UX contra Governo della Repubblica italiana.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2020:572
Celex Number62018CJ0658
Docket NumberC-658/18
Date16 July 2020
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

16. Juli 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zulässigkeit – Art. 267 AEUV – Begriff ,einzelstaatliches Gericht‘ – Kriterien – Sozialpolitik – Richtlinie 2003/88/EG – Anwendungsbereich – Art. 7 – Bezahlter Jahresurlaub – Richtlinie 1999/70/EG – EGB-UNICE‑CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge – Paragrafen 2 und 3 – Begriff ,befristet beschäftigter Arbeitnehmer‘ – Friedensrichter und ordentliche Richter – Unterschiedliche Behandlung – Paragraf 4 – Grundsatz der Nichtdiskriminierung – Begriff ,sachliche Gründe‘“

In der Rechtssache C‑658/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Giudice di pace di Bologna (Friedensrichter Bologna, Italien) mit Entscheidung vom 16. Oktober 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Oktober 2018, in dem Verfahren

UX

gegen

Governo della Repubblica italiana

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev (Berichterstatter) sowie der Richter P. G. Xuereb und T. von Danwitz,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. November 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von UX, vertreten durch G. Guida, F. Sisto, F. Visco und V. De Michele, avvocati,

– des Governo della Repubblica italiana, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. Fiandaca und F. Sclafani, avvocati dello Stato,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara und M. van Beek als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 23. Januar 2020

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 267 AEUV, Art. 31 Abs. 2 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), den Grundsatz der Haftung der Mitgliedstaaten für Verstöße gegen das Unionsrecht sowie die Auslegung von Art. 1 Abs. 3 und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9) und der Paragrafen 2 und 4 der am 18. März 1999 geschlossenen Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (im Folgenden: Rahmenvereinbarung) im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE‑CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (ABl. 1999, L 175, S. 43).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen UX und dem Governo della Repubblica italiana (italienische Regierung) über eine Forderung auf Ersatz des durch einen Verstoß des italienischen Staates gegen das Unionsrecht entstandenen Schadens.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 89/391/EWG

3 Art. 2 der Richtlinie 89/391/EWG des Rates vom 12. Juni 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit (ABl. 1989, L 183, S. 1) bestimmt die Tätigkeitsbereiche, die von dieser Richtlinie erfasst werden:

„(1) Diese Richtlinie findet Anwendung auf alle privaten oder öffentlichen Tätigkeitsbereiche (gewerbliche, landwirtschaftliche, kaufmännische, verwaltungsmäßige sowie dienstleistungs- oder ausbildungsbezogene, kulturelle und Freizeittätigkeiten usw.).

(2) Diese Richtlinie findet keine Anwendung, soweit dem Besonderheiten bestimmter spezifischer Tätigkeiten im öffentlichen Dienst, z. B. bei den Streitkräften oder der Polizei, oder bestimmter spezifischer Tätigkeiten bei den Katastrophenschutzdiensten zwingend entgegenstehen.

In diesen Fällen ist dafür Sorge zu tragen, dass unter Berücksichtigung der Ziele dieser Richtlinie eine größtmögliche Sicherheit und ein größtmöglicher Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer gewährleistet ist.“

Richtlinie 2003/88

4 Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2003/88 bestimmt in den Abs. 1 bis 3:

„(1) Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.

(2) Gegenstand dieser Richtlinie sind

a) … der Mindestjahresurlaub …

(3) Diese Richtlinie gilt unbeschadet ihrer Artikel 14, 17, 18 und 19 für alle privaten oder öffentlichen Tätigkeitsbereiche im Sinne des Artikels 2 der Richtlinie 89/391/EWG.

…“

5 Art. 7 („Jahresurlaub“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.

(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“

Richtlinie 1999/70

6 Der 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 1999/70 lautet:

„Bezüglich der in der Rahmenvereinbarung verwendeten, jedoch nicht genau definierten Begriffe überlässt es diese Richtlinie – wie andere im Sozialbereich erlassene Richtlinien, in denen ähnliche Begriffe vorkommen – den Mitgliedstaaten, diese Begriffe entsprechend ihrem nationalen Recht und/oder ihrer nationalen Praxis zu definieren, vorausgesetzt, diese Definitionen entsprechen inhaltlich der Rahmenvereinbarung.“

7 Nach Art. 1 dieser Richtlinie soll mit ihr „die zwischen den allgemeinen branchenübergreifenden Organisationen (EGB, UNICE und CEEP) geschlossene Rahmenvereinbarung …, die im Anhang enthalten ist, durchgeführt werden“.

8 Die Rahmenvereinbarung soll nach ihrem Paragraf 1 zum einen durch Anwendung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung die Qualität befristeter Arbeitsverhältnisse verbessern und zum anderen einen Rahmen schaffen, der den Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge oder ‑verhältnisse verhindert.

