Opinion of Advocate General Kokott delivered on 21 January 2021.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:58
Date21 January 2021
Celex Number62019CC0844
CourtCourt of Justice (European Union)

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 21. Januar 2021(1)

Rechtssache C844/19

CS,

Finanzamt Graz-Stadt,

Beteiligte:

Finanzamt Judenburg Liezen,

technoRent International GmbH

(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs [Österreich])

„Vorabentscheidungsersuchen – Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 183 – Erstattung des Vorsteuerüberschusses – Verzinsung bei nachträglicher Erhöhung des Vorsteuerüberschusses oder nachträglicher Reduktion der Steuerschuld – Fehlen nationaler Umsetzungsmaßnahmen – Unmittelbare Anwendung einer Richtlinie – Analoge Anwendung einer nicht einschlägigen Richtlinie – Erstattungsrichtlinie (Richtlinie 2008/9/EG) – Art. 27 – Unionsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts“






I. Einführung

1. Im vorliegenden Verfahren stellt sich die Frage, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie dem Steuerpflichtigen einen unmittelbaren Verzinsungsanspruch bezüglich eines erst nachträglich ausgezahlten Vorsteuerüberschusses bzw. erst nachträglich ausgezahlten Steuererstattungsanspruches gewährt. Nach Angaben des vorlegenden Gerichts hat die Republik Österreich für die Mehrwertsteuer keine solche Verzinsungsregelung vorgesehen. Die existierenden Verzinsungsregelungen für andere Steuerarten könnten nicht unionsrechtskonform ausgelegt und auf die Mehrwertsteuer angewendet werden.

2. Allerdings enthält eine andere Richtlinie (die Erstattungsrichtlinie) einen unmittelbar anwendbareren Verzinsungsanspruch für nachträglich erstattete Vorsteuerüberschüsse an im Ausland ansässige Steuerpflichtige, die keine Umsätze im Inland ausgeführt haben. Fraglich ist, ob diese Richtlinie hier analog angewendet werden kann.

3. Selbst wenn dies verneint wird und auch der Mehrwertsteuerrichtlinie kein unmittelbar anwendbarer Verzinsungsanspruch entnommen werden kann, kann der Gerichtshof möglicherweise dennoch weitere nützliche Hinweise geben, die für die Möglichkeit einer unionsrechtskonformen Lösung des Rechtsstreits hilfreich sind.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

4. Art. 90 der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem(2) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) betrifft die Verminderung der Bemessungsgrundlage und regelt:

„(1) Im Falle der Annullierung, der Rückgängigmachung, der Auflösung, der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung oder des Preisnachlasses nach der Bewirkung des Umsatzes wird die Steuerbemessungsgrundlage unter den von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen entsprechend vermindert.

(2) Die Mitgliedstaaten können im Falle der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung von Absatz 1 abweichen.“

5. Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Übersteigt der Betrag der abgezogenen Vorsteuer den Betrag der für einen Steuerzeitraum geschuldeten Mehrwertsteuer, können die Mitgliedstaaten den Überschuss entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen lassen oder nach den von ihnen festgelegen Einzelheiten erstatten.

Die Mitgliedstaaten können jedoch festlegen, dass geringfügige Überschüsse weder vorgetragen noch erstattet werden.“

6. Die Richtlinie 2008/9/EG zur Regelung der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß der Richtlinie 2006/112/EG(3) (im Folgenden: Erstattungsrichtlinie) betrifft die Modalitäten der Erstattung der Vorsteuer an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässige Steuerpflichtige, die dort keine Umsätze ausgeführt haben.

7. Art. 27 dieser Erstattungsrichtlinie betrifft die Verzinsung des genannten Erstattungsanspruchs und lautet:

„(1) Zinsen werden für den Zeitraum berechnet, der sich vom Tag nach dem letzten Tag der Frist für die Zahlung der Erstattung gemäß Artikel 22 Absatz 1 bis zum Zeitpunkt der tatsächlichen Zahlung der Erstattung erstreckt.

