Urteile nº T-279/02 of TGericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, April 05, 2006

Resolution DateApril 05, 2006
Issuing OrganizationTGericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften
Decision NumberT-279/02

„Wettbewerb – Artikel 81 EG – Kartelle – Markt für Methionin – Einzige und fortgesetzte Zuwiderhandlung – Geldbuße – Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen – Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung – Zusammenarbeit im Verwaltungsverfahren – Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 – Unschuldsvermutung“

In der Rechtssache T‑279/02

Degussa AG mit Sitz in Düsseldorf (Deutschland), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte R. Bechtold, M. Karl und C. Steinle,

Klägerin,

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch A. Bouquet und W. Mölls als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt H.‑J. Freund, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte,

unterstützt durch

Rat der Europäischen Union, vertreten durch E. Karlsson und S. Marquardt als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

wegen Nichtigerklärung der Entscheidung 2003/674/EG der Kommission vom 2. Juli 2002 in einem Verfahren nach Artikel 81 EG-Vertrag und Artikel 53 EWR-Abkommen (Sache C.37.519 – Methionin) (ABl. 2003, L 255, S. 1) und, hilfsweise, wegen Herabsetzung der mit dieser Entscheidung gegen die Klägerin festgesetzten Geldbuße

erlässt

DAS GERICHT ERSTER INSTANZDER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten M. Jaeger sowie der Richterin V. Tiili und des Richters O. Czúcz,

Kanzler: K. Andová, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. April 2005

folgendes

Urteil

Sachverhalt

1 Die Degussa AG (Düsseldorf) (im Folgenden: Degussa oder Klägerin) ist eine deutsche Gesellschaft, die im Jahr 2000 gegründet wurde, als sich SKW Trostberg und Degussa-Hüls, die ihrerseits im Jahr 1998 durch die Fusion der deutschen Chemieunternehmen Degussa AG (Frankfurt am Main) und Hüls AG (Marl) entstanden war, zusammenschlossen. Sie stellt u. a. Tierfutter her und bietet als einziges Unternehmen die drei wichtigsten essenziellen Aminosäuren Methionin, Lysin und Threonin aus einer Hand an.

2 Essenzielle Aminosäuren sind Aminosäuren, die vom Körper nicht selbst hergestellt werden können und die daher den Futtermitteln beigegeben werden müssen. Die erste Aminosäure, deren Fehlen die Eiweißsynthese anderer Aminosäuren unterbricht, wird als „erste unterbrechende Aminosäure“ bezeichnet. Methionin ist eine essenzielle Aminosäure, die den Vormischungen und dem Mischfutter für sämtliche Tierarten beigefügt wird. Hauptverwendungsgebiete sind Futter für Geflügel (für das es die erste unterbrechende Aminosäure darstellt) sowie zunehmend Schweinefutter und Spezialfuttermittel.

3 Methionin kommt in zwei Hauptformen vor: als DL-Methionin (im Folgenden: DLM) und als Hydroxyanalogmethionin (im Folgenden: HAM). DLM wird in Kristallform hergestellt und weist einen Aktivbestandteil von nahezu 100 % auf. Das vom Hersteller Monsanto, einem Vorläuferunternehmen der Novus International Inc., in den achtziger Jahren eingeführte HAM weist einen nominalen Aktivgehalt von 88 % auf. Es machte im Jahr 2002 rund 50 % des weltweiten Verbrauchs aus.

4 Im maßgebenden Zeitraum waren Rhône-Poulenc (heute Aventis SA), deren für die Herstellung von Methionin zuständige Tochtergesellschaft Rhône-Poulenc Animal Nutrition (heute Aventis Animal Nutrition SA) war, Degussa und Novus die drei weltweit größten Hersteller von Methionin. Rhône-Poulenc stellte Methionin in seinen beiden Formen her, während Degussa nur DLM und Novus nur HAM herstellte.

5 Am 26. Mai 1999 legte Rhône-Poulenc der Kommission eine Erklärung vor, in der sie eingestand, an einem Kartell zur Festsetzung der Preise und Verkaufsmengen für Methionin teilgenommen zu haben; gleichzeitig beantragte sie die Anwendung der Mitteilung der Kommission über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. 1996, C 207, S. 4, im Folgenden: Mitteilung über Zusammenarbeit).

6 Am 16. Juni 1999 führten Bedienstete der Kommission und Beamte des Bundeskartellamts nach dem zu dieser Zeit anwendbaren Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln [81] und [82] des Vertrages (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204), eine Nachprüfung in den Geschäftsräumen von Degussa-Hüls in Frankfurt am Main durch.

7 Im Anschluss an diese Nachprüfung richtete die Kommission in Bezug auf die dabei gefundenen Unterlagen am 27. Juli 1999 an Degussa-Hüls ein Auskunftsverlangen gemäß Artikel 11 der Verordnung Nr. 17. Degussa-Hüls antwortete darauf am 9. September 1999.

8 Die Kommission richtete zudem am 7. Dezember 1999 Auskunftsverlangen an die Nippon Soda Co. Ltd (im Folgenden: Nippon Soda), die Novus International Inc. (im Folgenden: Novus) und die Sumitomo Chemical Co. Ltd (im Folgenden: Sumitomo) und am 10. Dezember 1999 an die Mitsui & Co. Ltd. Die Antworten dieser Unternehmen gingen im Februar 2000 ein, und Nippon Soda legte am 16. Mai 2000 eine Zusatzerklärung vor.

9 Am 1. Oktober 2001 übersandte die Kommission fünf Herstellern von Methionin, darunter der Klägerin, eine Mitteilung der Beschwerdepunkte. Die gleiche Mitteilung wurde an Aventis Animal Nutrition (im Folgenden: AAN), eine 100%ige Tochtergesellschaft von Aventis, gerichtet.

