Urteile nº T-332/09 of TGericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, December 12, 2012

Resolution DateDecember 12, 2012
Issuing OrganizationTGericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften
Decision NumberT-332/09

„Wettbewerb – Zusammenschlüsse – Entscheidung, mit der eine Geldbuße wegen des Vollzugs eines Zusammenschlusses verhängt wird – Pflicht zum Aufschub des Zusammenschlusses – Begründungspflicht – Beurteilungsfehler – Verjährung – Höhe der Geldbuße“

In der Rechtssache T‑332/09

Electrabel, mit Sitz in Brüssel (Belgien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte M. Pittie und P. Honoré,

Klägerin,

gegen

Europäische Kommission, Prozessbevollmächtigte: A. Bouquet und V. Di Bucci als Bevollmächtigte,

Beklagte,

wegen Nichtigerklärung der Entscheidung K(2009) 4416 endgültig der Kommission vom 10. Juni 2009 zur Verhängung einer Geldbuße wegen des Vollzugs eines Zusammenschlusses unter Verstoß gegen Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates (Sache COMP/M.4994 – Electrabel/Compagnie nationale du Rhône) und, hilfsweise, wegen Nichtigerklärung oder Herabsetzung der mit dieser Entscheidung gegen die Klägerin verhängten Geldbuße,

erlässt

DAS GERICHT (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten O. Czúcz (Berichterstatter) sowie der Richterin I. Labucka und des Richters D. Gratsias,

Kanzler: C. Kristensen, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. November 2011

folgendes

Urteil

Sachverhalt

1 Die Klägerin Electrabel ist eine Gesellschaft belgischen Rechts, deren Aktivitäten im Wesentlichen aus Stromerzeugung, Vertrieb, Handel und operativem Netzmanagement im Strom- und Erdgasbereich bestehen. Im entscheidungserheblichen Zeitraum war sie Teil der Suez-Gruppe. Die Suez-Gruppe ist ein Konzern, der als Partner von Körperschaften, Unternehmen und Privatpersonen öffentliche Anlagen in den Bereichen Strom- und Gasversorgung, Energiedienstleistungen, Wasser- und Abfallwirtschaft betreibt. Seit dem 22. Juli 2008 ist die Klägerin Teil der Unternehmensgruppe GDF Suez, die durch die Fusionierung der Unternehmensgruppe Gaz de France mit der Suez-Gruppe entstanden ist. Die Klägerin übt ihre Tätigkeiten in Frankreich über ihre Tochtergesellschaft Electrabel France aus.

2 Die Compagnie nationale du Rhône (CNR) ist ein französisches Staatsunternehmen, das durch eine Konzession des französischen Staates mit dem Ausbau und der Nutzung der Rhone beauftragt ist; für das Unternehmen gilt ein besonderer rechtlicher Rahmen, wie u. a. aus dem französischen Gesetz Nr. 80-3 vom 4. Januar 1980 über die CNR (JORF vom 5. Januar 1980, S. 41) hervorgeht. CNR erzeugt und vertreibt Strom. Zudem bietet sie in Frankreich und 20 weiteren Ländern Dienstleistungen im Bereich Flussbau an. Laut ihrer Satzung ist CNR eine Aktiengesellschaft von allgemeinem Interesse (société anonyme dʼintérêt général) unter staatlicher Aufsicht zu den Bedingungen, die für inländische Staatsunternehmen gelten. Sie verfügt über einen Aufsichtsrat und einen Vorstand.

3 Das französische Gesetz Nr. 2001‑1168 vom 11. Dezember 2001 über dringende Reformmaßnahmen im Wirtschafts- und Finanzbereich (JORF vom 12. Dezember 2001, S. 19703, im Folgenden: Loi Murcef) bestimmt in Art. 21, dass CNR eine Aktiengesellschaft ist, deren Kapital und Stimmrechte mehrheitlich von Gebietskörperschaften sowie sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder zum öffentlichen Sektor gehörenden Unternehmen gehalten werden. Das Kapital von CNR wurde bis zum Jahr 2003 ausschließlich von öffentlichen Körperschaften oder Unternehmen gehalten, deren gesamtes Kapital sich in Staatsbesitz befand. Die zwei wichtigsten Aktionäre von CNR waren bis zu diesem Zeitpunkt die Société nationale des chemins de fer français (SNCF) und die Électricité de France (EDF).

4 Im Rahmen der geplanten Übernahme des deutschen Unternehmens Energie Baden-Württemberg AG (im Folgenden: EnBW) wurde EDF von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften verpflichtet, eine Zusage abzugeben, dass sie gemäß der Entscheidung der Kommission vom 7. Februar 2001 zur Erklärung der Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses mit dem Gemeinsamen Markt und mit dem EWR-Abkommen (Sache COMP/M.1853 – EDF/EnBW) (ABl. 2002, L 59, S. 1, im Folgenden: EDF/EnBW-Entscheidung) ihre Beteiligung am Kapital von CNR veräußern werde.

5 Am 24. Juni 2003 erwarb die Klägerin Wertpapiere von CNR, die 17,86 % des Kapitals von CNR und 16,88 % ihrer Stimmrechte entsprachen.

6 EDF und die Klägerin unterzeichneten am 27. Juni 2003 eine Absichtserklärung über den Verkauf und Kauf von Aktien, die vorsah, dass EDF ihre gesamte Beteiligung am Kapital von CNR an die Klägerin veräußern würde.

