Opinion of Advocate General Richard de la Tour delivered on 16 May 2024.
| Jurisdiction | European Union |
| Date | 16 May 2024 |
| Court | Court of Justice (European Union) |
Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
JEAN RICHARD DE LA TOUR
vom 16. Mai 2024(1)
Rechtssache C‑156/23 [Ararat](i)
K,
L,
M,
N
gegen
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid
(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Roermond [Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Roermond, Niederlande])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 5 – Grundsatz der Nichtzurückweisung – Maßnahme, mit der die zuständige nationale Behörde einen Antrag auf einen im nationalen Recht vorgesehenen Aufenthaltstitel ablehnt und auf eine frühere, bestandskräftig gewordene Rückkehrentscheidung verweist – Rechtmäßigkeit der Durchführung der Rückkehrentscheidung – Verpflichtung zur Vornahme einer aktualisierten Risikobeurteilung im Fall einer Abschiebung – Art. 13 – Rechtsbehelfe – Verpflichtung der Justizbehörde, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung von Amts wegen festzustellen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 19 Abs. 2 – Schutz bei Abschiebung – Art. 47 – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf“
I. Einleitung
1. Die Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung im Kontext der Rückführung eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen wirft eine besondere Problematik auf, wenn der Mitgliedstaat seine gegen diesen Drittstaatsangehörigen erlassene Rückkehrentscheidung nicht binnen kürzester Zeit vollstreckt. Denn auch wenn die Entscheidung für den Drittstaatsangehörigen nach einer bestimmten Zeit Bestandskraft erlangt, wird die ihr zugrunde liegende Beurteilung, insbesondere die Bewertung der Risiken, denen er im Falle einer Abschiebung in das vorgesehene Zielland ausgesetzt wäre, obsolet.
2. Der Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Ledi Bianku hat insoweit festgestellt, dass „die Frage der Nichtzurückweisung und der Rolle der Gerichte bei deren Umsetzung [ein Thema ist, das] eine besondere Schwierigkeit aufweist, weil sie sich auf Rechtssachen bezieht, in denen es vor allem um absolute Rechte geht, die durch die [Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten(2)] geschützt sind. Zudem müssen sich Richter – ob national oder international – zu sehr weit entfernten Sachverhalten äußern, die ihnen nicht unbedingt direkt und umfassend bekannt sind. Darüber hinaus sind Non-Refoulement-Sachen in der Regel Rechtssachen, die fluktuierende, sich verändernde Sachverhalte betreffen“(3).
3. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen bezieht sich auf die Auslegung der Art. 5 und 13 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger(4), in denen die Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung bzw. ein effektiver gerichtlicher Rechtsschutz für diese Staatsangehörigen gewährleistet ist.
4. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den armenischen Staatsangehörigen K, L, M und N sowie dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande) (im Folgenden: Staatssekretär) über die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme, mit der dieser den Antrag der Kläger auf Erteilung eines im niederländischem Recht vorgesehenen Aufenthaltstitels abgelehnt und in der er zwecks Fortsetzung des Rückkehrverfahrens auf eine frühere, bestandskräftig gewordene Rückkehrentscheidung verwiesen hat.
5. Das Ersuchen beinhaltet im Wesentlichen zwei Fragen.
6. Erstens möchte die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Roermond (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Roermond, Niederlande) vom Gerichtshof wissen, ob eine zuständige nationale Behörde, wenn sie die Rechtswidrigkeit des Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen feststellt, gegen den eine frühere, bestandskräftig gewordene Rückkehrentscheidung ergangen ist, vor Fortsetzung des Rückkehrverfahrens eine aktualisierte Beurteilung der Risiken vorzunehmen hat, denen der Drittstaatsangehörige im Falle einer Rückkehr in das vorgesehene Zielland ausgesetzt wäre.
7. Zweitens fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof, ob die Justizbehörde im Rahmen der Rechtmäßigkeitskontrolle, mit der sie befasst ist, und auf der Grundlage der ihr zur Verfügung stehenden Informationen verpflichtet ist, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung von Amts wegen festzustellen, wenn die zuständige nationale Behörde eine solche Beurteilung nicht vorgenommen hat.
8. In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, für Recht zu erkennen, dass die zuständige nationale Behörde, wenn das Rückkehrverfahren für einen erheblichen Zeitraum ausgesetzt gewesen ist, vor der Vollstreckung der früheren Rückkehrentscheidung zu ermitteln hat, ob sich die Situation des Drittstaatsangehörigen nicht in einer Weise verändert hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass er bei Vollstreckung dieser Entscheidung der Gefahr von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung im vorgesehenen Zielland ausgesetzt wäre. Ich werde auch darlegen, weshalb ich der Ansicht bin, dass die nationalen Gerichte ohne eine solche Beurteilung verpflichtet sind, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung, der von diesem Staatsangehörigen möglicherweise nicht geltend gemacht worden ist, von Amts wegen festzustellen, sofern sie über entsprechende Informationen verfügen.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
9. Die Richtlinie 2008/115 sieht in ihrem Art. 5 vor: „Bei der Umsetzung dieser Richtlinie [halten] die Mitgliedstaaten … den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“
10. Art. 6 Abs. 1 und 6 dieser Richtlinie hat folgenden Wortlaut:
„(1) Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.
