Staatsanwaltschaft Berlin v M.N.

JurisdictionEuropean Union
Date30 April 2024
CourtCourt of Justice (European Union)

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

30. April 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2014/41/EU – Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen – Erlangung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden – Voraussetzungen für den Erlass – Dienst zur Verschlüsselung von Telekommunikation – EncroChat – Erforderlichkeit einer gerichtlichen Entscheidung – Verwertung von unter Verstoß gegen das Unionsrecht erlangten Beweismitteln“

In der Rechtssache C‑670/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Berlin (Deutschland) mit Beschluss vom 19. Oktober 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Oktober 2022, in der Strafsache gegen


M. N.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, T. von Danwitz und Z. Csehi, der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei sowie der Richter M. Ilešič, J.‑C. Bonichot, I. Jarukaitis, A. Kumin und D. Gratsias, der Richterin M. L. Arastey Sahún und des Richters M. Gavalec,


Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter, und K. Hötzel, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juli 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Staatsanwaltschaft Berlin, vertreten durch R. Pützhoven und J. Raupach als Bevollmächtigte,

– von M. N., vertreten durch Rechtsanwalt S. Conen,

– der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, P. Busche und M. Hellmann als Bevollmächtigte,

– der tschechischen Regierung, vertreten durch L. Halajová, M. Smolek und T. Suchá als Bevollmächtigte,

– der estnischen Regierung, vertreten durch M. Kriisa als Bevollmächtigte,

– von Irland, vertreten durch M. Browne, Chief State Solicitor, M. A. Joyce und D. O’Reilly als Bevollmächtigte im Beistand von D. Fennelly, BL,

– der spanischen Regierung, vertreten durch A. Gavela Llopis und A. Pérez-Zurita Gutiérrez als Bevollmächtigte,

– der französischen Regierung, vertreten durch G. Bain und R. Bénard, B. Dourthe, B. Fodda und T. Stéhelin als Bevollmächtigte,

– der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér als Bevollmächtigten,

– der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, A. Hanje und J. Langer als Bevollmächtigte,

– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

– der schwedischen Regierung, vertreten durch F.‑L. Göransson und H. Shev als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Leupold, M. Wasmeier und F. Wilman als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 26. Oktober 2023

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. c, Art. 6 Abs. 1 und Art. 31 der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (ABl. 2014, L 130, S. 1) sowie der Grundsätze der Äquivalenz und der Effizienz.

2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen M. N. und betrifft die Rechtmäßigkeit dreier von der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main (Deutschland) (im Folgenden: Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt) erlassener Europäischer Ermittlungsanordnungen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2002/58/EG

3Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) (ABl. 2002, L 201, S. 37) sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten können Rechtsvorschriften erlassen, die die Rechte und Pflichten gemäß Artikel 5, Artikel 6, Artikel 8 Absätze 1, 2, 3 und 4 sowie Artikel 9 dieser Richtlinie beschränken, sofern eine solche Beschränkung gemäß Artikel 13 Absatz 1 der Richtlinie 95/46/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31)] für die nationale Sicherheit (d. h. die Sicherheit des Staates), die Landesverteidigung, die öffentliche Sicherheit sowie die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten oder des unzulässigen Gebrauchs von elektronischen Kommunikationssystemen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, angemessen und verhältnismäßig ist. … Alle in diesem Absatz genannten Maßnahmen müssen den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts einschließlich den in Artikel 6 Absätze 1 und 2 [EUV] niedergelegten Grundsätzen entsprechen.“

Richtlinie 2014/41

4 In den Erwägungsgründen 2, 5 bis 8, 19 und 30 der Richtlinie 2014/41 heißt es:

„(2) Nach Artikel 82 Absatz 1 [AEUV] beruht die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der [Europäischen] Union auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen, der seit der Tagung des Europäischen Rates vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere allgemein als Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union bezeichnet wird.

(5) Seit Annahme der Rahmenbeschlüsse [2003/577/JI des Rates vom 22. Juli 2003 über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Europäischen Union (ABl. 2003, L 196, S. 45)] und [2008/978/JI des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen (ABl. 2008, L 350, S. 72)] ist deutlich geworden, dass der bestehende Rahmen für die Erhebung von Beweismitteln zu fragmentiert und zu kompliziert ist. Daher ist ein neuer Ansatz erforderlich.

