Urteile nº T-79/13 of TGericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, October 07, 2015

Resolution DateOctober 07, 2015
Issuing OrganizationTGericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften
Decision NumberT-79/13

„Auf‌lervertragliche Haftung - Wirtschafts- und Währungspolitik - EZB - Nationale Zentralbanken - Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld - Ankaufprogramm für Schuldtitel - Vereinbarung über den Tausch von Schuldtiteln allein zu Gunsten der Zentralbanken des Eurosystems - Beteiligung des Privatsektors - Umschuldungsklauseln - Collateral Enhancement in Form eines Rückkaufprogramms, um die Bonität der Schuldtitel als Sicherheit zu untermauern - Private Gläubiger - Hinreichend qualifizierter Verstof‌l gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht - Berechtigtes Vertrauen - Gleichbehandlung - Haftung für rechtmäf‌liges normatives Handeln -Auf‌lergewöhnlicher und besonderer Schaden“

In der Rechtssache T-79/13

Alessandro Accorinti, wohnhaft in Nichelino (Italien), und die im Anhang namentlich aufgeführten Kläger, Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte S. Sutti, R. Spelta und G. Sanna,

Kläger,

gegen

Europäische Zentralbank (EZB), zunächst vertreten durch S. Bening, und P. Papapaschalis, dann durch P. Senkovic und M. Papapaschalis, schlief‌llich durch P. Senkovic als Bevollmächtigte im Beistand der Rechtsanwälte E. Castellani, B. Kaiser und T. Lübbig,

Beklagte,

wegen Ersatz des Schadens, der den Klägern insbesondere aufgrund des Beschlusses 2012/153/EU der EZB vom 5. März 2012 über die Notenbankfähigkeit der von der griechischen Regierung begebenen oder in vollem Umfang garantierten marktfähigen Schuldtitel im Rahmen des Angebots der Hellenischen Republik zum Schuldentausch (ABl. L 77, S. 19) sowie aufgrund weiterer im Zusammenhang mit der Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld stehenden Maf‌lnahmen der EZB entstanden ist,

erlässt

DAS GERICHT (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten M. Prek, der Richterin I. Labucka und des Richters V. Kreuschitz (Berichterstatter),

Kanzler: J. Palacio González, Hauptverwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Februar 2015

folgendes

Urteil

Rechtlicher Rahmen

1 Art. 127 Abs. 1 und 2 AEUV nennt die Ziele und die grundlegenden Aufgaben des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB).

2 Die Art. 2 und 3 Abs. 1 des Protokolls (Nr. 4) über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank (ABl. 2010, C 83, S. 230, im Folgenden: Satzung) legen diese Ziele und Aufgaben wortgleich fest.

3 Art. 18 der Satzung sieht vor:

„1. Zur Erreichung der Ziele des ESZB und zur Erfüllung seiner Aufgaben können die EZB und die nationalen Zentralbanken:

- auf den Finanzmärkten tätig werden, indem sie auf Euro oder sonstige Währungen lautende Forderungen und börsengängige Wertpapiere sowie Edelmetalle endgültig (per Kasse oder Termin) oder im Rahmen von Rückkaufsvereinbarungen kaufen und verkaufen oder entsprechende Darlehensgeschäfte tätigen;

- Kreditgeschäfte mit Kreditinstituten und anderen Marktteilnehmern abschlief‌len, wobei für die Darlehen ausreichende Sicherheiten zu stellen sind.