…
(6) Durch diese Richtlinie sollen die Mitgliedstaaten nicht daran gehindert werden, entsprechend ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unbeschadet der nach Kapitel III und nach anderen einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts und des einzelstaatlichen Rechts verfügbaren Verfahrensgarantien mit einer einzigen behördlichen oder richterlichen Entscheidung eine Entscheidung über die Beendigung eines legalen Aufenthalts sowie eine Rückkehrentscheidung und/oder eine Entscheidung über eine Abschiebung und/oder ein Einreiseverbot zu erlassen.“
11. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der genannten Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten schieben die Abschiebung auf,
a) wenn diese gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde …“.
12. In Art. 13 Abs. 1 und 2 derselben Richtlinie heißt es schließlich:
„(1) Die betreffenden Drittstaatsangehörigen haben das Recht, bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde oder einem zuständigen Gremium, dessen Mitglieder unparteiisch sind und deren Unabhängigkeit garantiert wird, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 einzulegen oder die Überprüfung solcher Entscheidungen zu beantragen.
(2) Die in Absatz 1 genannte Behörde oder dieses Gremium ist befugt, Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 zu überprüfen, und hat auch die Möglichkeit, ihre Vollstreckung einstweilig auszusetzen, sofern eine einstweilige Aussetzung nicht bereits im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften anwendbar ist.“
B. Niederländisches Recht
13. Art. 8:69 der Algemene wet bestuursrecht (Allgemeines Verwaltungsrechtsgesetz)(5) vom 4. Juni 1992 sieht vor:
„(1) Das Verwaltungsgericht entscheidet auf der Grundlage der Klageschrift, der vorgelegten Unterlagen, der Voruntersuchung und der mündlichen Verhandlung.
(2) Das Verwaltungsgericht ergänzt die Rechtsgründe von Amts wegen.
(3) Das Verwaltungsgericht kann den Sachverhalt von Amts wegen ergänzen.“
III. Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefragen
14. Am 16. März 2011 stellten die Kläger, eine Familie bestehend aus zwei Schwestern, K und L, sowie ihren Eltern, M und N, die allesamt die armenische Staatsangehörigkeit besitzen, einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 9. August 2012 abgelehnt. Außerdem wurde den Klägern eine Rückkehrentscheidung zugestellt, die nach einer Beurteilung der Risiken erlassen worden war, denen sie im Falle einer Abschiebung nach Armenien ausgesetzt wären. Diese Entscheidung wurde bestandskräftig.
15. Am 10. Mai 2016 stellten die Kläger einen Antrag auf Erteilung eines im niederländischem Recht vorgesehenen Aufenthaltstitels. Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 16. Juni 2016, der infolge der Zurückweisung ihrer Widersprüche ebenfalls bestandskräftig wurde, abgelehnt.
16. Am 18. Februar 2019 beantragten die Kläger einen weiteren, ebenfalls im niederländischen Recht vorgesehenen Aufenthaltstitel für langfristig aufhältige Kinder („afsluitingsregeling langdurig verblijvende kinderen“ [abschließende Regelung für langfristig aufhältige Kinder])(6). Mit einer Maßnahme vom 8. Oktober 2019 lehnte der Staatssekretär ihren Antrag ab und stellte zum einen die Rechtswidrigkeit ihres Aufenthalts und zum anderen die Gültigkeit der am 9. August 2012 gegen sie ergangenen Rückkehrentscheidung fest (im Folgenden: streitige Maßnahme). Diese Maßnahme wurde am 12. November 2020 bestätigt, nachdem der Widerspruch der Kläger zurückgewiesen worden war.
17. Die Kläger erhoben hiergegen Klage bei der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Roermond (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Roermond), die beschloss, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union[(7)] in Verbindung mit Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta sowie [mit] Art. 5 der [Richtlinie 2008/115]...
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Opinion of Advocate General Spielmann delivered on 1 August 2025.
...de dicha sentencia). Véanse asimismo las conclusiones del Abogado General Richard de la Tour presentadas en el asunto Ararat (C‑156/23, EU:C:2024:413), punto 28 Véase el artículo 3, punto 5, de la Directiva 2008/115; véanse asimismo las conclusiones del Abogado General Richard de la Tour pr......