Beschlüsse nº T-353/00 of TGericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, January 26, 2001

Resolution DateJanuary 26, 2001
Issuing OrganizationTGericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften
Decision NumberT-353/00

BESCHLUSS DES PRÄSIDENTEN DES GERICHTS

26. Januar 2001 (1) „Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes - Handlung des Parlaments - Auf dem nationalen Recht beruhender Verlust eines parlamentarischen Mandats - Zulässigkeit - Fumus boni iuris - Dringlichkeit - Interessenabwägung“

In der Rechtssache T-353/00 R

Jean-Marie Le Pen, Saint-Cloud (Frankreich), Prozessbevollmächtigter: F. Wagner, avocat,

Antragsteller,

gegen

Europäisches Parlament, vertreten durch H. Krück und C. Karamarcos als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Antragsgegner,

unterstützt durch

Französische Republik, vertreten durch D. Wibaux und G. de Bergues als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Streithelferin,

wegen Aussetzung des Vollzugs der in Form einer Erklärung der Präsidentin des Europäischen Parlaments vom 23. Oktober 2000 getroffenen Entscheidung

erlässt

DER PRÄSIDENT DES GERICHTS ERSTER INSTANZ

DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN

folgenden

Beschluss

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

1.
Artikel 5 EU lautet:

„Das Europäische Parlament, der Rat, die Kommission, der Gerichtshof und der Rechnungshof üben ihre Befugnisse nach Maßgabe und im Sinne der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie der nachfolgenden Verträge und Akte zu deren Änderung oder Ergänzung einerseits und der übrigen Bestimmungen des vorliegenden Vertrags andererseits aus.“

2.
Gemäß Artikel 189 Absatz 1 EG, Artikel 20 KS und Artikel 107 EA besteht das Europäische Parlament „aus Vertretern der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“.

3.
Artikel 190 Absatz 4 EG, Artikel 21 Absatz 3 KS und Artikel 108 Absatz 3 EA sehen vor, dass das Parlament einen Entwurf für die Wahl seiner Mitglieder nach einem einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten oder im Einklang mit den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen ausarbeitet und dass der Rat einstimmig die entsprechenden Bestimmungen erlässt und den Mitgliedstaaten zurAnnahme empfiehlt. Ferner heißt es in Artikel 7 Absatz 1 des Aktes zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments im Anhang zum Beschluss des Rates vom 20. September 1976 (im Folgenden: Akt von 1976), dass das Parlament für die Ausarbeitung des Entwurfs eines einheitlichen Wahlverfahrens zuständig ist. Bis heute wurde jedoch trotz der dahin gehenden Vorschläge des Parlaments kein einheitliches System geschaffen.

4.
Gemäß Artikel 3 Absatz 1 des Aktes von 1976 werden die Mitglieder des Parlaments „auf fünf Jahre gewählt“.

5.
In Artikel 6 Absatz 1 des Aktes von 1976 wird aufgezählt, mit welchen Ämtern die Mitgliedschaft im Europäischen Parlament unvereinbar ist, und in Artikel 6 Absatz 2 heißt es, dass jeder Mitgliedstaat „nach Artikel 7 Absatz 2 innerstaatlich geltende Unvereinbarkeiten festlegen“ kann. Artikel 7 Absatz 2 des Aktes von 1976 lautet:

„Bis zum Inkrafttreten eines einheitlichen Wahlverfahrens und vorbehaltlich der sonstigen Vorschriften dieses Akts bestimmt sich das Wahlverfahren in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften.“

6.
Artikel 11 des Aktes von 1976 bestimmt:

„Bis zum Inkrafttreten des in Artikel 7 Absatz 1 vorgesehenen einheitlichen Wahlverfahrens prüft das Europäische Parlament die Mandate der Abgeordneten. Zu diesem Zweck nimmt das Europäische Parlament die von den Mitgliedstaaten amtlich bekannt gegebenen Wahlergebnisse zur Kenntnis und befindet über die Anfechtungen, die gegebenenfalls auf Grund der Vorschriften dieses Akts - mit Ausnahme der innerstaatlichen Vorschriften, auf die darin verwiesen wird - vorgebracht werden könnten.“

