Veneziana Energia Risorse Idriche Territorio Ambiente Servizi SpA (Veritas) v European Commission.
Jurisdiction | European Union |
Date | 24 January 2024 |
Court | General Court (European Union) |
Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTS (Vierte Kammer)
24. Januar 2024(*)
„Zugang zu Dokumenten – Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 – Dokument, das im Rahmen eines EU-Pilotverfahrens zur Erstattung der Mehrwertsteuer übermittelt wurde – Aus einem Mitgliedstaat stammendes Dokument – Verweigerung des Zugangs – Vorherige Zustimmung des Mitgliedstaats – Ausnahme zum Schutz von Gerichtsverfahren – Begründungspflicht“
In der Rechtssache T‑602/22,
Veneziana Energia Risorse Idriche Territorio Ambiente Servizi SpA (Veritas) mit Sitz in Venedig (Italien), vertreten durch Rechtsanwalt A. Pasqualin,
Klägerin,
gegen
Europäische Kommission, vertreten durch A.‑C. Simon und A. Spina als Bevollmächtigte,
Beklagte,
unterstützt durch
Italienische Republik, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino, Avvocato dello Stato,
Streithelferin,
erlässt
DAS GERICHT (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten R. da Silva Passos, des Richters S. Gervasoni (Berichterstatter) und der Richterin N. Półtorak,
Kanzler: V. Di Bucci,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
aufgrund des Umstands, dass keine der Parteien innerhalb von drei Wochen nach Bekanntgabe des Abschlusses des schriftlichen Verfahrens die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt hat, und der Entscheidung gemäß Art. 106 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichts, ohne mündliches Verfahren zu entscheiden,
aufgrund des Beschlusses vom 20. September 2023, mit dem der Kommission aufgegeben wurde, das Dokument vorzulegen, zu dem sie der Klägerin den Zugang verweigert hatte, und auf die Vorlage dieses Dokuments durch die Kommission am 26. September 2023
folgendes
Urteil
1 Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV beantragt die Klägerin, Veneziana Energia Risorse Idriche Territorio Ambiente Servizi SpA (Veritas), die Nichtigerklärung der Entscheidung C(2022) 5221 final der Kommission vom 15. Juli 2022, mit der ihr der Zugang zu dem Schreiben der italienischen Behörden vom 17. Oktober 2019 verweigert wurde, das im Rahmen des EU-Pilotverfahrens 9456/19/TAXUD versandt wurde. Dieses Verfahren betrifft die Erstattung der Mehrwertsteuer, die zu Unrecht auf die italienische Umwelthygienegebühr (die durch Art. 49 des Decreto legislativo n. 22 [Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 22] vom 5. Februar 1997 eingeführte Tariffa di igiene ambientale, im Folgenden: TIAI-Gebühr) erhoben wurde.
Rechtlicher Rahmen
2 Art. 4 Abs. 2, 4 und 5 der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. 2001, L 145, S. 43) bestimmt:
„(2) Die Organe verweigern den Zugang zu einem Dokument, durch dessen Verbreitung Folgendes beeinträchtigt würde:
…
– der Schutz von Gerichtsverfahren und der Rechtsberatung,
…
es sei denn, es besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung.
…
(4) Bezüglich Dokumente Dritter konsultiert das Organ diese, um zu beurteilen, ob eine der Ausnahmeregelungen der Absätze 1 oder 2 anwendbar ist, es sei denn, es ist klar, dass das Dokument verbreitet werden muss bzw. nicht verbreitet werden darf.
(5) Ein Mitgliedstaat kann das Organ ersuchen, ein aus diesem Mitgliedstaat stammendes Dokument nicht ohne seine vorherige Zustimmung zu verbreiten.“
Vorgeschichte des Rechtsstreits
3 Das EU-Pilotverfahren ist ein Verfahren der Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten, das es der Kommission ermöglichen soll, sich eine Meinung darüber zu bilden, ob in einer bestimmten Frage das Unionsrecht in den Mitgliedstaaten beachtet und richtig angewandt wird. Diese ab 2008 an die Stelle der informellen Phase der vorprozessualen Phase eines Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Art. 258 AEUV getretene Art von Verfahren dient der effizienten Bereinigung etwaiger Verstöße gegen das Unionsrecht, indem nach Möglichkeit die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens vermieden wird, kann aber auch zur Einleitung eines solchen Verfahrens führen (vgl. Urteil vom 9. Oktober 2018, Pint/Kommission, T‑634/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:662, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
4 Im Rahmen des EU-Pilotverfahrens 9456/19/TAXUD, das im vorliegenden Fall insbesondere auf die Beschwerde der Klägerin hin eingeleitet wurde (im Folgenden: EU-Pilotverfahren), ersuchte die Kommission die italienischen Behörden um Klarstellungen zu den Modalitäten der Erstattung der zu Unrecht auf die TIAI-Gebühr erhobenen Mehrwertsteuer.
5 Mit Schreiben vom 2. August 2021 teilte die Kommission der Klägerin mit, dass sie die Antwort der italienischen Behörden erhalten und beschlossen habe, kein Vertragsverletzungsverfahren wegen Nichtbeachtung des Unionsrechts durch diese Behörden einzuleiten.
6 Am 21. Oktober 2021 ersuchte die Klägerin die Kommission um eine Kopie der Antwort der italienischen Behörden, die im Schreiben vom 2. August 2021 zusammengefasst war.