(6) In dem vom Europäischen Rat vom 10./11. Dezember 2009 angenommenen Stockholmer Programm hat der Europäische Rat die Auffassung vertreten, dass die Einrichtung eines umfassenden Systems für die Beweiserhebung in Fällen mit grenzüberschreitenden Bezügen, das auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung basiert, weiterverfolgt werden sollte. Dem Europäischen Rat zufolge stellten die bestehenden Rechtsinstrumente auf diesem Gebiet eine lückenhafte Regelung dar und bedurfte es eines neuen Ansatzes, der auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruht, aber auch der Flexibilität des traditionellen Systems der Rechtshilfe Rechnung trägt. Der Europäische Rat hat daher ein umfassendes System gefordert, das sämtliche bestehenden Instrumente in diesem Bereich ersetzen soll, unter anderem auch den Rahmenbeschluss 2008/978/JI, und das so weit wie möglich alle Arten von Beweismitteln erfasst, Vollstreckungsfristen enthält und das die Versagungsgründe so weit wie möglich beschränkt.

(7) Diesem neuen Ansatz liegt ein einheitliches Instrument zugrunde, das als Europäische Ermittlungsanordnung (im Folgenden [auch:] ,EEA‘) bezeichnet wird. Die EEA sollte zur Durchführung einer oder mehrerer spezifischer Ermittlungsmaßnahmen im Staat, in dem die EEA vollstreckt wird (im Folgenden ‚Vollstreckungsstaat‘) im Hinblick auf die Erhebung von Beweismitteln erlassen werden. Dies schließt auch die Erlangung von Beweismitteln ein, die sich bereits im Besitz der Vollstreckungsbehörde befinden.

(8) Die EEA sollte übergreifenden Charakter haben und sollte daher für alle Ermittlungsmaßnahmen gelten, die der Beweiserhebung dienen. Allerdings erfordern die Bildung einer gemeinsamen Ermittlungsgruppe und die Beweiserhebung im Rahmen einer solchen Gruppe spezifische Vorschriften, die besser getrennt geregelt werden. Unbeschadet der Anwendung dieser Richtlinie sollten die bestehenden Instrumente daher weiterhin auf diese Arten von Ermittlungsmaßnahmen Anwendung finden.

(19) Die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts innerhalb der Union beruht auf dem gegenseitigen Vertrauen sowie auf der Vermutung, dass andere Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die Grundrechte einhalten. Diese Vermutung ist jedoch widerlegbar. Wenn berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung einer in der EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahme einen Verstoß gegen ein Grundrecht der betreffenden Person zur Folge hätte und der Vollstreckungsstaat seine Verpflichtungen zum Schutz der in der Charta [der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta)] anerkannten Grundrechte nicht achten würde, so sollte die Vollstreckung der EEA verweigert werden.

(30) Die Möglichkeiten der Zusammenarbeit im Rahmen dieser Richtlinie über die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs sollten nicht auf den Inhalt des Telekommunikationsverkehrs beschränkt sein, sondern könnten sich auch auf die Erhebung von Verkehrs- und Standortdaten im Zusammenhang mit diesem Telekommunikationsverkehr erstrecken und es den zuständigen Behörden erlauben, eine EEA zu erlassen, um Telekommunikationsdaten zu erlangen, die mit einem geringeren Eingriff in die Privatsphäre verbunden sind. Eine EEA, die erlassen wurde, um historische Verkehrs- und Standortdaten zum Telekommunikationsverkehr zu erlangen, sollte im Rahmen der allgemeinen Regelung zur Vollstreckung einer EEA behandelt werden und kann gemäß dem nationalen Recht des Vollstreckungsstaats als invasive Ermittlungsmaßnahme betrachtet werden.“

5 Art. 1 („Die Europäische Ermittlungsanordnung und die Verpflichtung zu ihrer Vollstreckung“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1) Eine Europäische Ermittlungsanordnung … ist eine gerichtliche Entscheidung, die von einer Justizbehörde eines Mitgliedstaats (‚Anordnungsstaat‘) zur Durchführung einer oder mehrerer spezifischer Ermittlungsmaßnahme(n) in einem anderen Mitgliedstaat (‚Vollstreckungsstaat‘) zur Erlangung von Beweisen gemäß dieser Richtlinie erlassen oder validiert wird.

Die Europäische...

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