Orde van Vlaamse Balies and Others v Vlaamse Regering.
Jurisdiction | European Union |
Court | Court of Justice (European Union) |
ECLI | ECLI:EU:C:2022:963 |
Docket Number | C-694/20 |
Celex Number | 62020CJ0694 |
Date | 08 December 2022 |
Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
8. Dezember 2022(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung – Verpflichtender automatischer Informationsaustausch über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen – Richtlinie 2011/16/EU in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 geänderten Fassung – Art. 8ab Abs. 5 – Gültigkeit – Anwaltliches Berufsgeheimnis – Befreiung des dem Berufsgeheimnis unterliegenden Rechtsanwalt‑Intermediärs von der Meldepflicht – Pflicht dieses Rechtsanwalt‑Intermediärs, andere Intermediäre, die nicht seine Mandanten sind, über die ihm obliegenden Meldepflichten zu unterrichten – Art. 7 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“
In der Rechtssache C‑694/20
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof, Belgien) mit Entscheidung vom 17. Dezember 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Dezember 2020, in dem Verfahren
Orde van Vlaamse Balies,
IG,
Belgian Association of Tax Lawyers,
CD,
JU
gegen
Vlaamse Regering
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, des Kammerpräsidenten P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi und des Kammerpräsidenten D. Gratsias sowie der Richter F. Biltgen, N. Piçarra, I. Jarukaitis, N. Jääskinen und N. Wahl, der Richterin I. Ziemele und des Richters J. Passer (Berichterstatter),
Generalanwalt: A. Rantos,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Januar 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– des Orde van Vlaamse Balies und IG, vertreten durch S. Eskenazi und P. Wouters, Advocaten,
– der Belgian Association of Tax Lawyers, CD und JU, vertreten durch P. Malherbe, Avocat, und P. Verhaeghe, Advocaat,
– der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens, J.‑C. Halleux und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von M. Delanote, Advocaat,
– der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Očková, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
– der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard, A.‑L. Desjonquères, E. de Moustier und É. Toutain als Bevollmächtigte,
– der lettischen Regierung, vertreten durch J. Davidoviča, I. Hūna und K. Pommere als Bevollmächtigte,
– des Rates der Europäischen Union, vertreten durch E. Chatziioakeimidou, I. Gurov und S. Van Overmeire als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Roels und P. Van Nuffel als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. April 2022
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit von Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG (ABl. 2011, L 64, S. 1) in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 des Rates vom 25. Mai 2018 (ABl. 2018, L 139, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: geänderte Richtlinie 2011/16) im Hinblick auf die Art. 7 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Orde van Vlaamse Balies (Kammer der flämischen Rechtsanwaltschaften), der Belgian Association of Tax Lawyers, einem Berufsverband von Rechtsanwälten, sowie von IG, CD und JU, drei Anwälten, auf der einen Seite und der Vlaamse Regering (Flämische Regierung, Belgien) auf der anderen Seite über die Gültigkeit einiger Bestimmungen der flämischen Regelung über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Die Richtlinie 2011/16 führt ein System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Steuerbehörden der Mitgliedstaaten ein und legt die Regeln und Verfahren fest, die beim Informationsaustausch für steuerliche Zwecke anzuwenden sind.
4 Die Richtlinie 2011/16 wurde mehrfach geändert, u. a. durch die Richtlinie 2018/822. Mit dieser Richtlinie wurde eine Meldepflicht in Bezug auf potenziell aggressive grenzüberschreitende Steuerplanungsgestaltungen bei den zuständigen Behörden eingeführt. In den Erwägungsgründen 2, 4, 6, 8, 9 und 18 der Richtlinie 2018/822 heißt es:
„(2) Für die Mitgliedstaaten wird es immer schwieriger, ihre nationalen Steuerbemessungsgrundlagen gegen Aushöhlung zu schützen, da die Steuerplanungsstrukturen immer ausgefeilter werden und sich häufig die höhere Mobilität von Kapital und Personen im Binnenmarkt zunutze machen. … Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass die Steuerbehörden der Mitgliedstaaten umfassende und relevante Informationen über potenziell aggressive Steuergestaltungen erhalten. Diese Informationen würden die Behörden in die Lage versetzen, zeitnah gegen schädliche Steuerpraktiken vorzugehen und Schlupflöcher durch den Erlass von Rechtsvorschriften oder durch die Durchführung geeigneter Risikoabschätzungen sowie durch Steuerprüfungen zu schließen. …
…
(4) In Anerkennung der Tatsache, dass ein transparenter Rahmen für die Entwicklung unternehmerischer Tätigkeit zur Bekämpfung von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung im Binnenmarkt beitragen kann, wurde die [Europäische] Kommission ersucht, Initiativen zur verpflichtenden Offenlegung von Informationen zu potenziell aggressiven Steuerplanungsgestaltungen entsprechend dem Aktionspunkt 12 des [Projekts der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)] zu Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (BEPS) einzuleiten. In diesem Zusammenhang hat das Europäische Parlament zu strengeren Maßnahmen gegen Intermediäre aufgerufen, die an Gestaltungen mitwirken, die zu Steuervermeidung und Steuerhinterziehung führen können. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die OECD in der Erklärung der G7 von Bari vom 13. Mai 2017 über die Bekämpfung von Steuerkriminalität und sonstigen illegalen Finanzströmen aufgefordert wurde, mit der Erörterung der Möglichkeiten zur Bekämpfung von Gestaltungen zu beginnen, die dazu dienen, die Meldung im Rahmen des gemeinsamen Meldestandards zu umgehen, oder die darauf abzielen, wirtschaftlichen Eigentümern den Schutz durch nicht transparente Strukturen zu gewähren, auch unter Berücksichtigung von Mustervorschriften für verbindliche Offenlegungsregelungen auf Grundlage des Ansatzes zu Vermeidungsgestaltungen, der im Bericht über den Aktionspunkt 12 des BEPS-Projekts dargelegt ist.