(2) Die Zinssätze entsprechen den geltenden Zinssätzen für die Erstattung von Mehrwertsteuer an im Mitgliedstaat der Erstattung ansässige Steuerpflichtige nach dem nationalen Recht des betroffenen Mitgliedstaats.

Falls nach nationalem Recht für Erstattungen an ansässige steuerpflichtige Personen keine Zinsen zu zahlen sind, entsprechen die Zinssätze den Zinssätzen bzw. den entsprechenden Gebühren, die der Mitgliedstaat der Erstattung bei verspäteten Mehrwertsteuerzahlungen der Steuerpflichtigen anwendet.“

B. Österreichisches Recht

8. In Österreich wird der Zinsanspruch des Steuerpflichtigen im Bundesgesetz über allgemeine Bestimmungen und das Verfahren für die von den Abgabenbehörden des Bundes, der Länder und Gemeinden verwalteten Abgaben (Bundeabgabenordnung, im Folgenden: BAO) geregelt:

9. § 205 BAO betrifft den Zinsanspruch des Steuerpflichtigen bei Erstattungsansprüchen in der Einkommensteuer und Körperschaftsteuer:

„(1) Differenzbeträge an Einkommensteuer und Körperschaftsteuer, die sich aus Abgabenbescheiden unter Außerachtlassung von Anzahlungen (Abs. 3), nach Gegenüberstellung mit Vorauszahlungen oder mit der bisher festgesetzt gewesenen Abgabe ergeben, sind für den Zeitraum ab 1. Oktober des dem Jahr des Entstehens des Abgabenanspruchs folgenden Jahres bis zum Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Bescheide zu verzinsen (Anspruchszinsen). Dies gilt sinngemäß für Differenzbeträge aus

a) Aufhebungen von Abgabenbescheiden, …

(2) Die Anspruchszinsen betragen pro Jahr 2 % über dem Basiszinssatz. Anspruchszinsen, die den Betrag von 50 Euro nicht erreichen, sind nicht festzusetzen. Anspruchszinsen sind für einen Zeitraum von höchstens 48 Monaten festzusetzen. …“

10. § 205a BAO erfasst seit dem 1. Januar 2012 einen Zinsanspruch des Steuerpflichtigen für überzahlte Steuern, wenn diese nachträglich aufgrund einer Beschwerde niedriger als ursprünglich festgesetzt werden, und lautet:

„(1) Soweit eine bereits entrichtete Abgabenschuldigkeit, deren Höhe unmittelbar oder mittelbar von der Erledigung einer Bescheidbeschwerde abhängt, herabgesetzt wird, sind auf Antrag des Abgabenpflichtigen Zinsen für den Zeitraum ab Entrichtung bis zur Bekanntgabe des die Abgabe herabsetzenden Bescheides bzw. Erkenntnisses festzusetzen (Beschwerdezinsen). …

(4) Die Zinsen betragen pro Jahr 2 % über dem Basiszinssatz. Zinsen, die den Betrag von 50 Euro nicht erreichen, sind nicht festzusetzen.“

III. Ausgangsrechtsstreit

11. Das Vorabentscheidungsersuchen basiert auf zwei verschiedenen Revisionsverfahren vor dem vorlegenden Gericht.

Zum ersten Revisionsverfahren (Ro 2017/15/0035)

12. CS, der Kläger im ersten Verfahren (im Folgenden: Kläger 1), machte in seiner Umsatzsteuervoranmeldung für August 2007 einen Vorsteuerüberschuss in Höhe von 60 689,28 Euro geltend. Das Finanzamt setzte diesen Überschuss jedoch nur in Höhe von 14 689,28 Euro fest. Der Kläger 1 focht diesen Bescheid vor Gericht erfolgreich an. Der Vorsteuerüberschuss wurde ihm am 22. Mai 2013 in voller Höhe „ausgezahlt“.