7 Am 24. Juli 2003 traf die Klägerin mit der Caisse des dépôts et consignations (CDC) eine Aktionärsvereinbarung im Rahmen des Erwerbs der SNCF‑Beteiligungen an CNR durch CDC. Die Aktionärsvereinbarung traf insbesondere Regelungen zu

– einer Option über den Verkauf und Kauf von CNR-Aktien für den Fall, dass die in Art. 21 der Loi Murcef vorgesehene Regelung aufgehoben würde, wonach der Klägerin ein Vorrecht für den Erwerb aller oder eines Teils der verfügbar gewordenen Aktien eines öffentlichen Anteilseigners sowie der Beteiligung von CDC eingeräumt wurde;

– einer einstimmigen Abstimmung in der Hauptversammlung und im Aufsichtsrat, um die Vertreter der Aktionäre im Aufsichtsrat von CNR und die Vorstandsmitglieder von CNR zu ernennen;

– einem wechselseitigen Widerspruchsrecht, falls die jeweils andere Partei den Abschluss einer Stimmrechtsvereinbarung mit einem oder mehreren anderen Aktionären beabsichtigte.

8 Am 23. Dezember 2003 erwarb die Klägerin Wertpapiere, die zuvor von EDF sowie der Industrie- und Handelskammer Villefranche und Beaujolais (Frankreich) gehalten wurden, wodurch ihre Beteiligung auf 49,95 % des Kapitals und 47,92 % der Stimmrechte von CNR anstieg.

9 Am 9. August 2007 kontaktierte die Klägerin die Kommission, um deren Meinung hinsichtlich ihres Erwerbs der faktisch alleinigen Kontrolle über CNR einzuholen. Daraus entwickelte sich eine Korrespondenz mit den Dienststellen der Kommission, die der Klärung der Frage, ob eine solche Kontrolle vorlag, und der Bestimmung der notwendigen Angaben für die Einreichung eines Anmeldeformulars gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. L 24, S. 1) diente. Am 26. März 2008 wurde das Formular zur offiziellen Anmeldung eingereicht, in dem die Klägerin darauf hinwies, dass sie im Laufe des Jahres 2007 die faktisch alleinige Kontrolle von CNR erlangt habe (im Folgenden: Formblatt CO). Mit Entscheidung vom 29. April 2008 (Sache COMP/M.4994 – Electrabel/Compagnie nationale du Rhône) (im Folgenden: Genehmigungsentscheidung) erhob die Kommission auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 139/2004 keinen Einspruch gegen diesen Zusammenschluss und erklärte ihn für mit dem Gemeinsamen Markt und dem EWR-Abkommen vereinbar, wobei sie jedoch die Frage offenließ, zu welchem Zeitpunkt der Erwerb der faktisch alleinigen Kontrolle über CNR durch die Klägerin genau stattgefunden hatte.

10 Am 17. Dezember 2008 erhielt die Klägerin eine Mitteilung der Beschwerdepunkte, wonach die Kommission vorläufig zu dem Ergebnis gekommen sei, dass der Zusammenschluss von der Klägerin und CNR am 23. Dezember 2003 vor der Mitteilung an die Kommission und vor der Erklärung seiner Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt durchgeführt worden sei, was einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (Berichtigung: ABl. 1990, L 257, S. 13) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1310/97 des Rates vom 30. Juni 1997 (ABl. L 180, S. 1) geänderten Fassung darstelle.

11 Am 13. Februar 2009 antwortete die Klägerin auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte.

12 Am 11. März 2009 fand eine Anhörung statt.

13 Am 10. Juni 2009 erließ die Kommission die Entscheidung K(2009) 4416 zur Verhängung einer Geldbuße wegen des Vollzugs eines Zusammenschlusses unter Verstoß gegen Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung Nr. 4064/89 (Sache COMP/M.4994 – Electrabel/Compagnie nationale du Rhône) (im Folgenden: angefochtene Entscheidung).

14 Der verfügende Teil der angefochtenen Entscheidung lautet:

Artikel 1

[Die Klägerin] hat, während des Zeitraums vom 23. Dezember 2003 bis zum 9. August 2007, gegen Artikel 7 Absatz 1 der [Verordnung Nr. 4064/89] verstoßen, indem sie einen Zusammenschluss mit gemeinschaftsweiter Bedeutung vollzogen hat, bevor dieser für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt wurde.

Artikel 2

Wegen des in Artikel 1 aufgeführten Verstoßes wird [der Klägerin] eine Geldbuße in Höhe von 20 000 000 Euro auferlegt.

Artikel 3

Die in Artikel 2 festgesetzte Geldbuße ist innerhalb von drei Monaten … zu zahlen.“

Verfahren und Anträge der Parteien

15 Mit Klageschrift, die am 20. August 2009 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.

16 Die Klägerin beantragt im Wesentlichen,

– die angefochtene Entscheidung in ihrer Gesamtheit für nichtig zu erklären;

– hilfsweise, die Art. 2 und 3 der angefochtenen Entscheidung für nichtig zu erklären oder zumindest die Höhe der ihr gemäß Art. 2 auferlegten Geldbuße herabzusetzen;

– der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

17 Die Kommission beantragt,

– die Klage abzuweisen;

– der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

18 Auf Bericht des Berichterstatters hat das Gericht (Dritte Kammer) beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen, und im Rahmen der in Art. 64 seiner Verfahrensordnung vorgesehenen prozessleitenden Maßnahmen den Parteien schriftlich Fragen gestellt und die Klägerin zur Vorlage bestimmter Schriftstücke aufgefordert. Die Parteien sind diesen Aufforderungen fristgemäß nachgekommen.

19 In der Sitzung vom 30. November 2011 haben die Parteien mündlich verhandelt und die mündlichen Fragen des Gerichts beantwortet.

Rechtliche Würdigung

20 Die Klägerin stellt einen Haupt- und einen Hilfsantrag. Sie stützt ihren Hauptantrag auf zwei Klagegründe, die auf die Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung in ihrer...

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