7 Die Kommission antwortete mit Schreiben vom 15. November 2021 (im Folgenden: ursprüngliche Antwort). Sie stellte zunächst fest, dass es sich bei dem angeforderten Dokument um das Schreiben der italienischen Behörden vom 17. Oktober 2019 handele, das im Rahmen des EU-Pilotverfahrens versandt worden sei, und verweigerte sodann den Zugang dazu mit der Begründung, dass seine Verbreitung den Schutz in Italien anhängiger Gerichtsverfahren nach Art. 4 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001 beeinträchtigen würde.
8 Am 30. November 2021 richtete die Klägerin einen Zweitantrag an die Kommission und ersuchte sie um eine Überprüfung ihres Standpunkts.
9 Am 15. Juli 2022 bestätigte die Kommission die Verweigerung des Zugangs zum Schreiben der italienischen Behörden vom 17. Oktober 2019, nachdem diese gemäß Art. 4 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1049/2001 seiner Verbreitung widersprochen hatten, auf der Grundlage der in Art. 4 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich vorgesehenen Ausnahme vom Zugangsrecht (im Folgenden: angefochtene Entscheidung).
Anträge der Parteien
10 Die Klägerin beantragt,
– der Kommission als prozessleitende Maßnahme aufzugeben, das Schreiben der italienischen Behörden vom 17. Oktober 2019 vorzulegen;
– der Kommission als prozessleitende Maßnahme aufzugeben, die Antwort dieser Behörden auf ihre Konsultation vor Erlass der angefochtenen Entscheidung vorzulegen;
– jegliche etwaige andere für sachdienlich erachtete prozessleitende Maßnahme anzuordnen;
– die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären;
– der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
11 Nachdem die Kommission als Anlage zur Klagebeantwortung ihren auf die ursprüngliche Antwort und den Zweitantrag der Klägerin folgenden Schriftwechsel mit den italienischen Behörden übermittelt hatte, hat die Klägerin ihren Antrag auf Vorlage der Antwort der italienischen Behörden auf die dem Zweitantrag vorausgehende Antwort (siehe oben, Rn. 10 zweiter Gedankenstrich) beschränkt.
12 Die Kommission beantragt,
– die Klage abzuweisen;
– der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
13 Die Italienische Republik beantragt, die Klage abzuweisen.
Rechtliche Würdigung
14 Die Klägerin stützt ihre Klage auf zwei Klagegründe. Mit dem ersten Klagegrund macht sie im Wesentlichen einen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1049/2001 und die Begründungspflicht geltend. Mit dem zweiten Klagegrund rügt sie im Wesentlichen einen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Verordnung in Verbindung mit Abs. 5 dieses Artikels, die Pflicht zur sorgfältigen Prüfung und die Begründungspflicht.
Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 4 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1049/2001 und die Begründungspflicht
15 Die Klägerin macht erstens geltend, dass sie nicht feststellen könne, welches Verfahren angewandt worden sei und ob dies zu Recht erfolgt sei, weil die ursprüngliche Antwort keinen Hinweis auf Art. 4 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1049/2001 und den danach zulässigen Widerspruch der italienischen Behörden enthalte, die angefochtene Entscheidung diese Bestimmung und diesen Widerspruch aber erwähne, so dass sie einander widersprächen. In der Erwiderung erläutert die Klägerin, dass sie der Kommission nicht vorwerfe, dass die ursprüngliche Antwort und die angefochtene Entscheidung voneinander abwichen, sondern dass diese Entscheidung unrichtig sei, da darin fälschlicherweise angegeben worden sei, dass die ursprüngliche Antwort auf Art. 4 Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 5 der Verordnung Nr. 1049/2001 gestützt gewesen sei.
16 Die Klägerin leitet daraus zweitens ab, dass eine umfassende Prüfung des Antrags auf Zugang erforderlich sei, weil sich aus dem Verfahren vor der Kommission keine frühere Willensäußerung der italienischen Behörden ergebe. Anders verhalte es sich im Fall des tatsächlichen Widerspruchs eines Mitgliedstaats, in dem nach der Rechtsprechung eine Prima-facie-Prüfung des Widerspruchs durch die Kommission zulässig sei. Vorliegend habe die Kommission jedoch die eingehende Prüfung und die eigenständige Beurteilung, die erforderlich seien, weil die italienischen Behörden von der in Art. 4 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1049/2001 vorgesehenen Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht hätten, nicht vorgenommen.
17 Als Erstes ist zum Vorwurf eines Verstoßes gegen die Begründungspflicht festzustellen, dass sich die Klägerin in Wirklichkeit darauf beschränkt, geltend zu machen, dass sich die Kommission zu Unrecht auf Art. 4 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1049/2001 berufen habe.
18 Bei der Begründungspflicht handelt es sich nämlich um ein wesentliches Formerfordernis, das von der Stichhaltigkeit der Begründung zu unterscheiden ist, die zur materiellen Rechtmäßigkeit des streitigen Rechtsakts gehört (Urteile vom 22. März 2001, Frankreich/Kommission, C‑17/99, EU:C:2001:178, Rn. 35, und vom 15. September 2016, Philip Morris/Kommission, T‑796/14, EU:T:2016:483, Rn. 28). Ein Rechtsakt ist im Sinne der förmlichen Begründungspflicht unzureichend begründet, wenn er nicht erkennen lässt, warum, auf welcher...
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