7.
Artikel 12 des Aktes von 1976 sieht Folgendes vor:

„(1) Bis zum Inkrafttreten des nach Artikel 7 Absatz 1 einzuführenden einheitlichen Wahlverfahrens und vorbehaltlich der sonstigen Vorschriften dieses Akts legt jeder Mitgliedstaat für den Fall des Freiwerdens eines Sitzes während der in Artikel 3 genannten fünfjährigen Wahlperiode die geeigneten Verfahren fest, um diesen Sitz für den verbleibenden Zeitraum zu besetzen.

(2) Hat das Freiwerden seine Ursache in den in einem Mitgliedstaat geltenden innerstaatlichen Vorschriften, so unterrichtet dieser Mitgliedstaat das Europäische Parlament hierüber, das davon Kenntnis nimmt.

In allen übrigen Fällen stellt das Europäische Parlament das Freiwerden fest und unterrichtet den Mitgliedstaat hierüber.“

8.
Artikel 7 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments (ABl. 1999, L 202, S. 1, im Folgenden: Geschäftsordnung) ist mit „Prüfung der Mandate“ überschrieben. Sein Absatz 4 lautet:

„Der zuständige Ausschuss wacht darüber, dass alle Angaben, die die Ausübung des Mandats eines Mitglieds bzw. die Rangfolge der Stellvertreter beeinflussen können, dem Parlament unverzüglich von den Behörden der Mitgliedstaaten und der Union unter Angabe des Inkrafttretens im Falle einer Benennung übermittelt werden.

Falls die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten gegen ein Mitglied ein Verfahren eröffnen, das den Verlust des Mandats zur Folge haben könnte, so ersucht der Präsident sie darum, ihn regelmäßig über den Stand des Verfahrens zu unterrichten. Er befasst damit den zuständigen Ausschuss, auf dessen Vorschlag das Parlament Stellung nehmen kann.“

9.
Artikel 8 Absatz 6 der Geschäftsordnung sieht Folgendes vor:

„Als Stichtag für das Erlöschen des Mandats und für das Freiwerden eines Sitzes gelten:

- im Rücktrittsfall: der Tag, an dem das Freiwerden des Sitzes vom Parlament entsprechend dem Rücktrittsprotokoll festgestellt wurde;

- im Falle der Ernennung zu einem Amt, das aufgrund innerstaatlichen Wahlrechts oder gemäß Artikel 6 des Akts [von 1976] mit dem Mandat eines Mitglieds des Europäischen Parlaments unvereinbar ist: der von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten oder der Union mitgeteilte Zeitpunkt.“

10.
Die Aufgaben des Präsidenten des Parlaments sind in Artikel 19 der Geschäftsordnung geregelt; dieser lautet:

„1. Der Präsident leitet unter den in dieser Geschäftsordnung vorgesehenen Bedingungen sämtliche Arbeiten des Parlaments und seiner Organe. Er besitzt alle Befugnisse, um bei den Beratungen des Parlaments den Vorsitz zu führen und deren ordnungsgemäßen Ablauf zu gewährleisten.

2. Der Präsident eröffnet, unterbricht und schließt die Sitzungen. Er achtet auf die Einhaltung der Geschäftsordnung, wahrt die Ordnung, erteilt das Wort, erklärt die Aussprachen für geschlossen, lässt abstimmen und verkündet die Ergebnisse der Abstimmungen. Er übermittelt den Ausschüssen die Mitteilungen, die ihre Tätigkeit betreffen.

3. Der Präsident darf in einer Aussprache das Wort nur ergreifen, um den Stand der Sache festzustellen und die Aussprache zum Beratungsgegenstandzurückzuführen; will er sich an der Aussprache beteiligen, so gibt er den Vorsitz ab; er kann ihn erst wieder übernehmen, wenn die Aussprache über den Gegenstand beendet ist.

