Urteile nº T-5/02 of TGericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, October 25, 2002

Resolution DateOctober 25, 2002
Issuing OrganizationTGericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften
Decision NumberT-5/02

URTEIL DES GERICHTS (Erste Kammer)

25. Oktober 2002(1) „Wettbewerb - Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 - Entscheidung, mit der ein Zusammenschluss für unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erklärt wird - Verteidigungsrechte - Horizontale und vertikale Auswirkungen - Voraussichtliche Konglomeratwirkungen - Hebelwirkung - Potenzieller Wettbewerb - Allgemeine Verstärkungswirkung“

In der Rechtssache T-5/02

Tetra Laval BV mit Sitz in Amsterdam (Niederlande), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte A. Vandencasteele, D. Waelbroeck, A. Weitbrecht und S. Völcker,

Klägerin,

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch A. Whelan und P. Hellström als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte,

wegen Nichtigerklärung der Entscheidung K(2001) 3345 endg. der Kommission vom 30. Oktober 2001, mit der ein Zusammenschluss für unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt und dem EWR-Abkommen erklärt wird (Sache COMP/M.2416 - Tetra Laval/Sidel)

erlässtDAS GERICHT ERSTER INSTANZ

DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten B. Vesterdorf sowie der Richter J. Pirrung und N. J. Forwood,

Kanzler: D. Christensen, Verwaltungsrätin

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. und 4. Juli 2002,

folgendes

Urteil

Rechtlicher Rahmen

1.
Die Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. L 395, S. 1, in der im ABl. 1990, L 257, S. 13, berichtigten und durch die Verordnung [EG] Nr. 1310/97 des Rates vom 30. Juni 1997, ABl. L 180, S. 1, geänderten Fassung, im Folgenden: Verordnung) sieht ein System der Kontrolle von Zusammenschlüssen, die „gemeinschaftsweite Bedeutung“ im Sinne von Artikel 1 Absatz 2 der Verordnung haben, durch die Kommission vor.

2.
In Artikel 2 der Verordnung heißt es:

„(1) Zusammenschlüsse im Sinne dieser Verordnung sind nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt zu prüfen.

Bei dieser Prüfung berücksichtigt die Kommission

a) die Notwendigkeit, im Gemeinsamen Markt wirksamen Wettbewerb aufrechtzuerhalten und zu entwickeln, insbesondere im Hinblick auf die Struktur aller betroffenen Märkte und den tatsächlichen oder potenziellen Wettbewerb durch innerhalb oder außerhalb der Gemeinschaft ansässige Unternehmen;

b) die Marktstellung sowie die wirtschaftliche Macht und die Finanzkraft der beteiligten Unternehmen, die Wahlmöglichkeiten der Lieferanten und Kunden, ihren Zugang zu den Beschaffungs- und Absatzmärkten, rechtliche oder tatsächliche Marktzutrittsschranken, die Entwicklung des Angebots und der Nachfrage bei den jeweiligen Erzeugnissen und Dienstleistungen, die Interessen der Zwischen- und Endverbraucher sowie die Entwicklung des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts, sofern diese dem Verbraucher dient und den Wettbewerb nicht behindert.

(2) Zusammenschlüsse, die keine beherrschende Stellung begründen oder verstärken, durch die wirksamer Wettbewerb im Gemeinsamen Markt oder in einem wesentlichen Teil desselben erheblich behindert würde, sind für vereinbar mit dem Gemeinsamen Markt zu erklären.

(3) Zusammenschlüsse, die eine beherrschende Stellung begründen oder verstärken, durch die wirksamer Wettbewerb im Gemeinsamen Markt oder in einem wesentlichen Teil desselben erheblich behindert würde, sind für unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt zu erklären.

...“

3.
Erwerben eine oder mehrere Personen die Kontrolle oder die gemeinsame Kontrolle über ein anderes Unternehmen, so müssen sie nach Artikel 4 der Verordnung den Zusammenschluss innerhalb einer Woche nach seinem Abschluss bei der Kommission anmelden, und die Kommission hat nach Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung „unmittelbar nach dem Eingang der Anmeldung“ mit deren Prüfung zu beginnen. Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung sieht in Verbindung mit Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung vor, dass die Kommission in Bezug auf einen angemeldeten Zusammenschluss innerhalb eines Monats oder von höchstens sechs Wochen ein Verfahren einleitet, wenn die Prüfung ergibt, dass dieser Zusammenschluss unter die Verordnung fällt „und Anlass zu ernsthaften Bedenken hinsichtlich seiner Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt gibt“.

4.
Wird im Anschluss an eine Anmeldung ein Verfahren eröffnet, so richten sich die Entscheidungsbefugnisse der Kommission nach Artikel 8 der Verordnung. In Absatz 3 dieser Vorschrift heißt es: „Stellt die Kommission fest, dass ein Zusammenschluss dem in Artikel 2 Absatz 3 festgelegten Kriterium entspricht ..., so trifft sie eine Entscheidung, mit der der Zusammenschluss für unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erklärt wird.“ Nach Artikel 10 Absatz 3 der Verordnung müssen solche Entscheidungen „innerhalb einer Frist von höchstens vier Monaten nach der Einleitung des Verfahrens erlassen werden“.

5.
Zwar darf nach Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung ein Zusammenschluss weder vor der Anmeldung noch so lange vollzogen werden, bis er für vereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erklärt worden ist, doch kann ein öffentliches Angebot, das bei der Kommission angemeldet worden ist, nach Artikel 7 Absatz 3 der Verordnung verwirklicht werden, „sofern der Erwerber die mit den Anteilen verbundenen Stimmrechte nicht ausübt oder nur zur Erhaltung des vollen Wertes seiner Investition und aufgrund einer von der Kommission nach Absatz 4 erteilten Befreiung ausübt“.