13. Am 30. Mai 2013 beantragte Kläger 1 gem. § 205a BAO für den Zeitraum ab dessen Inkrafttreten (1. Januar 2012) eine Verzinsung dieses Vorsteuerüberschusses bis zur Erfüllung am 22. Mai 2013. Diesen Antrag lehnte das Finanzamt ab. Dagegen klagte Kläger 1 erfolglos vor dem Bundesfinanzgericht (Österreich).

14. Die Ablehnung begründete das Bundesfinanzgericht damit, dass § 205a BAO nicht den Fall eines erfolgreich eingeklagten Vorsteuerüberschusses erfasse, sondern nur die erfolgreiche gerichtliche Bekämpfung einer zu hoch festgesetzten und gezahlten Steuerschuld. Dagegen richtet sich die Revision von Kläger 1.

Zum zweiten Revisionsverfahren (Ro 2018/15/0026)

15. Der Kläger im zweiten Verfahren (technoRent International, im Folgenden: Kläger 2) ist ein in Deutschland ansässiges Unternehmen. Dieses verkaufte in den Jahren 2003 und 2004 Maschinen in Österreich und unterwarf diese Geschäftsvorfälle in Österreich der Umsatzsteuer. Im Jahr 2005 machte Kläger 2 in der Umsatzsteuervoranmeldung für den Monat Mai 2005 eine Umsatzsteuergutschrift in Höhe von 367 081,58 Euro geltend. Hintergrund war eine nachträgliche Minderung des Entgelts im Sinne von Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie, da einige der Maschinen offenbar nicht oder nicht in voller Höhe bezahlt wurden.

16. Diese Minderung der Bemessungsgrundlage wurde einer behördlichen Prüfung (von Juli 2006 bis Juni 2008) unterzogen. Das Guthaben wurde am 10. März 2008 Kläger 2 zunächst „ausgezahlt“. Bei Ende der Prüfung vertrat das Finanzamt jedoch die Auffassung, dass die Minderung der Bemessungsgrundlage doch nicht vorzunehmen sei. Mit Bescheid vom 13. Oktober 2008 setzte das Finanzamt daher eine Nachforderung in Höhe von 367 081,58 Euro fest. Die Klage gegen diesen Umsatzsteuerbescheid war erfolgreich.

17. Im Oktober 2013 beantragte Kläger 2 für den Zeitraum Juli 2005 bis Mai 2013 eine Verzinsung des Betrages von 367 081,58 Euro. Über diesen Antrag entschied das Finanzamt dahin gehend, dass nur für den Zeitraum vom 1. Januar 2012 bis 8. April 2013 ein Anspruch auf Zinsen (in Höhe von 10 021,32 Euro) nach § 205a BAO bestehe. Einer gegen diesen Bescheid gerichteten Beschwerde gab das Gericht am 29. Mai 2017 zum Teil statt, indem es Kläger 2 auch für den Zeitraum vom 2. September 2005 bis 9. März 2008 Verzugszinsen zusprach. Die dagegen gerichtete Revision des Finanzamtes wendet sich ausschließlich gegen den Zuspruch von Verzugszinsen für den Zeitraum vom 2. September 2005 bis zum 9. März 2008.

IV. Vorabentscheidungsersuchen und Verfahren vor dem Gerichtshof

18. Der für beide Revisionsverfahren zuständige Verwaltungsgerichtshof (Österreich) sieht sich nicht in der Lage, die in den §§ 205 bzw. 205a BAO enthaltenen Zinsvorschriften unionsrechtskonform auszulegen, und legte daraufhin mit Beschluss vom 24. Oktober 2018 dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:

„1. Ergibt sich aus dem Unionsrecht eine unmittelbar anwendbare Regelung, die einem Steuerpflichtigen, dem das Finanzamt in einer Situation, wie sie in den Ausgangsverfahren vorliegt, nicht rechtzeitig ein Umsatzsteuerguthaben erstattet, einen Anspruch auf Verzugszinsen einräumt, sodass er diesen Anspruch beim Finanzamt bzw. bei den Verwaltungsgerichten...

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