2. Die EZB stellt allgemeine Grundsätze für ihre eigenen Offenmarkt- und Kreditgeschäfte und die der nationalen Zentralbanken auf; hierzu gehören auch die Grundsätze für die Bekanntmachung der Bedingungen, zu denen sie bereit sind, derartige Geschäfte abzuschlief‌len.“

4 Die Europäische Zentralbank (EZB) stellte die allgemeinen Grundsätze für ihre Offenmarkt- und Kreditgeschäfte zunächst in ihrer Leitlinie 2000/776/EZB vom 31. August 2000 über geldpolitische Instrumente und Verfahren des Eurosystems (EZB/2000/7) (ABl. L 310, S. 1) auf. Diese Leitlinie wurde sodann mehrfach geändert und schlief‌llich mit Wirkung zum 1. Januar 2012 durch die Leitlinie 2011/817/EU der EZB vom 20. September 2011 über geldpolitische Instrumente und Verfahren des Eurosystem (EZB/2011/14) (ABl. L 331, S. 1) konsolidiert und ersetzt. Anhang I der genannten Leitlinien („Allgemeine Regelungen für die geldpolitischen Instrumente und Verfahren des Eurosystems“) (im Folgenden: Allgemeine Regelungen) nennt die Kriterien für die einheitliche Umsetzung der Geldpolitik im Euro-Währungsgebiet, insbesondere die Definition der „notenbankfähigen Sicherheiten“ (Nr. 6). Die BZE verdeutlichte diese Definition zuletzt in ihrer Leitlinie 2011/817 insbesondere dadurch, dass sie in den Nrn. 6.3.1 und 6.3.2 der Allgemeinen Regelungen die Kriterien sowohl bezüglich des Schwellenwerts für Bonitätsanforderungen, die mindestens erfüllt werden müssen, oder des Bonitätsschwellenwerts als auch bezüglich der hohen Bonitätsanforderungen für marktfähige Sicherheiten festlegte.

Vorgeschichte des Rechtsstreits

5 Im Mai 2010 wurden die von der griechischen Regierung begebenen Schuldtitel als Folge der Finanzkrise des griechischen Staates und der Diskussion über einen von den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) befürworteten Plan zur Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld auf den Finanzmärkten nicht mehr normal bewertet, was negative Auswirkungen auf die Stabilität des Finanzsystems des Euro-Währungsgebiets hatte.

6 Angesichts dieser Sachlage entschied die EZB mit dem Beschluss 2010/268/EU vom 6. Mai 2010 über temporäre Maf‌lnahmen hinsichtlich der Notenbankfähigkeit der von der griechischen Regierung begebenen oder garantierten marktfähigen Schuldtitel (EZB/2010/3) (ABl. L 117, S. 102), „[d]ie Mindestanforderungen des Eurosystems für die Bonitätsschwellenwerte gemäf‌l den Bestimmungen des Bonitätsbeurteilungsrahmens des Eurosystems für marktfähige Sicherheiten in [Nr.] 6.3.2 der Allgemeinen Regelungen“ vorübergehend auszusetzen (Art. 1 Abs. 1 des Beschlusses). Art. 2 des Beschlusses bestimmt, dass „[d]er Bonitätsschwellenwert des Eurosystems … nicht für von der griechischen Regierung begebene marktfähige Schuldtitel [gilt]“ und „[d]iese Sicherheiten … ungeachtet ihres externen Ratings notenbankfähige Sicherheiten für geldpolitische Operationen des Eurosystems dar[stellen].“ Nach Art. 3 des Beschlusses gilt Entsprechendes für „von juristischen Personen mit Sitz in Griechenland emittierte und von der griechischen Regierung in vollem Umfang garantierte marktfähige Schuldtitel“.

7 Im 5. Erwägungsgrund des Beschlusses 2010/268 heif‌lt es u. a., dass [d]iese auf‌lergewöhnliche Maf‌lnahme … temporär gelten [wird], bis der EZB-Rat der Ansicht ist, dass die Stabilität des Finanzsystems die normale Anwendung des Handlungsrahmens für geldpolitische Operationen des Eurosystems erlaubt“.

8 Am 14. Mai 2010 fasste die EZB auf der Grundlage von Art. 127 Abs. 2 erster Gedankenstrich AEUV und insbesondere Art. 18 Abs. 1 der Satzung den Beschluss 2010/281/EU zur Einführung eines Programms für die Wertpapiermärkte (EZB/2010/5) (ABl. L 124, S. 8).

