Opinion of Advocate General Kokott delivered on 22 April 2021.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:326
Date22 April 2021
Celex Number62020CC0080
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 22. April 2021(1)

Rechtssache C80/20

Wilo Salmson France SAS

gegen

Agenţia Naţională de Administrare Fiscală – Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Bucureşti,

Agenţia Naţională de Administrare Fiscală – Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Bucureşti – Administraţia Fiscală pentru Contribuabili Nerezidenţi

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunalul Bucureşti [Landgericht Bukarest, Rumänien])

„Vorabentscheidungsersuchen – Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 167 und 178 Buchst. a – Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug – Entstehungszeitraum – Besitz einer Rechnung als materielle Voraussetzung – Abgrenzung zu den formellen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs – Erstattungsrichtlinie (Richtlinie 2008/9/EG) – Art. 14 Abs. 1 Buchst. a und Art. 15 – Bestandskraft einer nicht angefochtenen ablehnenden Entscheidung – Rechtsfolgen der Stornierung (Annullierung) einer Rechnung und deren Neuausstellung“






I. Einführung

1. Ein Unternehmen hat in 2012 in Rumänien einen Erstattungsantrag gestellt, wobei im Jahr 2012 nur eine Rechnung vorlag, die wohl nicht ordnungsgemäß war. Nachdem der Erstattungsantrag für 2012 abgelehnt wurde, wurde diese Rechnung storniert (annulliert) und im Jahr 2015 neu ausgestellt. Daraufhin wurde ein neuer Erstattungsantrag für 2015 gestellt, über den zu entscheiden ist. Das Gericht fragt sich nun, wann der Vorsteuerabzug entstanden ist und wann der Erstattungsantrag hätte gestellt werden müssen.

2. Der Gerichtshof kann hier eine der wichtigsten Fragen der Praxis im Mehrwertsteuerrecht beantworten: Ist für den Vorsteuerabzug eines Unternehmens der Besitz einer Rechnung eine notwendige Voraussetzung?

3. Wird diese Frage bejaht, dann ist der Besitz einer solchen Rechnung auch von Bedeutung für den Besteuerungszeitraum, in dem der Vorsteuerabzug bzw. der Erstattungsantrag geltend zu machen ist. Wenn die ursprüngliche Rechnung später korrigiert wird, wäre bei Annahme einer Rückwirkung dieser Korrektur der Zeitpunkt des Besitzes der fehlerhaften Rechnung (hier 2012) entscheidend, ansonsten der des Besitzes der korrigierten Rechnung (hier 2015). Wird die obige Frage hingegen verneint, dann kommt es nur auf die Leistungsausführung (hier 2012) an.

4. Wenn der Vorsteuerabzug gewissen zeitlichen Grenzen unterworfen ist (seien es bestimmte Antragsfristen wie hier im Erstattungsverfahren nach der Richtlinie 2008/9, seien es Verjährungsfristen), ist von Bedeutung, wann diese Fristen zu laufen beginnen. Damit verbunden ist die Frage, ob es einen bestimmten Zeitpunkt gibt, zu dem der Steuerpflichtige den Vorsteuerabzug geltend machen muss oder ob er sich diesen frei aussuchen kann, in dem er seinen Vertragspartner bittet, ihm eine neue Rechnung auszustellen und die alte zu annullieren. Hinzu kommen verfahrensrechtliche Fragen, wenn die beantragte Vorsteuererstattung zwischenzeitlich schon bestandskräftig abgelehnt wurde.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

Richtlinie 2006/112

5. Art. 63 der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem(2) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) regelt die Entstehung des Steuertatbestandes und des Steueranspruchs:

„Steuertatbestand und Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.“

6. Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft die Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug. Er lautet:

„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“

7. Art. 178 dieser Richtlinie regelt hingegen die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug:

„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:

a) [F]ür den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß Titel XI Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6 ausgestellte Rechnung besitzen;

f) hat er die Steuer in seiner Eigenschaft als Dienstleistungsempfänger oder Erwerber gemäß den Artikeln 194 bis 197 sowie 199 zu entrichten, muss er die von dem jeweiligen Mitgliedstaat vorgeschriebenen Formalitäten erfüllen.“

8. Art. 219 der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft Rechnungsänderungen und stellt insoweit fest:

„Einer Rechnung gleichgestellt ist jedes Dokument und jede Mitteilung, das/die die ursprüngliche Rechnung ändert und spezifisch und eindeutig auf diese bezogen ist.“

9. Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie regelt hingegen den materiellen Umfang des Vorsteuerabzugs:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden“.

10. Art. 169 Buchst. a dieser Richtlinie erweitert dieses Vorsteuerabzugsrecht:

„Über den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 hinaus hat der Steuerpflichtige das Recht, die in jenem Artikel genannte Mehrwertsteuer abzuziehen, soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke folgender Umsätze verwendet werden:

a) für seine Umsätze, die sich aus den in Artikel 9 Absatz 1 Unterabsatz 2 genannten Tätigkeiten ergeben, die außerhalb des Mitgliedstaats, in dem diese Steuer geschuldet oder entrichtet wird, bewirkt werden und für die das Recht auf Vorsteuerabzug bestünde, wenn sie in diesem Mitgliedstaat bewirkt worden wären“.