…
(6) Die Meldung potenziell aggressiver grenzüberschreitender Steuerplanungsgestaltungen kann die Bemühungen zur Schaffung einer gerechten Besteuerung im Binnenmarkt nachhaltig unterstützen. Hier würde die Verpflichtung der Intermediäre, die Steuerbehörden … zu informieren, … einen Schritt in die richtige Richtung darstellen. …
…
(8) Um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten und Schlupflöcher in den vorgeschlagenen Rahmenvorschriften zu vermeiden, sollten alle Akteure, die normalerweise an der Konzeption, Vermarktung, Organisation oder Verwaltung der Umsetzung einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Transaktion oder einer Reihe solcher Transaktionen beteiligt sind, sowie alle, die Unterstützung oder Beratung leisten, zur Meldung verpflichtet sein. Es darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass in bestimmten Fällen die Meldepflicht eines Intermediärs aufgrund einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht nicht durchsetzbar ist oder gar kein Intermediär vorhanden ist, weil beispielsweise der Steuerpflichtige eine Steuerplanungsgestaltung selbst konzipiert und umsetzt. Es wäre äußerst wichtig, dass die Steuerbehörden in solchen Fällen weiterhin die Möglichkeit haben, Informationen über Steuergestaltungen zu erhalten, die potenziell mit aggressiver Steuerplanung verbunden sind. Hierfür müsste die Meldepflicht auf den Steuerpflichtigen verlagert werden, der in diesen Fällen von der Gestaltung profitiert.
(9) Aggressive Steuerplanungsgestaltungen haben sich über Jahre hinweg entwickelt, sind immer komplexer geworden und unterliegen ständigen Änderungen und Anpassungen, mit denen auf Gegenmaßnahmen der Steuerbehörden reagiert wird. Angesichts dessen wäre es wirksamer, potenziell aggressive Steuerplanungsgestaltungen durch die Zusammenstellung einer Liste von Merkmalen und Elementen von Transaktionen zu erfassen, die stark auf Steuervermeidung oder Steuermissbrauch hindeuten, anstatt den Begriff der aggressiven Steuerplanung zu definieren. Diese Merkmale werden als ,Kennzeichen‘ bezeichnet.
…
(18) Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta … anerkannt wurden.“
Die geänderte Richtlinie 2011/16
5 Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der geänderten Richtlinie 2011/16 bestimmt:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:
1. ,zuständige Behörde‘ eines Mitgliedstaats die Behörde, die als solche von diesem Mitgliedstaat benannt worden ist. Ein zentrales Verbindungsbüro, eine Verbindungsstelle oder ein zuständiger Bediensteter, die gemäß dieser Richtlinie tätig werden, gelten bei Bevollmächtigung gemäß Artikel 4 ebenfalls als zuständige Behörde;
…
18. ‚grenzüberschreitende Gestaltungen‘ eine Gestaltung, die entweder mehr als einen Mitgliedstaat oder einen Mitgliedstaat und ein Drittland betrifft, wobei mindestens eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:
a) Nicht alle an der Gestaltung Beteiligten sind im selben Hoheitsgebiet steuerlich ansässig;
b) einer oder mehrere der an der Gestaltung Beteiligten ist/sind gleichzeitig in mehreren Hoheitsgebieten steuerlich ansässig;
c) einer oder mehrere der an der Gestaltung Beteiligten übt/üben in einem anderen Hoheitsgebiet über eine dort gelegene Betriebsstätte eine Geschäftstätigkeit aus, und die Gestaltung stellt...
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