9 In den Erwägungsgründen 2 bis 5 des Beschlusses 2010/281 heif‌lt es u. a. wie folgt:

„(2) Am 9. Mai 2010 hat der EZB-Rat beschlossen und bekannt gegeben, dass angesichts der derzeit auf‌lergewöhnlichen Situation auf den Finanzmärkten, die durch starke Spannungen in einigen Marktsegmenten geprägt ist, die den geldpolitischen Transmissionsmechanismus und damit auch die effektive Durchführung einer auf mittelfristige Preisstabilität ausgerichteten Geldpolitik beeinträchtigen, ein vorübergehendes Programm für die Wertpapiermärkte (nachfolgend das ‚Programm‘) eingeführt werden sollte. Gemäf‌l dem Programm können die [nationalen Zentralbanken] des Euro-Währungsgebiets gemäf‌l ihren prozentualen Anteilen im Schlüssel für die Zeichnung des Kapitals der EZB und die EZB direkt mit den Geschäftspartnern endgültige Interventionen an den Märkten für öffentliche und private Schuldverschreibungen im Euro-Währungsgebiet durchführen.

(3) Das Programm ist Bestandteil der einheitlichen Geldpolitik des Eurosystems und findet vorübergehend Anwendung. Ziel des Programms ist es, die Störungen an den Wertpapiermärkten zu beheben und einen angemessenen geldpolitischen Transmissionsmechanismus wiederherzustellen.

(5) Als Bestandteil der einheitlichen Geldpolitik des Eurosystems sollte der endgültige Ankauf zugelassener marktfähiger Schuldtitel durch Zentralbanken des Eurosystems gemäf‌l dem Programm im Einklang mit den Bestimmungen dieses Beschlusses umgesetzt werden.“

10 Art. 1 des Beschlusses 2010/281 („Einführung des Programms für die Wertpapiermärkte“) sieht u. a. vor, dass „die Zentralbanken des Eurosystems … zugelassene marktfähige Schuldtitel, die von Zentralstaaten oder öffentlichen Stellen der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, begeben werden, auf dem Sekundärmarkt ankaufen [können]“. Nach Art. 2 werden die Zulassungskriterien für Schuldtitel u. a. erfüllt, wenn die Schuldtitel „auf Euro [lauten]“ und von den genannten Zentralstaaten oder öffentlichen Stellen begeben werden.

11 In einer Pressemitteilung vom 1. Juli 2011 des Institute for International Finance (IIF), einer weltweiten Einrichtung der Finanzinstitute, heif‌lt es u. a.:

„Das Direktorium des Institute for International Finance bemüht sich, zusammen mit seinen Mitgliedern und den anderen Finanzinstituten, dem öffentlichen Sektor und den griechischen Behörden der [Hellenischen Republik] nicht nur einen substantiellen Beitrag zum Cashflow anzubieten, sondern auch die Basis für eine erträglichere Schuldnerposition zu legen.

Die private Finanzwirtschaft ist bereit, gemeinsam durch freiwillige, transparente und breit angelegte Anstrengungen die [Hellenische Republik] angesichts der einmaligen und auf‌lergewöhnlichen Umstände zu unterstützen. …

Der Beitrag der privaten Investoren ergänzt die finanzielle Hilfe und die Unterstützung durch die öffentliche Hand und beruht auf einer begrenzten Anzahl von Optionen. …“

12 Am 21. Juli 2010 trafen sich die Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets und der Organe der Europäischen Union, um über Maf‌lnahmen zur Überwindung der Schwierigkeiten zu beraten, denen das Euro-Währungsgebiet ausgesetzt war.

13 In ihrer Gemeinsamen Erklärung vom 21. Juli 2011 heif‌lt es u. a.:

„1. Wir begrüf‌len die Maf‌lnahmen, die die griechische Regierung getroffen hat, um die...

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