die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit Ungarns gefährdet.“
11 Art. 87/B Abs. 4 dieses Gesetzes bestimmt:
„Die Stellungnahme der Fachbehörde ist in Bezug auf die fachliche Frage für die befasste Fremdenpolizeibehörde verbindlich.“
12 § 11 des A minősített adat védelméről szóló 2009. évi CLV. törvény (Gesetz Nr. CLV von 2009 über den Schutz von Verschlusssachen) vom 29. Dezember 2009 (Magyar Közlöny 2009/194.) sieht vor:
„(1) Auf der Grundlage einer von der für die Einstufung zuständigen Stelle erteilten Kenntnisnahmegenehmigung ist die betroffene Person ohne Sicherheitsbescheid für Personen berechtigt, Kenntnis von ihren personenbezogenen Daten in einer nationalen Verschlusssache zu erhalten. Die betroffene Person muss, bevor sie Kenntnis von einer nationalen Verschlusssache erhält, schriftlich eine Geheimhaltungserklärung abgeben und die Vorschriften zum Schutz nationaler Verschlusssachen einhalten.
(2) Über die Erteilung der Kenntnisnahmegenehmigung beschließt die für die Einstufung zuständige Stelle auf Antrag der betroffenen Person innerhalb von 15 Tagen. Verletzt die Kenntnisnahme von der Information das der Einstufung zugrunde liegende öffentliche Interesse, lehnt die für die Einstufung zuständige Stelle die Erteilung der Kenntnisnahmegenehmigung ab. Die Ablehnung der Kenntnisnahmegenehmigung ist von der für die Einstufung zuständigen Stelle zu begründen.
(3) Wird die Erteilung der Kenntnisnahmegenehmigung abgelehnt, kann die betroffene Person...
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