4. Der Präsident vertritt das Parlament im internationalen Bereich, bei offiziellen Anlässen sowie in Verwaltungs-, Gerichts- und Finanzangelegenheiten; er kann diese Befugnisse übertragen.“

11.
Artikel 19 Absatz 1 der Geschäftsordnung ist gemäß Artikel 180 der Geschäftsordnung wie folgt ausgelegt worden:

„Zu diesen Befugnissen gehört unter anderem die, über Textteile in einer anderen Reihenfolge als derjenigen, die in dem zur Abstimmung vorliegenden Dokument festgelegt ist, abstimmen zu lassen. Entsprechend den Bestimmungen nach Artikel 130 Absatz 7 kann der Präsident zuvor das Einverständnis des Parlaments einholen.“

Französisches Recht

12.
Artikel 5 des Gesetzes 77-729 vom 7. Juli 1977 über die Wahl der Vertreter der Versammlung der Europäischen Gemeinschaften (JORF vom 8. Juli 1977, S. 3579, im Folgenden: Gesetz von 1977) lautet:

„Die Artikel LO 127 bis LO 130-1 der Wahlordnung sind auf die Wahl der Vertreter der Versammlung der Europäischen Gemeinschaften anwendbar.

Der Verlust des passiven Wahlrechts während der Laufzeit des Mandats führt zum Erlöschen des Mandats. Dies wird durch Dekret festgestellt.“

13.
Artikel 24 Absatz 1 des Gesetzes von 1977 lautet:

„Der Bewerber, der auf einer Liste dem letzten gewählten Bewerber unmittelbar nachfolgt, ersetzt den auf dieser Liste gewählten Vertreter, dessen Sitz - aus welchem Grund auch immer - frei wird.“

14.
Artikel 25 des Gesetzes von 1977 sieht Folgendes vor:

„Die Wahl der Vertreter der Versammlung der Europäischen Gemeinschaften kann binnen zehn Tagen nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse in Bezug auf jede die Anwendung des vorliegenden Gesetzes betreffende Frage von jedem Wähler vor dem Conseil d'État angefochten werden, der im streitigen Verfahren entscheidet. Die Entscheidung ergeht im Plenum.

Die Klage hat keine aufschiebende Wirkung.“

Sachverhalt und Verfahren

15.
Der Antragsteller wurde am 13. Juni 1999 zum Mitglied des Europäischen Parlaments gewählt.

16.
Mit Urteil vom 23. November 1999 wies die französische Cour de cassation (Strafkammer) das Rechtsmittel des Antragstellers gegen das Urteil der Cour d'appel Versailles vom 17. November 1998 zurück, die ihn für schuldig erklärt hatte, gegenüber einer Person, die Inhaber öffentlicher Gewalt ist, anlässlich der Ausübung ihres Amtes Gewalttätigkeiten begangen zu haben, wenn die Eigenschaft des Opfers offenkundig oder dem Täter bekannt ist, ein gemäß Artikel 222-13 Absatz 1 Nr. 4 des französischen Strafgesetzbuchs unter Strafe gestelltes Vergehen. Wegen dieses Vergehens wurde er zu einer zur Bewährung ausgesetzten Haftstrafe von drei Monaten und zu einer Geldstrafe von 5 000 FRF verurteilt. Als Nebenstrafe wurde ihm gemäß Artikel 131-26 Nr. 2 des Strafgesetzbuchs das passive Wahlrecht für die Dauer eines Jahres aberkannt.

17.
Aufgrund dieser strafrechtlichen Verurteilung stellte der Premierminister der französischen Regierung gemäß Artikel 5 Absatz 2 des Gesetzes von 1977 mit Dekret vom 31. März 2000 fest, dass „der Verlust des passiven Wahlrechts...

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