Urteile nº T-217/03 of TGericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, December 13, 2006

Resolution DateDecember 13, 2006
Issuing OrganizationTGericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften
Decision NumberT-217/03

„Wettbewerb – Artikel 81 Absatz 1 EG – Rindfleisch – Aussetzung der Einfuhren – Von den Berufsverbänden festgesetzte Mindestpreise –Verordnung Nr. 26 – Unternehmensvereinigungen – Wettbewerbsbeschränkung – Aktionen der Berufsverbände – Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten – Begründungspflicht – Leitlinien für die Berechnung der Höhe der Geldbußen –Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung – Erschwerende und mildernde Umstände – Verbot der Doppelbestrafung – Verteidigungsrechte“

In den verbundenen Rechtssachen T‑217/03 und T‑245/03

Fédération nationale de la coopération bétail und viande (FNCBV) mit Sitz in Paris (Frankreich), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte R. Collin, M. Ponsard und N. Decker,

Klägerin in der Rechtssache T‑217/03,

Fédération nationale des syndicats d’exploitants agricoles (FNSEA) mit Sitz in Paris,

Fédération nationale bovine (FNB) mit Sitz in Paris,

Fédération nationale des producteurs de lait (FNPL) mit Sitz in Paris,

Jeunes agriculteurs (JA) mit Sitz in Paris,

Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte B. Neouze und V. Ledoux,

Klägerinnen in der Rechtssache T‑245/03,

unterstützt durch

Französische Republik, zunächst vertreten durch G. de Bergues, F. Million und R. Abraham, dann durch M. de Bergues, E. Belliard und S. Ramet als Bevollmächtigte,

Streithelferin,

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch P. Oliver, A. Bouquet und O. Beynet als Bevollmächtigte,

Beklagte,

wegen Nichtigerklärung der Entscheidung 2003/600/EG der Kommission vom 2. April 2003 in einem Verfahren nach Artikel 81 EG-Vertrag (Sache COMP/C.38.279/F3 – Viandes bovines françaises) (JO L 209, p. 12), hilfsweise wegen Nichtigerklärung oder Herabsetzung der mit dieser Entscheidung verhängten Geldbußen

erlässt

DAS GERICHT ERSTER INSTANZDER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten R. García-Valdecasas, des Richters J. D. Cooke und der Richterin I. Labucka,

Kanzler: E. Coulon,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. Mai 2006

folgendes

Urteil

Rechtlicher Rahmen

1 Artikel 1 der Verordnung Nr. 26 vom 4. April 1962 zur Anwendung bestimmter Wettbewerbsregeln auf die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse und den Handel mit diesen Erzeugnissen (ABl. 1962, 30, S. 993) bestimmt, dass die Artikel [81] bis [86] [EG] sowie die zu ihrer Anwendung ergangenen Bestimmungen vorbehaltlich des Artikels 2 auf alle in den Artikeln [81] Absatz 1 [EG] und [82] [EG] genannten Vereinbarungen, Beschlüsse und Verhaltensweisen bezüglich der Produktion der in Anhang [I] [des EG‑Vertrags] aufgeführten Erzeugnisse und den Handel mit diesen Anwendung finden. Zu diesen Erzeugnissen gehören u. a. Fleisch und genießbarer Schlachtabfall.

2 Artikel 2 Absatz 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Artikel [81] Absatz (1) [EG] gilt nicht für die in Artikel 1 genannten Vereinbarungen, Beschlüsse und Verhaltensweisen, die wesentlicher Bestandteil einer einzelstaatlichen Marktordnung sind oder zur Verwirklichung der Ziele des Artikels [33 EG] notwendig sind. Er gilt insbesondere nicht für Vereinbarungen, Beschlüsse und Verhaltensweisen von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben, Vereinigungen von landwirtschaftlichen Erzeugerbetrieben oder Vereinigungen von solchen Erzeugervereinigungen aus einem Mitgliedstaat, soweit sie ohne Preisbindung die Erzeugung oder den Absatz landwirtschaftlicher Erzeugnisse oder die Benutzung gemeinschaftlicher Einrichtungen für die Lagerung, Be‑ oder Verarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse betreffen, es sei denn, die Kommission stellt fest, dass dadurch der Wettbewerb ausgeschlossen wird oder die Ziele des Artikels [33 EG] gefährdet werden.“

