TU and RE v Google LLC.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:962
Date08 December 2022
Docket NumberC-460/20
Celex Number62020CJ0460
CourtCourt of Justice (European Union)
62020CJ0460

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

8. Dezember 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Richtlinie 95/46/EGArt. 12 Buchst. b – Art. 14 Abs. 1 Buchst. a – Verordnung (EU) 2016/679 – Art. 17 Abs. 3 Buchst. a – Betreiber einer Internetsuchmaschine – Anhand des Namens einer Person durchgeführte Suche – Anzeige eines Links zu angeblich unrichtige Informationen enthaltenden Artikeln in der Übersicht der Ergebnisse einer Suche – Anzeige der diese Artikel bebildernden Fotos in Gestalt von Vorschaubildern (thumbnails) in der Übersicht der Ergebnisse einer Bildersuche – An den Betreiber der Suchmaschine gerichteter Auslistungsantrag – Abwägung der Grundrechte – Art. 7, 8, 11 und 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Verpflichtungen und Verantwortungsbereich des Betreibers der Suchmaschine bei der Bearbeitung eines Auslistungsantrags – Beweislast der die Auslistung begehrenden Person“

In der Rechtssache C‑460/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 27. Juli 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 24. September 2020, in dem Verfahren

TU,

RE

gegen

Google LLC

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos und P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi und des Kammerpräsidenten D. Gratsias, der Richter M. Ilešič (Berichterstatter), F. Biltgen, N. Piçarra, N. Jääskinen und N. Wahl, der Richterin I. Ziemele und des Richters J. Passer,

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Januar 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von TU und RE, vertreten durch Rechtsanwälte M. Siegmann und T. Stöber,

der Google LLC, vertreten durch Rechtsanwältinnen B. Heymann und J. Spiegel sowie Rechtsanwalt J. Wimmers,

der griechischen Regierung, vertreten durch S. Charitaki, A. Magrippi und M. Tassopoulou als Bevollmächtigte,

der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Kunnert, A. Posch und J. Schmoll als Bevollmächtigte,

der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane und L. Liţu als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Bouchagiar, F. Erlbacher, H. Kranenborg und D. Nardi als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. April 2022

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1, im Folgenden: DSGVO) sowie von Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31) unter Berücksichtigung der Art. 7, 8, 11 und 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen TU und RE auf der einen und der Google LLC auf der anderen Seite über das Begehren, dass zum einen Artikel, in denen TU und RE identifiziert sind, aus den Ergebnissen einer anhand ihrer Namen durchgeführten Suche ausgelistet werden, und zum anderen Fotos, die TU und RE darstellen und in Gestalt von Vorschaubildern („thumbnails“) angezeigt werden, in den Ergebnissen einer Bildersuche gelöscht werden.

Rechtlicher Rahmen

Richtlinie 95/46

3

Art. 1 („Gegenstand der Richtlinie“) Abs. 1 der Richtlinie 95/46 sah vor:

„Die Mitgliedstaaten gewährleisten nach den Bestimmungen dieser Richtlinie den Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten und insbesondere den Schutz der Privatsphäre natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten.“

4

Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 95/46 bestimmte:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

a)

‚personenbezogene Daten‘ alle Informationen über eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person (‚betroffene Person‘); …

b)

‚Verarbeitung personenbezogener Daten‘ (‚Verarbeitung‘) jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten …;

d)

‚für die Verarbeitung Verantwortlicher‘ die natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder jede andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet. …

…“

5

Art. 6 der Richtlinie 95/46 in Abschnitt I („Grundsätze in Bezug auf die Qualität der Daten“) ihres Kapitels II lautete:

„(1) Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass personenbezogene Daten

d)

sachlich richtig und, wenn nötig, auf den neuesten Stand gebracht sind; es sind alle angemessenen Maßnahmen zu treffen, damit im Hinblick auf die Zwecke, für die sie erhoben oder weiterverarbeitet werden, nichtzutreffende oder unvollständige Daten gelöscht oder berichtigt werden;

…“

6

Art. 12 („Auskunftsrecht“) der Richtlinie 95/46 in Abschnitt V („Auskunftsrecht der betroffenen Person“) ihres Kapitels II lautete:

„Die Mitgliedstaaten garantieren jeder betroffenen Person das Recht, vom für die Verarbeitung Verantwortlichen Folgendes zu erhalten:

b)

je nach Fall die Berichtigung, Löschung oder Sperrung von Daten, deren Verarbeitung nicht den Bestimmungen dieser Richtlinie entspricht, insbesondere wenn diese Daten unvollständig oder unrichtig sind;

…“

7

Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 95/46 in Abschnitt VII („Widerspruchsrecht der betroffenen Person“) ihres Kapitels II sah vor:

„Die Mitgliedstaaten erkennen das Recht der betroffenen Person an,

a)

zumindest in den Fällen von Artikel 7 Buchstaben e) und f) jederzeit aus überwiegenden, schutzwürdigen, sich aus ihrer besonderen Situation ergebenden Gründen dagegen Widerspruch einlegen zu können, dass sie betreffende Daten verarbeitet werden; dies gilt nicht bei einer im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen entgegenstehenden Bestimmung. Im Fall eines berechtigten Widerspruchs kann sich die vom für die Verarbeitung Verantwortlichen vorgenommene Verarbeitung nicht mehr auf diese Daten beziehen;

…“

DSGVO

8

Gemäß Art. 94 Abs. 1 der DSGVO hob diese Verordnung die Richtlinie 95/46 mit Wirkung vom 25. Mai 2018 auf. Nach ihrem Art. 99 Abs. 2 gilt die DSGVO seit diesem Zeitpunkt.

9

In den Erwägungsgründen 4, 39 und 65 der DSGVO heißt es:

„(4)

Die Verarbeitung personenbezogener Daten sollte im Dienste der Menschheit stehen. Das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten ist kein uneingeschränktes Recht; es muss im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte abgewogen werden. Diese Verordnung steht im Einklang mit allen Grundrechten und achtet alle Freiheiten und Grundsätze, die mit der Charta anerkannt wurden und in den Europäischen Verträgen verankert sind, insbesondere Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Kommunikation, Schutz personenbezogener Daten, Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, unternehmerische Freiheit, Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren und Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.

(39)

… Es sollten alle vertretbaren Schritte unternommen werden, damit unrichtige personenbezogene Daten gelöscht oder berichtigt werden. …

(65)

Eine betroffene Person sollte ein Recht auf Berichtigung der sie betreffenden personenbezogenen Daten besitzen sowie ein ‚Recht auf Vergessenwerden‘, wenn die Speicherung ihrer Daten gegen diese Verordnung oder gegen das Unionsrecht oder das Recht der Mitgliedstaaten, dem der Verantwortliche unterliegt, verstößt. … Die weitere Speicherung der personenbezogenen Daten sollte jedoch rechtmäßig sein, wenn dies für die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Information … erforderlich ist.“

10

Art. 4 („Begriffsbestimmungen“) der DSGVO in ihrem Kapitel I („Allgemeine Bestimmungen“) lautet:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:

1.

‚personenbezogene Daten‘ alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person (im Folgenden ‚betroffene Person‘) beziehen; …

2.

‚Verarbeitung‘ jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten …;

7.

‚Verantwortlicher‘ die natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet; …

…“

11

Art. 5 („Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten“) der DSGVO in ihrem Kapitel II („Grundsätze“) bestimmt:

„(1) Personenbezogene Daten müssen

d)

sachlich richtig und erforderlichenfalls auf...

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