Urteile nº T-195/01 of TGericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, April 30, 2002

Resolution DateApril 30, 2002
Issuing OrganizationTGericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften
Decision NumberT-195/01

URTEIL DES GERICHTS (Zweite erweiterte Kammer)

30. April 2002(1) „Staatliche Beihilfen - Steuerregelungen - Bestehende oder neue Beihilfen - Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens im Sinne von Artikel 88 Absatz 2 EG“

In den verbundenen Rechtssachen T-195/01 und T-207/01

Regierung von Gibraltar, Prozessbevollmächtigte: A. Sutton, M. Llamas, Barristers, und Rechtsanwalt W. Schuster, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch V. Di Bucci und R. Lyal als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte,

unterstützt durch

Königreich Spanien, vertreten durch R. Silva de Lapuerta als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Streithelfer,

wegen Nichtigerklärung der Entscheidungen SG(2001) D/289755 und SG(2001) D/289757 der Kommission vom 11. Juli 2001 über die Eröffnung des Verfahrens gemäß Artikel 88 Absatz 2 EG in Bezug auf Rechtsvorschriften von Gibraltar über steuerbefreite und qualifizierte Gesellschaften,

erlässt

DAS GERICHT ERSTER INSTANZ DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Zweite erweiterte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten R. M. Moura Ramos, der Richterin V. Tiili sowie der Richter J. Pirrung, P. Mengozzi und A. W. H. Meij,

Kanzler: J. Plingers, Verwaltungsrat

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. März 2002,

folgendes

Urteil

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrechtliche Vorschriften

1.
Gemäß Artikel 87 Absatz 1 EG sind staatliche Beihilfen, abgesehen von bestimmten Ausnahmen, verboten. Um die Wirksamkeit dieses Verbotes zu sichern, erlegt Artikel 88 EG der Kommission eine besondere Überwachungspflicht und den Mitgliedstaaten genaue Verpflichtungen zu dem Zweck auf, der Kommission die Erfüllung ihrer Aufgabe zu erleichtern und zu verhindern, dass sie vor vollendete Tatsachen gestellt wird.

2.
So überprüft die Kommission gemäß Artikel 88 Absatz 1 EG fortlaufend in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten die in diesen bestehenden Beihilferegelungen und schlägt ihnen gegebenenfalls „die zweckdienlichen Maßnahmen vor, welche die fortschreitende Entwicklung und das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erfordern“.

3.
Werden die Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen beabsichtigt, so muss die Kommission gemäß Artikel 88 Absatz 3 EG so rechtzeitig unterrichtet werden, dass sie sich dazu äußern kann. Die Kommission muss das kontradiktorische Verfahren gemäß Artikel 88 Absatz 2 EG einleiten, wenn sie der Auffassung ist, dass ein angemeldetes Beihilfevorhaben nicht mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar ist. Die Mitgliedstaaten dürfen die beabsichtigten Maßnahmen nicht durchführen, bevor die Kommission eine abschließende Entscheidung darüber erlassen hat, ob diese Maßnahmen mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar sind.

4.
Artikel 1 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [88 EG] (ABl. L 83, S. 1, im Folgenden: Beihilfeverfahrensverordnung), die am 16. April 1999 in Kraft trat, enthält folgende in den vorliegenden Verfahren relevante Definitionen:

„a) .Beihilfen' alle Maßnahmen, die die Voraussetzungen des Artikels [87] Absatz 1 des Vertrags erfüllen;

b) .bestehende Beihilfen'

i) ... alle Beihilfen, die vor Inkrafttreten des Vertrags in dem entsprechenden Mitgliedstaat bestanden, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die vor Inkrafttreten des Vertrags eingeführt worden sind und auch nach dessen Inkrafttreten noch anwendbar sind;

...

ii) genehmigte Beihilfen, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die von der Kommission oder vom Rat genehmigt wurden;

...

v) Beihilfen, die als bestehende Beihilfen gelten, weil nachgewiesen werden kann, dass sie zu dem Zeitpunkt, zu dem sie eingeführt wurden, keine Beihilfe waren und später aufgrund der Entwicklung des Gemeinsamen Marktes zu Beihilfen wurden, ohne dass sie eine Änderung durch den betreffenden Mitgliedstaat erfahren haben. Werden bestimmte Maßnahmen im Anschluss an die Liberalisierung einer Tätigkeit durch gemeinschaftliche Rechtsvorschriften zuBeihilfen, so gelten derartige Maßnahmen nach dem für die Liberalisierung festgelegten Termin nicht als bestehende Beihilfen;

c) .neue Beihilfen' alle Beihilfen, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die keine bestehenden Beihilfen sind, einschließlich Änderungen bestehender Beihilfen;

...

f) .rechtswidrige Beihilfen' neue Beihilfen, die unter Verstoß gegen Artikel [88] Absatz 3 des Vertrags eingeführt werden“.

5.
Gemäß Artikel 2 Absatz 1 der Beihilfeverfahrensverordnung „teilen die Mitgliedstaaten der Kommission ihre Vorhaben zur Gewährung neuer Beihilfen rechtzeitig mit“, und nach Absatz 3 dieser Verordnung dürfen solche Beihilfen nicht eingeführt werden, „bevor die Kommission eine diesbezügliche Genehmigungsentscheidung erlassen hat oder die Beihilfe als genehmigt gilt“. Nach Artikel 4 Absatz 4 entscheidet die Kommission, das Verfahren nach Artikel 88 Absatz 2 EG (im Folgenden: förmliches Prüfverfahren) zu eröffnen, wenn sie nach einer vorläufigen Prüfung feststellt, dass die angemeldete Maßnahme Anlass zu „Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt gibt“.