6.
In Artikel 18 der Verordnung, der die Anhörung Beteiligter und Dritter betrifft, heißt es:

„(1) Vor Entscheidungen aufgrund des Artikels 7 Absatz 4, des Artikels 8 Absatz 2 Unterabsatz 2, des Artikels 8 Absätze 3, 4 und 5 sowie der Artikel 14 und 15 gibt die Kommission den betroffenen Personen, Unternehmen und Unternehmensvereinigungen Gelegenheit, sich zu den ihnen gegenüber geltend gemachten Einwänden in allen Abschnitten des Verfahrens bis zur Anhörung des Beratenden Ausschusses zu äußern.

...

(3) Die Kommission stützt ihre Entscheidungen nur auf die Einwände, zu denen die Betroffenen Stellung nehmen konnten. Das Recht der Betroffenen auf Verteidigung während des Verfahrens wird in vollem Umfang gewährleistet. Zumindest die unmittelbar Betroffenen haben das Recht der Akteneinsicht, wobei die berechtigten Interessen der Unternehmen an der Wahrung ihrer Geschäftsgeheimnisse zu berücksichtigen sind.

...“

7.
Artikel 13 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 447/98 der Kommission vom 1. März 1998 über die Anmeldungen, über die Fristen sowie über die Anhörung nach der Verordnung Nr. 4064/89 (ABl. L 61, S. 1) lautet:

„Nach der Mitteilung ihrer Einwände an die Anmelder gewährt die Kommission ihnen auf Antrag Einsicht in die Verfahrensakte, um die Verteidigungsrechte zu gewährleisten.

Die Kommission gewährt auch den anderen Beteiligten, denen die Einwände mitgeteilt wurden, auf Antrag Einsicht in die Verfahrensakte, soweit dies zur Vorbereitung ihrer Äußerung erforderlich ist.“

8.
Der mit „Vertrauliche Angaben und Unterlagen“ überschriebene Artikel 17 der Verordnung Nr. 447/98 sieht Folgendes vor:

„(1) Angaben einschließlich Unterlagen werden nicht mitgeteilt oder zugänglich gemacht, soweit sie Geschäftsgeheimnisse oder sonstige vertrauliche Angaben von Personen oder Unternehmen einschließlich der Anmelder, der anderen Beteiligten oder von Dritten enthalten, deren Preisgabe für die Zwecke des Verfahrens von der Kommission nicht für erforderlich gehalten wird oder bei denen es sich um interne Unterlagen von Behörden handelt.

(2) Jede Partei, die sich im Rahmen der Vorschriften dieses Kapitels schriftlich geäußert hat, hat Informationen, die sie für vertraulich hält, unter Angabe der Gründe klar zu kennzeichnen und innerhalb der von der Kommission festgesetzten Frist eine gesonderte, nicht vertrauliche Fassung vorzulegen.“

Vorgeschichte des Rechtsstreits

9.
Am 27. März 2001 gab die Tetra Laval SA, eine zu 100 % im Eigentum der Tetra Laval BV, einer zum Tetra-Laval-Konzern gehörenden Holdinggesellschaft (im Folgenden: Tetra oder Klägerin), stehende private Gesellschaft französischen Rechts für Rechnung der Klägerin ein öffentliches Übernahmeangebot für sämtliche im Umlauf befindlichen Aktien der Sidel SA ab, einem in Frankreich börsennotierten Unternehmen. Am gleichen Tag erwarb die Tetra Laval SA etwa 9,75 % des Kapitals von Sidel, davon 5,56 % von Azeo und 4,19 % von der Geschäftsleitung von Sidel.

10.
Das Übernahmeangebot wurde zu einem Barpreis von 50 Euro je Aktie abgegeben und war in Einklang mit dem französischen Recht frei von Bedingungen. Der Verwaltungsrat von Sidel empfahl einstimmig die Annahme des Angebots, und es wurde auch von deren Mehrheitsaktionären gebilligt. Die Commission des opérations de bourse (Ausschuss für Börsengeschäfte) erteilte am 11. April 2001 ihren Sichtvermerk für die gemeinsame Bekanntmachung der Tetra Laval SA und von Sidel („joint offer document“). Nach der Veröffentlichung am 14. April 2001 wurde das Angebot für die Zeit vom 17. April bis zum 22. Mai 2001 offiziell eröffnet. Für den Erfolgsfall war vorgesehen, dass die Aktien der Tetra SA vorbehaltlich der in Artikel 7 Absatz 3 der Verordnung vorgesehenen Beschränkungen in der am 11. Juni 2001 beginnenden Woche wieder gehandelt werden sollten.

11.
Im Anschluss an dieses Angebot erwarb die Klägerin etwa 81,3 % der im Umlauf befindlichen Aktien von Sidel. Nach Angebotsschluss erwarb sie einige zusätzliche Aktien, so dass sie derzeit etwa 95,20 % der Aktien und 95,93 % der Stimmrechte von Sidel hält.

12.
Zur Klägerin gehört u. a. das Unternehmen Tetra Pak, das hauptsächlich im Bereich von Kartonverpackungen für Flüssignahrungsmittel tätig und in diesem Bereich das weltweit führende Unternehmen ist. Die Klägerin ist in begrenzterem Umfang auch im Bereich von Kunststoffverpackungen tätig, und zwar hauptsächlich als „Verarbeiter“ (der leere Verpackungen herstellt und an die Produzenten liefert, die sie selbst befüllen)...

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