11. Art. 170 der Mehrwertsteuerrichtlinie stellt dabei klar, dass auch ohne eine Vorsteuerabzugsmöglichkeit ein Erstattungsanspruch des Steuerpflichtigen besteht:

„Jeder Steuerpflichtige, der im Sinne des Artikels 1 der Richtlinie 86/560/EWG …, des Artikels 2 Nummer 1 und des Artikels 3 der Richtlinie 2008/9/EG … und des Artikels 171 der vorliegenden Richtlinie nicht in dem Mitgliedstaat ansässig ist, in dem er die Gegenstände und Dienstleistungen erwirbt oder mit der Mehrwertsteuer belastete Gegenstände einführt, hat Anspruch auf Erstattung dieser Mehrwertsteuer, soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke folgender Umsätze verwendet werden:

a) die in Artikel 169 genannten Umsätze; …“

12. Art. 171 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft das Verfahren der Erstattung an diese Steuerpflichtige mit fehlenden inländischen Umsätzen:

„Die Erstattung der Mehrwertsteuer an Steuerpflichtige, die nicht in dem Mitgliedstaat, in dem sie die Gegenstände und Dienstleistungen erwerben oder mit der Mehrwertsteuer belastete Gegenstände einführen, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind, erfolgt nach dem in der Richtlinie 2008/9/EG vorgesehenen Verfahren.“

Richtlinie 2008/9

13. Art. 5 der Richtlinie 2008/9/EG zur Regelung der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß der Richtlinie 2006/112/EG an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige(3) (im Folgenden: Erstattungsrichtlinie) macht die Beziehung zur Mehrwertsteuerrichtlinie deutlich.

„Jeder Mitgliedstaat erstattet einem nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässigen Steuerpflichtigen die Mehrwertsteuer, mit der die ihm von anderen Steuerpflichtigen in diesem Mitgliedstaat gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen oder die Einfuhr von Gegenständen in diesen Mitgliedstaat belastet wurden, sofern die betreffenden Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke der folgenden Umsätze verwendet werden:

a) in Artikel 169 Buchstaben a und b der Richtlinie 2006/112/EG genannte Umsätze;

b) Umsätze, deren Empfänger nach den Artikeln 194 bis 197 und Artikel 199 der Richtlinie 2006/112/EG, wie sie im Mitgliedstaat der Erstattung angewendet werden, Schuldner der Mehrwertsteuer ist.

Unbeschadet des Artikels 6 wird für die Anwendung dieser Richtlinie der Anspruch auf Vorsteuererstattung nach der Richtlinie 2006/112/EG, wie diese Richtlinie im Mitgliedstaat der Erstattung angewendet wird, bestimmt.“

14. Art. 10 der Erstattungsrichtlinie ermöglicht eine Erweiterung der dem Antrag beizufügenden Unterlagen für den Mitgliedstaat der Erstattung.

„Unbeschadet der Informationsersuchen gemäß Artikel 20 kann der Mitgliedstaat der Erstattung verlangen, dass der Antragsteller zusammen mit dem Erstattungsantrag auf elektronischem Wege eine Kopie der Rechnung oder des Einfuhrdokuments einreicht, falls sich die Steuerbemessungsgrundlage auf einer Rechnung oder einem Einfuhrdokument auf mindestens 1 000 EUR oder den Gegenwert in der jeweiligen Landeswährung beläuft. Betrifft die Rechnung Kraftstoff, so ist dieser Schwellenwert 250 EUR oder der Gegenwert in der jeweiligen Landeswährung.“

15. Art. 14 der Erstattungsrichtlinie betrifft den Inhalt des Erstattungsantrags:

„(1) Der Erstattungsantrag hat sich auf Folgendes zu beziehen:

a) den Erwerb von Gegenständen oder Dienstleistungen, der innerhalb des Erstattungszeitraums in Rechnung gestellt worden ist, sofern der Steueranspruch vor oder zum Zeitpunkt der Rechnungsstellung entstanden ist, oder für den der Steueranspruch während des Erstattungszeitraums entstanden ist, sofern der Erwerb vor Eintreten des Steueranspruchs in Rechnung gestellt wurde; …“

16. Art. 15 Abs. 1 der Erstattungsrichtlinie regelt die zeitlichen Vorgaben, bis wann ein solcher Erstattungsantrag eingereicht werden muss:

„Der Erstattungsantrag muss dem Mitgliedstaat, in dem der Steuerpflichtige ansässig ist, spätestens am 30. September des auf den Erstattungszeitraum folgenden Kalenderjahres vorliegen. Der Erstattungsantrag gilt nur dann als vorgelegt, wenn der Antragsteller alle in den Artikeln 8, 9 und 11 geforderten Angaben gemacht hat. …“

17. Art. 23 der Erstattungsrichtlinie betrifft die Abweisung des...

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