9 Paragraf 2 („Anwendungsbereich“) der Rahmenvereinbarung sieht vor:

„1. Diese Vereinbarung gilt für befristet beschäftigte Arbeitnehmer mit einem Arbeitsvertrag oder ‑verhältnis gemäß der gesetzlich, tarifvertraglich oder nach den Gepflogenheiten in jedem Mitgliedstaat geltenden Definition.

2. Die Mitgliedstaaten, nach Anhörung der Sozialpartner, und/oder die Sozialpartner können vorsehen, dass diese Vereinbarung nicht gilt für:

a) Berufsausbildungsverhältnisse und Auszubildendensysteme/Lehrlingsausbildungssysteme;

b) Arbeitsverträge und ‑verhältnisse, die im Rahmen eines besonderen öffentlichen oder von der öffentlichen Hand unterstützten beruflichen Ausbildungs‑, Eingliederungs- oder Umschulungsprogramms abgeschlossen wurden.“

10 In Paragraf 3 („Definitionen“) der Rahmenvereinbarung heißt es:

„Im Sinne dieser Vereinbarung ist:

1. ‚befristet beschäftigter Arbeitnehmer‘ eine Person mit einem direkt zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer geschlossenen Arbeitsvertrag oder ‑verhältnis, dessen Ende durch objektive Bedingungen wie das Erreichen eines bestimmten Datums, die Erfüllung einer bestimmten Aufgabe oder das Eintreten eines bestimmten Ereignisses bestimmt wird.

2. ‚vergleichbarer Dauerbeschäftigter‘ ein Arbeitnehmer desselben Betriebs mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag oder ‑verhältnis, der in der gleichen oder einer ähnlichen Arbeit/Beschäftigung tätig ist, wobei auch die Qualifikationen/Fertigkeiten angemessen zu berücksichtigen sind. …“

11 Paragraf 4 („Grundsatz der Nichtdiskriminierung“) der Rahmenvereinbarung sieht vor:

„1. Befristet beschäftig[t]e Arbeitnehmer dürfen in ihren Beschäftigungsbedingungen nur deswegen, weil für sie ein befristeter Arbeitsvertrag oder ein befristetes Arbeitsverhältnis gilt, gegenüber vergleichbaren Dauerbeschäftigten nicht schlechter behandelt werden, es sei denn, die unterschiedliche Behandlung ist aus sachlichen Gründen gerechtfertigt.

2. Es gilt, wo dies angemessen ist, der Pro-rata-temporis-Grundsatz. …“

Italienisches Recht

12 Art. 106 der italienischen Verfassung enthält grundlegende Bestimmungen über den Zugang zum Richteramt:

„Die Bestellung der Richter findet durch Wettbewerb statt.

Das Gesetz über die Gerichtsverfassung kann die Bestellung von ehrenamtlichen [onorari] Richtern, auch mittels Wahl, für alle einzelnen Richtern zustehenden Aufgaben gestatten.

…“

13 Die Legge n. 374, Istituzione del giudice di pace (Gesetz Nr. 374, Errichtung des Friedensgerichts) vom 21. November 1991 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 278 vom 27. November 1991, S. 5, im Folgenden: Gesetz Nr. 374/1991) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung bestimmt:

„Art. 1

Errichtung und Aufgaben des Friedensgerichts

(1) Es werden Friedensgerichte errichtet, welche die Gerichtsbarkeit in Zivilsachen und in Strafsachen sowie die Schlichtungstätigkeit in Zivilsachen gemäß den Vorschriften dieses Gesetzes ausüben.

(2) Das Amt des Friedensrichters wird von einem ehrenamtlichen Richter bekleidet, der dem Richterstand zugezählt wird.

Art. 3

Gesamtstellenplan und Stellenplan der Ämter des Friedensgerichts

(1) Der Gesamtstellenplan für die den Friedensgerichtsämtern zuzuteilenden ehrenamtlichen Richter umfasst 4 700 Stellen; …

Art. 4

Bestellung zum Amt

(1) Die ehrenamtlichen Richter, die berufen werden, das Amt eines Friedensrichters zu bekleiden, werden durch Dekret des Präsidenten der Republik bestellt, und zwar aufgrund eines Beschlusses des Obersten Rates für das Gerichtswesen, der auf Vorschlag des örtlich zuständigen Gerichtsrats, der durch fünf von den Ausschüssen der Rechtsanwaltskammer des Oberlandesgerichtssprengels einvernehmlich bezeichnete Vertreter ergänzt wird, ergeht.

Art. 10

Pflichten und Disziplinaraufsicht

(1) Ein ehrenamtlicher Richter, welcher die Tätigkeit eines Friedensrichters ausübt, ist verpflichtet, die für die ordentlichen Richter vorgesehenen Pflichten zu beachten. …

Art. 11

Dem Friedensrichter zustehende Entschädigungen

(1) Das Amt des Friedensrichters ist ein Ehrenamt.

(2) Die ehrenamtlichen Richter, die das Amt des...

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