10 In ihrer Mitteilung der Beschwerdepunkte legte die Kommission diesen Unternehmen zur Last, von 1986 bis, in der Mehrzahl der Fälle, Anfang 1999 an einer fortdauernden gegen Artikel 81 EG und Artikel 53 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (im Folgenden: EWR-Abkommen) verstoßenden Vereinbarung beteiligt gewesen zu sein, die sich auf das gesamte Gebiet des EWR erstreckt habe. Nach Ansicht der Kommission bestand die fragliche Vereinbarung in der Festsetzung der Preise für Methionin, der Schaffung eines Mechanismus für die Durchführung von Preiserhöhungen, der Zuteilung von nationalen Märkten und Marktanteilsquoten und einem Mechanismus zur Überwachung und Durchführung dieser Vereinbarungen.

11 Alle Beteiligten gaben schriftliche Erklärungen zur Mitteilung der Beschwerdepunkte der Kommission ab, wobei Aventis und AAN der Kommission mitteilten, dass sie nur eine Erwiderung für beide Unternehmen vorlegen würden.

12 Die Erwiderungen gingen bei der Kommission zwischen dem 10. und 18. Januar 2002 ein. Aventis und AAN (im Folgenden gemeinsam: Aventis/AAN) sowie Nippon Soda räumten die Zuwiderhandlung ein und gaben den Sachverhalt in vollem Umfang zu. Degussa räumte die Zuwiderhandlung ebenfalls ein, jedoch nur für den Zeitraum von 1992 bis 1997. Am 25. Januar 2002 fand eine Anhörung der betroffenen Unternehmen statt.

13 Am Ende des Verfahrens erließ die Kommission in der Erwägung, dass Aventis/AAN, Degussa und Nippon Soda an einer fortdauernden Vereinbarung und/oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweise beteiligt gewesen seien, die das gesamte Gebiet des EWR umfasst habe und mit der sie Zielpreise für Methionin und einen Mechanismus für die Durchführung von Preiserhöhungen vereinbart, Informationen über Absatzmengen und Marktanteile ausgetauscht sowie diese Vereinbarungen überwacht und durchgesetzt hätten, die Entscheidung 2003/674/EG vom 2. Juli 2002 in einem Verfahren nach Artikel 81 EG-Vertrag und Artikel 53 EWR-Abkommen (Sache C.37.519 – Methionin) (ABl. 2003, L 255, S. 1, im Folgenden: Entscheidung).

14 In den Randnummern 63 bis 81 der Entscheidung gab die Kommission als Ziel des Kartells die Vereinbarung von Preisspannen und „Tiefstpreisen“ an. Die Teilnehmer seien übereingekommen, dass eine Erhöhung ihrer Preise erforderlich sei, und hätten erörtert, was der Markt habe akzeptieren können. Daraufhin seien die Preiserhöhungen in mehreren aufeinanderfolgenden „Kampagnen“ durchgeführt worden, deren Verlauf bei den anschließenden Kartellzusammenkünften überprüft worden sei. Außerdem hätten die Teilnehmer Informationen über Verkaufsmengen und Produktionskapazitäten sowie ihre jeweiligen Schätzungen des Gesamtmarktvolumens ausgetauscht.

15 In Bezug auf die Umsetzung der Zielpreise führte die Kommission aus, dass die Verkäufe von den Teilnehmern überwacht sowie die mitgeteilten Zahlen zusammengestellt und bei regelmäßigen Zusammenkünften besprochen worden seien, ohne dass jedoch ein System der Verkaufsmengenüberwachung, flankiert durch eine Ausgleichsregelung, vorgelegen habe, obwohl Degussa einen entsprechenden Vorschlag gemacht habe. Regelmäßige multilaterale (mehr als 25 zwischen 1986 und 1999) und bilaterale Zusammenkünfte seien ein wesentliches Merkmal der Kartellführung gewesen. Sie hätten in „Gipfeltreffen“ und eher technisch ausgerichteten Zusammenkünften der Betriebs-/Verkaufsleiter bestanden.

16 Schließlich lasse sich die Durchführung des Kartells in drei getrennte Zeiträume untergliedern. Der erste Zeitraum, während dessen die Preise hoch gewesen seien, habe sich von Februar 1986 bis zum Jahr 1989 erstreckt und habe geendet, als Sumitomo aus dem Kartell ausgeschieden und Monsanto mit HAM in den Markt eingetreten sei. Während des zweiten Zeitraums, von 1989 bis 1991, seien die Preise dramatisch zurückgegangen. Bei den Kartellteilnehmern habe Unsicherheit über die beste Reaktion auf diese neue Lage geherrscht (Rückgewinnung von Marktanteilen oder Konzentration auf die Preise), und nach mehreren Zusammenkünften in den Jahren 1989 und 1990 seien sie zu dem Schluss gelangt, dass sie ihre Bemühungen auf die Erhöhung der Preise konzentrieren müssten. Im dritten und letzten Zeitraum von 1991 bis Februar 1999 habe die Zunahme der Verkäufe des von Monsanto (seit 1991 Novus) hergestellten HAM die Kartellteilnehmer veranlasst, vor allem das Preisniveau zu halten.

17 Die Entscheidung enthält u. a. folgende Bestimmungen:

„Artikel 1

Die gesamtschuldnerisch haftenden Aventis SA und [AAN], die Degussa AG und die Nippon Soda Company Ltd haben gegen Artikel 81 Absatz 1 EG-Vertrag sowie gegen Artikel 53 Absatz 1 EWR-Abkommen verstoßen, indem sie sich an einer Reihe von Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen beteiligt haben.

Die Zuwiderhandlung dauerte von Februar 1986 bis Februar 1999.

Artikel 3

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