Vicente v Delia.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:720
Date22 September 2022
Docket NumberC-335/21
Celex Number62021CJ0335
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

22. September 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen – Richtlinie 93/13/EWG – Unlautere Geschäftspraktiken gegenüber Verbrauchern – Effektivitätsgrundsatz – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Summarisches Verfahren zur Vollstreckung von Anwaltshonoraren – Etwaige Missbräuchlichkeit von Klauseln in einer Honorarvereinbarung – Nationale Regelung, die keine Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle vorsieht – Art. 4 Abs. 2 – Reichweite der Ausnahme – Richtlinie 2005/29/EG – Art. 7 – Irreführende Geschäftspraxis – Vertrag zwischen einem Rechtsanwalt und seinem Mandanten, der es dem Mandanten unter Androhung einer finanziellen Sanktion untersagt, seine Klage ohne Wissen oder gegen den Rat des Rechtsanwalts zurückzunehmen“

In der Rechtssache C‑335/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de Primera Instancia n° 10 bis de Sevilla (Gericht erster Instanz Nr. 10a von Sevilla, Spanien) mit Entscheidung vom 24. Mai 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Mai 2021, in dem Verfahren

Vicente

gegen

Delia

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten S. Rodin, des Richters J.‑C. Bonichot und der Richterin O. Spineanu-Matei (Berichterstatterin),

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der spanischen Regierung, vertreten durch I. Herranz Elizalde als Bevollmächtigten,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Baquero Cruz und N. Ruiz García als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29) in der durch die Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 (ABl. 2011, L 304, S. 64) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 93/13) und der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) (ABl. 2005, L 149, S. 22, berichtigt in ABl. 2009, L 253, S. 18).

2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Rechtsanwalt Vicente und Frau Delia, seiner Mandantin, infolge der Nichtzahlung des Honorars, das für an Frau Delia erbrachte juristische Dienstleistungen verlangt wird.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 93/13

3 In den Erwägungsgründen 21 und 24 der Richtlinie 93/13 heißt es:

„Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass in von einem Gewerbetreibenden mit Verbrauchern abgeschlossenen Verträgen keine missbräuchlichen Klauseln verwendet werden. …

Die Gerichte oder Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten müssen über angemessene und wirksame Mittel verfügen, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln in Verbraucherverträgen ein Ende gesetzt wird …“

4 Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:

„Eine Vertragsklausel, die nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde, ist als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.“

5 Art. 4 der Richtlinie bestimmt:

„(1) Die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel wird unbeschadet des Artikels 7 unter Berücksichtigung der Art der Güter oder Dienstleistungen, die Gegenstand des Vertrages sind, aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie aller anderen Klauseln desselben Vertrages oder eines anderen Vertrages, von dem die Klausel abhängt, zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses beurteilt.

(2) Die Beurteilung der Missbräuchlichkeit der Klauseln betrifft weder den Hauptgegenstand des Vertrages noch die Angemessenheit zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und den Dienstleistungen bzw. den Gütern, die die Gegenleistung darstellen, sofern diese Klauseln klar und verständlich abgefasst sind.“

6 Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“

7 Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.“

Richtlinie 2005/29

8 Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie 2005/29 bestimmt:

„Unlautere Geschäftspraktiken sind insbesondere solche, die

a) irreführend im Sinne der Artikel 6 und 7

oder

b) aggressiv im Sinne der Artikel 8 und 9 sind.“

9 Art. 7 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie sieht vor:

„(1) Eine Geschäftspraxis gilt als irreführend, wenn sie im konkreten Fall unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände und der Beschränkungen des Kommunikationsmediums wesentliche Informationen vorenthält, die der durchschnittliche Verbraucher je nach den Umständen benötigt, um eine informierte geschäftliche Entscheidung zu treffen, und die somit einen Durchschnittsverbraucher zu einer geschäftlichen Entscheidung veranlasst oder zu veranlassen geeignet ist, die er sonst nicht getroffen hätte.