Sachverhalt des Ausgangsverfahrens

3 Der Klägerin in der Rechtssache T‑217/03, der Fédération nationale de la coopération bétail et viande (FNCBV, nationaler Genossenschaftsverband für Viehzucht und Fleischerzeugung), gehören 300 Erzeugergenossenschaften von Rinder‑, Schweine‑ und Schafzuchtbetrieben sowie etwa 30 Schlacht‑ bzw. Fleischverarbeitungsbetriebe in Frankreich an.

4 Die Klägerinnen in der Rechtssache T‑245/03, die Fédération nationale des syndicats d’exploitants agricoles (FNSEA, nationaler Verband der landwirtschaftlichen Erzeugerbetriebe), die Fédération nationale bovine (FNB, nationaler Verband der Rinderzüchter), die Fédération nationale des producteurs de lait (FNPL, nationaler Verband der Milchproduzenten) und die Jeunes agriculteurs (JA, Jungbauern), sind Berufsverbände französischen Rechts. Die FNSEA ist der größte französische Bauernverband. Auf der untersten Stufe besteht sie aus Ortsverbänden, die in Fédérations bzw. Unions départementales des syndicats d'exploitants agricoles (FDSEA bzw. UDSEA, Zusammenschlüsse von Bauernverbänden auf Departementsebene) organisiert sind. Die Aktivitäten der FDSEA bzw. UDSEA werden auf regionaler Ebene von regionalen Verbänden koordiniert. Der FNSEA gehören außerdem 33 Fachverbände an, die die speziellen Interessen eines bestimmten Produktionszweigs vertreten; hierzu gehören die FNB und die FNPL, die beide die Vereinbarung vom 24. Oktober 2001 unterzeichneten. Die JA schließlich vertreten die jungen Landwirte unter 35 Jahren. Die Mitgliedschaft in der örtlichen Vereinigung der JA setzt die Mitgliedschaft im Ortsverband der FDSEA/UDSEA voraus.

I – Die zweite BSE-Krise

5 Ab Oktober 2000 wurden in mehreren Mitgliedstaaten neue Fälle von spongiformer Rinderenzephalopathie (BSE, so genannter Rinderwahnsinn) festgestellt. Zur gleichen Zeit wurden britische Schafherden von Maul‑ und Klauenseuche heimgesucht. Dies führte zu einem Vertrauensverlust seitens der Verbraucher, der in Europa Auswirkungen auf den Fleischkonsum im Allgemeinen hatte und u. a. den Rindfleischsektor in eine neue Krise stürzte. Tatsächlich ging der Fleischkonsum besonders in Frankreich stark zurück, und es kam zu einer beträchtlichen Verringerung der französischen Import‑ bzw. Exportvolumina. Desgleichen sanken die Produktionspreise für ausgewachsene Rinder in Frankreich deutlich, während die Endverbraucherpreise relativ stabil blieben.

6 Zur Überwindung dieser Krise ergriffen die Gemeinschaftsbehörden eine Reihe von Maßnahmen. So erweiterten sie den Anwendungsbereich der Interventionsmechanismen, die dazu dienen, bestimmte Mengen von Rindfleisch vom Markt zu nehmen, um das Angebot der Nachfrage anzupassen, und erließen eine Regelung über den Kauf lebender Tiere sowie eine Regelung über den Ankauf von Schlachtkörpern oder Schlachtkörperhälften im Rahmen von Ausschreibungen („Sonderankaufsregelung“). Außerdem ermächtigte die Kommission mehrere Mitgliedstaaten, darunter Frankreich, dem Rindfleischsektor Beihilfen zu gewähren.