6.
Gemäß Artikel 6 Absatz 1 der Beihilfeverfahrensverordnung enthält die „Entscheidung über die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens ... eine Zusammenfassung der wesentlichen Sach- und Rechtsfragen, eine vorläufige Würdigung des Beihilfecharakters der geplanten Maßnahme durch die Kommission und Ausführungen über ihre Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt“.

7.
Nach Artikel 7 Absatz 1 der Beihilfeverfahrensverordnung wird das förmliche Prüfverfahren „durch eine Entscheidung nach den Absätzen 2 bis 5 dieses Artikels abgeschlossen“. Gelangt die Kommission zu dem Schluss, dass die angemeldete Maßnahme keine Beihilfe darstellt, so stellt sie dies durch Entscheidung fest (Absatz 2). Gelangt sie zu dem Schluss, dass die angemeldete Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar ist, so entscheidet sie, dass diese Beihilfe nicht eingeführt werden darf (Absatz 5). Die Entscheidungen nach den Absätzen 2 bis 5 werden erlassen, sobald die in Artikel 4 Absatz 4 genannten Bedenken ausgeräumt sind (Absatz 6).

8.
Hinsichtlich nicht angemeldeter Maßnahmen bestimmt Artikel 10 Absatz 1 der Beihilfeverfahrensverordnung: „Befindet sich die Kommission im Besitz von Informationen gleich welcher Herkunft über angebliche rechtswidrige Beihilfen, so prüft sie diese Informationen unverzüglich.“ Nach Artikel 13 Absatz 1 kann diese Prüfung mit einer Entscheidung zur Eröffnung eines förmlichen Prüfverfahrens abgeschlossen werden.

9.
Gemäß Artikel 11 Absatz 1 der Beihilfeverfahrensverordnung kann die Kommission eine Entscheidung erlassen, mit der dem Mitgliedstaat aufgegeben wird, alle rechtswidrigen Beihilfen so lange auszusetzen, bis sie eine Entscheidung über die Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt erlassen hat. Artikel 11 Absatz 2 ermächtigt sie, eine Entscheidung zu erlassen, mit der dem Mitgliedstaat aufgegeben wird, alle rechtswidrigen Beihilfen einstweilig zurückzufordern, sofern u. a. „[n]ach geltender Praxis ... hinsichtlich des Beihilfecharakters der betreffenden Maßnahme keinerlei Zweifel [besteht]“.

10.
Was die Rückforderung von Beihilfen angeht, so entscheidet die Kommission gemäß Artikel 14 Absatz 1 der Beihilfeverfahrensverordnung in Negativentscheidungen hinsichtlich rechtswidriger Beihilfen, dass der betreffende Mitgliedstaat alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um die Beihilfe vom Empfänger zurückzufordern, es sei denn, dass die Rückforderung „gegen einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts verstoßen würde“. Nach Artikel 15 Absatz 1 gelten die „Befugnisse der Kommission zur Rückforderung von Beihilfen ... für eine Frist von zehn Jahren“.

11.
Das für bestehende Beihilfen geltende Verfahren ist in den Artikeln 17 bis 19 der Beihilfeverfahrensverordnung geregelt. Gemäß Artikel 18 schlägt die Kommission, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die bestehende Beihilferegelung mit dem Gemeinsamen Markt nicht oder nicht mehr vereinbar ist, dem betreffenden Mitgliedstaat zweckdienliche Maßnahmen vor. Stimmt der Mitgliedstaat den vorgeschlagenen Maßnahmen nicht zu, kann die Kommission gemäß Artikel 19 Absatz 2 ein förmliches Prüfverfahren nach Artikel 4 Absatz 4 einleiten.

Der Status von Gibraltar und die streitigen Vorschriften

12.
Da das Gebiet von Gibraltar ein europäisches Hoheitsgebiet im Sinne von Artikel 299 Absatz 4 EG ist, dessen auswärtige Beziehungen das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland wahrnimmt, findet der EG-Vertrag auf dieses Gebiet Anwendung. Während gemäß Artikel 28 der Akte über die Bedingungen des Beitritts des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland zu den Europäischen Gemeinschaften, die dem Vertrag über diesen Beitritt beigefügt ist (ABl. 1972, L 73, S. 5), die Rechtsakte der Organe der Gemeinschaft betreffend u. a. „die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer ... auf Gibraltar nicht anwendbar“ sind, sofern der Rat nicht etwas anderes bestimmt, gelten die Bestimmungen des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts einschließlich der Bestimmungen über die von den Mitgliedstaaten gewährten Beihilfen auch dort.

13.
Die vorliegenden Rechtssachen betreffen zwei gesellschaftsrechtliche Regelungen über „steuerbefreite Gesellschaften“ und „qualifizierte Gesellschaften“. Während erstere in Gibraltar nicht angesiedelt sind, haben letztere dort „a bricks and mortarpresence“ (eine tatsächliche Geschäftsstelle) und sind in verschiedenen Bereichen tätig.

Steuerbefreite Gesellschaften

14.
Ám 9. März 1967 erließ das House of Assembly von Gibraltar die Ordinance No. 2 of 1967, gemeinhin bekannt unter der Bezeichnung „Companies (Taxation and...

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