(2) Als irreführende Unterlassung gilt es auch, wenn ein Gewerbetreibender wesentliche Informationen gemäß Absatz 1 unter Berücksichtigung der darin beschriebenen Einzelheiten verheimlicht oder auf unklare, unverständliche, zweideutige Weise oder nicht rechtzeitig bereitstellt oder wenn er den kommerziellen Zweck der Geschäftspraxis nicht kenntlich macht, sofern er sich nicht unmittelbar aus den Umständen ergibt, und dies jeweils einen Durchschnittsverbraucher zu einer geschäftlichen Entscheidung veranlasst oder zu veranlassen geeignet ist, die er ansonsten nicht getroffen hätte.“

Spanisches Recht

10 Das Honorarvollstreckungsverfahren ist in der Ley 1/2000 de Enjuiciamiento Civil (Gesetz 1/2000 über den Zivilprozess) vom 7. Januar 2000 (BOE Nr. 7 vom 8. Januar 2000, S. 575, im Folgenden: LEC) geregelt.

11 Art. 34 LEC, der die „Rechnung des Prozessbevollmächtigten“ betrifft, sah in Abs. 2 vor:

„Nachdem die Rechnung vorgelegt und vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle für zulässig befunden worden ist, fordert der Urkundsbeamte den Vollmachtgeber auf, den Rechnungsbetrag zu zahlen oder mit der Begründung, dass er nicht geschuldet sei, innerhalb einer Frist von zehn Tagen Widerspruch gegen die Rechnung zu erheben; hierbei weist der Urkundsbeamte darauf hin, dass die Vollstreckung von Amts wegen erfolgt, wenn der Vollmachtgeber weder zahlt noch Widerspruch erhebt.

Erhebt der Vollmachtgeber innerhalb der genannten Frist Widerspruch, so gewährt der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle dem Prozessbevollmächtigten eine Frist von drei Tagen, um zu dem Widerspruch Stellung zu nehmen. Anschließend prüft der Urkundsbeamte die Honorarrechnung und die Verfahrensakte sowie die vorgelegten Unterlagen und erlässt binnen zehn Tagen eine Verfügung, mit der er den dem Prozessbevollmächtigten zu zahlenden Betrag festsetzt und darauf hinweist, dass die Vollstreckung von Amts wegen erfolgt, sollte die Zahlung nicht binnen fünf Tagen nach der Zustellung bewirkt werden.

Die Verfügung nach dem vorstehenden Unterabsatz unterliegt keinem Rechtsmittel, greift jedoch einem möglicherweise in einem späteren ordentlichen Verfahren ergehenden Urteil nicht – auch nicht partiell – vor.“

12 Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 3 LEC wurde mit dem Urteil 34/2019 des Tribunal Constitucional (Verfassungsgerichtshof, Spanien) vom 14. März 2019 (BOE Nr. 90 vom 15. April 2019, S. 39549, im Folgenden: Urteil Nr. 34/2019) für verfassungswidrig und nichtig erklärt.

13 Art. 35 („Anwaltshonorare“) LEC bestimmte:

„1. Rechtsanwälte können gegenüber der Partei, die sie vertreten, die Zahlung der in der Rechtssache entstandenen Honorare einfordern, indem sie eine detaillierte Rechnung vorlegen und ausdrücklich erklären, dass ihnen diese Honorare geschuldet werden und noch nicht beglichen worden sind. …

2. Nach der Vorlage dieser Honorarforderung fordert der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle den Schuldner auf, den fraglichen Betrag zu zahlen oder innerhalb einer Frist von zehn Tagen Widerspruch gegen die Rechnung zu erheben, wobei er darauf hinweist, dass die Vollstreckung von Amts wegen erfolgt, wenn der Schuldner weder zahlt noch Widerspruch erhebt.

Wird innerhalb dieser Frist gegen die Honorare mit der Begründung Widerspruch eingelegt, sie seien nicht geschuldet, so ist nach Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 des vorstehenden Artikels vorzugehen.

Wird gegen die Honorare mit der Begründung Widerspruch eingelegt, sie seien überhöht, so gewährt der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle dem Rechtsanwalt eine Frist von drei Tagen, um zu dem Widerspruch Stellung zu nehmen. Lehnt der Rechtsanwalt es ab, die Honorarbeträge wie verlangt herabzusetzen, so nimmt der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle, sofern der Rechtsanwalt nicht das Vorliegen eines schriftlichen, vom...

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