7 Die französischen Landwirte hielten diese Maßnahmen jedoch für unzureichend. Im September und Oktober 2001 waren die Beziehungen zwischen Züchtern und Schlachthofbetreibern in Frankreich besonders gespannt. So hielten Gruppen von Züchtern rechtswidrig Lastwagen an, um den Ursprung der Fleischladungen zu überprüfen, und es wurden Schlachthöfe blockiert. Bisweilen kam es bei diesen Aktionen zur Zerstörung von Material und Fleisch. Als Voraussetzung für eine Aufhebung der Blockaden der Schlachthöfe forderten die demonstrierenden Landwirte die Schlachthofbetreiber auf, sich zu einer Aussetzung der Einfuhren und zur Anwendung von Mindestpreisen zu verpflichten, die von den Berufsverbänden festgesetzt wurden (Mindestpreisschema).

II – Abschluss der streitigen Vereinbarungen und Verwaltungsverfahren vor der Kommission

8 Im Oktober 2001 fanden mehrere Sitzungen der Verbände der Rinderzüchter (der Klägerinnen in der Rechtssache T‑245/03) und der Verbände der Schlachthofbetreiber (der Fédération nationale de l’industrie et des commerces en gros des viandes [FNICGV] und der Klägerin in der Rechtssache T‑217/03) statt. Das Treffen vom 24. Oktober 2001, das auf Vorschlag des französischen Landwirtschaftsministers abgehalten wurde, endete mit dem Abschluss einer Vereinbarung zwischen diesen sechs Verbänden, nämlich FNSA, FNB, FNPL, JA, FNCBV und FNICGV („Vereinbarung zwischen dem Verband der Züchter und dem Verband der Schlachthofbetreiber über die Mindestpreise – schlachtreife Kühe frei Schlachtstätte“).

9 Diese Vereinbarung enthielt zwei Teilaspekte. Der erste betraf eine „vorübergehende Verpflichtung zur Aussetzung der Einfuhren“, in der nicht nach Rindfleischarten unterschieden wurde. Der zweite betraf eine „Verpflichtung zur Anwendung der Mindestpreise frei Schlachtstätte beim Kauf von Schlachtkühen“ (d. h. von Kühen, die entweder zur Reproduktion oder zur Milchproduktion bestimmt sind) gemäß den in der Vereinbarung festgesetzten Modalitäten. So enthielt diese eine Liste mit Kilogrammpreisen für die Schlachtkörper bestimmter Kategorien von Kühen, und für die anderen Kategorien den zugrunde zu legenden Berechnungsmodus in Abhängigkeit von dem von den Gemeinschaftsbehörden festgesetzten Sonderankaufspreis. Die Vereinbarung sollte am 29. Oktober 2001 in Kraft treten und bis Ende November 2001 gelten.

10 Die Kommission richtete am 30 Oktober 2001 an die französischen Behörden ein Schreiben, in dem sie um Informationen über die Vereinbarung vom 24. Oktober 2001 bat.

11 Am 31. Oktober 2001 fand in Rungis (Frankreich) auf Anregung der FNICGV ein Treffen der Klägerinnen in der Rechtssache T‑245/03 und der FNICGV statt. Diese Verbände erzielten folgenden Kompromiss (im Folgenden: Rungis-Kompromiss):

„Sitzung ‚Importfleisch’

31. Oktober 2001 − Rungis

Die im Import-Export-Bereich spezialisierten französischen Unternehmen sind mit den Erzeugerverbänden (FNSEA, FNB, FNPL und [JA]), die die branchenübergreifende nationale Vereinbarung vom 24. Oktober 2001 unterzeichnet haben, zusammengetroffen.

Sie bekräftigen die zwingende Notwendigkeit der Wiederherstellung eines ausgewogenen Verhältnisses von Angebot und Nachfrage…

In der beispiellosen Krisensituation, in der sich die Erzeugerunternehmen befinden, bitten die...

To continue reading

Request your trial

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT