Opinion of Advocate General Rantos delivered on 6 June 2024.
Jurisdiction | European Union |
Celex Number | 62022CC0255 |
ECLI | ECLI:EU:C:2024:466 |
Date | 06 June 2024 |
Court | Court of Justice (European Union) |
Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
ATHANASIOS RANTOS
vom 6. Juni 2024(1)
Rechtssache C‑255/22 P
Orlen S.A., vormals Polski Koncern Naftowy Orlen S.A., vormals Polskie Górnictwo Naftowe i Gazownictwo S.A.
gegen
Europäische Kommission
„Rechtsmittel – Wettbewerb – Art. 102 AEUV – Art. 54 des EWR-Abkommens – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Gasmärkte in Mittel- und Osteuropa – Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 – Beschluss der Kommission, mit dem die von einem Unternehmen angebotenen individuellen Verpflichtungszusagen für bindend erklärt werden – Nichtigkeitsklage – Angemessenheit der Verpflichtungszusagen angesichts der in der Mitteilung der Beschwerdepunkte festgestellten wettbewerbsrechtlichen Bedenken – Art der Kontrolle durch den Unionsrichter – Verzicht der Kommission, Verpflichtungszusagen in Bezug auf einige ursprüngliche Bedenken zu verlangen – Begründungspflicht – Ziele der Energiepolitik der Union – Art. 194 AEUV – Grundsatz der Energiesolidarität – Anwendbarkeit“
I. Einleitung
1. Mit dem vorliegenden Rechtsmittel beantragt die Orlen S.A. (im Folgenden: Orlen oder Rechtsmittelführerin), Rechtsnachfolgerin der Polskie Górnictwo Naftowe i Gazownictwo S.A., die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 2. Februar 2022, Polskie Górnictwo Naftowe i Gazownictwo/Kommission (Verpflichtungszusagen von Gazprom) (T‑616/18, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2022:43), mit dem dieses Gericht seine Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses C(2018) 3106 final der Kommission vom 24. Mai 2018 in einem Verfahren nach Artikel 102 AEUV und Artikel 54 des EWR-Abkommens (Sache AT.39816 – Vorgelagerte Gasversorgungsmärkte in Mittel- und Osteuropa)(2) (im Folgenden: streitiger Beschluss) abgewiesen hat. Mit diesem Beschluss wurden die von der Gazprom PJSC und der Gazprom export LLC (im Folgenden zusammen: Gazprom) vorgelegten Verpflichtungszusagen für bindend erklärt und das von der Kommission durchgeführte Verwaltungsverfahren abgeschlossen, in dem im Hinblick auf das in Art. 102 AEUV vorgesehene Verbot des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung die Wettbewerbskonformität bestimmter Praktiken von Gazprom geprüft wurde, die den Gassektor in bestimmten mittel- und osteuropäischen Staaten (im Folgenden: MOEL), nämlich in Bulgarien, der Tschechischen Republik, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Polen und der Slowakei, beeinträchtigen.
2. Parallel dazu wurde durch die Overgas Inc., einer Streithelferin im ersten Rechtszug (im Folgenden: Streithelferin und Anschlussrechtsmittelführerin), ein Anschlussrechtsmittel eingelegt, mit dem ebenfalls die Aufhebung des angefochtenen Urteils begehrt wird.
3. Die vorliegende Rechtssache gibt dem Gerichtshof Gelegenheit, seine Rechtsprechung zu Rechtsstreitigkeiten weiterzuentwickeln, die sich aus Entscheidungen ergeben, mit denen Verpflichtungszusagen für die Unternehmen nach Art. 9 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003(3) für bindend erklärt werden. Zwar wirft diese Rechtssache die dem Gerichtshof bereits bekannte Problematik der gerichtlichen Überprüfung von Beschlüssen der Kommission im Bereich des Wettbewerbsrechts, insbesondere nach dem genannten Art. 9, im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf, sie wirft aber auch neuere Fragen auf, die einerseits die Vereinbarkeit eines nach Art. 9 dieser Verordnung erlassenen Beschlusses mit dem in Art. 194 AEUV verankerten Grundsatz der Energiesolidarität und andererseits die Verfahrensvorschriften über den Inhalt der Mitteilungen der Beschwerdepunkte betreffen, insbesondere soweit es um das etwaige Fehlen einer Begründung für den Verzicht auf einen oder mehrere Beschwerdepunkte während des Verfahrens geht, das zum Erlass eines Beschlusses nach Art. 9 der Verordnung führt.
4. Entsprechend der Aufforderung des Gerichtshofs zielen die vorliegenden Schlussanträge auf die Prüfung des dritten Teils des ersten Rechtsmittelgrundes sowie des zweiten und des dritten Rechtsmittelgrundes, die im Wesentlichen die beiden oben genannten Problemstellungen behandeln. Die vorliegenden Schlussanträge enthalten ebenfalls einige Klarstellungen zur Auslegung des Begriffs „offensichtlicher Beurteilungsfehler“, der im Mittelpunkt des ersten Teils des dritten Rechtsmittelgrundes sowie des zweiten Anschlussrechtsmittelgrundes steht.
II. Rechtlicher Rahmen
5. Art. 9 („Verpflichtungszusagen“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 lautet:
„Beabsichtigt die Kommission, eine Entscheidung zur Abstellung einer Zuwiderhandlung zu erlassen, und bieten die beteiligten Unternehmen an, Verpflichtungen einzugehen, die geeignet sind, die ihnen von der Kommission nach ihrer vorläufigen Beurteilung mitgeteilten Bedenken auszuräumen, so kann die Kommission diese Verpflichtungszusagen im Wege einer Entscheidung für bindend für die Unternehmen erklären. Die Entscheidung kann befristet sein und muss besagen, dass für ein Tätigwerden der Kommission kein Anlass mehr besteht.“
III. Vorgeschichte des Rechtsstreits
6. Die Vorgeschichte des Rechtsstreits und der Inhalt des streitigen Beschlusses sind in den Rn. 1 bis 36 des angefochtenen Urteils dargestellt und lassen sich für die Zwecke der vorliegenden thematisch eingegrenzten Schlussanträge wie folgt zusammenfassen.
A. Das Verwaltungsverfahren
7. Zwischen 2011 und 2015 traf die Kommission mehrere Maßnahmen zur Untersuchung des Funktionierens der Gasmärkte in Mittel- und Osteuropa. Insbesondere richtete die Kommission gemäß den Art. 18 und 20 der Verordnung Nr. 1/2003 Auskunftsersuchen an verschiedene Marktteilnehmer, u. a. Gazprom und einige von deren Kunden, darunter die Rechtsmittelführerin, und nahm Nachprüfungen vor, im Lauf des Jahres 2011 auch in den Räumlichkeiten der Rechtsmittelführerin(4).
8. In diesem Rahmen leitete die Kommission am 31. August 2012 förmlich ein Verfahren ein, um gemäß Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 und Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 773/2004 (5) einen Beschluss gemäß Kapitel III der Verordnung Nr. 1/2003 zu erlassen.
9. Am 22. April 2015 übersandte die Kommission Gazprom gemäß Art. 10 der Verordnung Nr. 773/2004 eine Mitteilung der Beschwerdepunkte (im Folgenden: MB), in der sie vorläufig zu dem Schluss kam, dass Gazprom eine beherrschende Stellung auf den vorgelagerten nationalen Märkten für die Lieferung von Gas auf Großhandelsebene in den betroffenen MOEL eingenommen und diese missbraucht habe, indem sie eine wettbewerbswidrige Strategie angewandt habe, um diese Märkte zu fragmentieren und zu isolieren und so einen ungehinderten Gastransport unter Verstoß gegen Art. 102 AEUV zu verhindern.
10. Nach Ansicht der Kommission umfasste die Strategie von Gazprom drei Gruppen wettbewerbswidriger Praktiken, die ihre Kunden in den betroffenen MOEL und deren mit Gazprom geschlossene Verträge beeinträchtigt hätten.
11. Gazprom habe erstens im Rahmen seiner Gaslieferverträge mit Großhändlern sowie mit bestimmten Industriekunden in den betroffenen MOEL territoriale Beschränkungen auferlegt, die sich aus Vertragsklauseln ergäben, die die Ausfuhr aus dem Liefergebiet untersagten oder die Verwendung des gelieferten Gases in einem bestimmten Gebiet anordneten. Darüber hinaus habe Gazprom andere Maßnahmen angewandt, die grenzüberschreitende Gasflüsse verhinderten.
12. Zweitens hätten diese territorialen Beschränkungen es Gazprom ermöglicht, in fünf der betroffenen MOEL, nämlich Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen und Polen, eine unlautere Preispolitik zu betreiben, indem sie überhöhte Preise oktroyiert habe, die deutlich höher gewesen seien als ihre Kosten oder bestimmte als Referenzpreise angesehene Preise.
13. Drittens habe Gazprom, was Bulgarien und Polen anbelange, ihre Gaslieferungen davon abhängig gemacht, dass Großhändler bestimmte Zusicherungen in Bezug auf die Gastransportinfrastruktur gegeben hätten. Diese Zusicherungen hätten sich zum einen auf Investitionen des bulgarischen Großhändlers in das Projekt der Gasfernleitung South Stream und zum anderen auf die Zustimmung des polnischen Großhändlers, d. h. der Rechtsmittelführerin, zur Stärkung der Kontrolle von Gazprom über die Verwaltung des polnischen Abschnitts der Jamal-Gasfernleitung, einer der wichtigsten Transit-Gasfernleitungen in Polen, bezogen (im Folgenden: Jamal-Beschwerdepunkte).
14. Am 29. September 2015 antwortete Gazprom auf die MB, wobei sie sich gegen die von der Kommission geäußerten wettbewerbsrechtlichen Bedenken wandte, und am 15. Dezember 2015 erfolgte ihre Anhörung gemäß Art. 12 der Verordnung Nr. 773/2004. Am 14. Februar 2017 legte Gazprom, obwohl sie sich weiterhin gegen die in der MB enthaltenen wettbewerbsrechtlichen Bedenken wandte, gemäß Art. 9 der Verordnung Nr. 1/2003 einen förmlichen Entwurf für Verpflichtungszusagen vor (im Folgenden: ursprüngliche Verpflichtungszusagen), dem informelle Verpflichtungszusagen vorausgegangen waren.
15. Am 16. März 2017 veröffentlichte die Kommission, um die Stellungnahmen interessierter Parteien zu den ursprünglichen Verpflichtungszusagen einzuholen, nach Art. 27 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1/2003 eine Mitteilung, die eine Zusammenfassung der Sache AT.39816 sowie den wesentlichen Inhalt der ursprünglichen Verpflichtungszusagen enthielt.
16. Am 15. März 2018 legte Gazprom nach Erhalt der nicht vertraulichen Fassungen der Stellungnahmen der interessierten Parteien zu den ursprünglichen Verpflichtungszusagen einen geänderten Entwurf für Verpflichtungszusagen vor (im Folgenden: endgültige Verpflichtungszusagen).
17. Am 24. Mai 2018 erließ die Kommission den streitigen Beschluss, dem die endgültigen Verpflichtungszusagen als Anhang beigefügt wurden. Mit diesem Beschluss billigte sie diese Verpflichtungszusagen, erklärte sie für bindend und schloss das Verwaltungsverfahren mit der Feststellung ab, dass kein Anlass mehr bestehe, bezüglich der ursprünglich in der MB angeführten potenziell missbräuchlichen Praktiken tätig zu werden.
B. Zum streitigen Beschluss
18. In dem streitigen Beschluss...
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