Urteile nº T-102/07 of TGericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, March 03, 2010

Resolution DateMarch 03, 2010
Issuing OrganizationTGericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften
Decision NumberT-102/07

In den verbundenen Rechtssachen T‑102/07 und T‑120/07

Freistaat Sachsen (Deutschland), vertreten durch Rechtsanwälte C. von Donat und G. Quardt,

Kläger in der Rechtssache T‑102/07,

MB Immobilien Verwaltungs GmbH mit Sitz in Neukirch (Deutschland), Prozessbevollmächtigte: zunächst Rechtsanwalt G. Brüggen, dann Rechtsanwälte A. Seidl, K. Lengert und W. T. Sommer,

MB System GmbH & Co. KG mit Sitz in Nordhausen (Deutschland), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt G. Brüggen,

Klägerinnen in der Rechtssache T‑120/07,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch K. Gross und T. Scharf als Bevollmächtigte,

Beklagte,

wegen Nichtigerklärung der Entscheidung 2007/492/EG der Kommission vom 24. Januar 2007 über die staatliche Beihilfe Nr. C 38/2005 (ex NN 52/2004) Deutschlands an die Biria-Gruppe (ABl. L 183, S. 27)

erlässt

DAS GERICHT (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten O. Czúcz (Berichterstatter), der Richterin I. Labucka und des Richters K. O’Higgins,

Kanzler: T. Weiler, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. Januar 2009

folgendes

Urteil

Rechtlicher Rahmen und Vorgeschichte des Rechtsstreits

  1. Gemeinschaftsrecht

    1 Art. 87 EG bestimmt:

    „(1) Soweit in diesem Vertrag nicht etwas anderes bestimmt ist, sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen.

    (3) Als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar können angesehen werden:

    a) Beihilfen zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung von Gebieten, in denen die Lebenshaltung außergewöhnlich niedrig ist oder eine erhebliche Unterbeschäftigung herrscht;

    c) Beihilfen zur Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete, soweit sie die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft;

    …“

    2 Die Leitlinien der Gemeinschaft für Staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten (ABl. 1999, C 288, S. 2, im Folgenden: Leitlinien von 1999) sehen in Ziff. 2 Folgendes vor:

    „2.1. Begriff des Unternehmens in Schwierigkeiten

    (4) Es gibt keine gemeinschaftliche Bestimmung des Begriffs ‚Unternehmen in Schwierigkeiten‘. Gleichwohl geht die Kommission davon aus, dass sich ein Unternehmen im Sinne dieser Leitlinien in Schwierigkeiten befindet, wenn es nicht in der Lage ist, mit eigenen finanziellen Mitteln oder Fremdmitteln, die ihm von seinen Eigentümern/Anteilseignern oder Gläubigern zur Verfügung gestellt werden, Verluste zu beenden, die das Unternehmen auf kurze oder mittlere Sicht so gut wie sicher in den wirtschaftlichen Untergang treiben werden, wenn der Staat nicht eingreift.

    (5) Als Unternehmen in Schwierigkeiten im Sinne dieser Leitlinien gilt, unabhängig von der Größe, insbesondere ein Unternehmen, wenn

    a) bei Gesellschaften, bei denen die Haftung auf das Gesellschaftskapital beschränkt ist …, mehr als die Hälfte des gezeichneten Kapitals verschwunden ist … und mehr als ein Viertel dieses Kapitals während der letzten zwölf Monate verlorenging;

    b) bei Gesellschaften mit unbeschränkter Haftung … mehr als die Hälfte der in den Geschäftsbüchern ausgewiesenen Eigenmittel verschwunden ist und mehr als ein Viertel dieser Mittel während der letzten zwölf Monate verlorenging;

    c) unabhängig von der Unternehmensform die im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Voraussetzungen für die Eröffnung eines Kollektivverfahrens wegen Insolvenz erfüllt sind.

    (6) Zu den typischen Symptomen eines Unternehmens in Schwierigkeiten gehören zunehmende Verluste, sinkende Umsätze, wachsende Lagerbestände, Überkapazitäten, verminderter Cashflow, zunehmende Verschuldung und Zinsbelastung sowie Abnahme oder Verlust des Reinvermögenswerts. Schlimmstenfalls ist das Unternehmen bereits insolvent oder befindet sich wegen Zahlungsunfähigkeit in einem Kollektivverfahren nach innerstaatlichem Recht. Die vorliegenden Leitlinien finden dann auf Beihilfen Anwendung, die im Rahmen eines solchen Verfahrens gewährt werden, das den Fortbestand des Unternehmens sichert. Eine Umstrukturierungsbeihilfe kommt jedoch nur dann in Betracht, wenn das Unternehmen nachweislich nicht in der Lage ist, sich aus eigener Kraft oder mit Mitteln seiner Eigentümer/Anteilseigner oder Gläubiger zu sanieren.

    …“

    3 In Bezug auf Beihilferegelungen zugunsten von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) sieht Ziff. 4 der Leitlinien von 1999 vor:

    „4.1. Allgemeine Grundsätze

    (64) Die Kommission wird künftig Beihilferegelungen zur Rettung und/oder Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten nur zugunsten [von KMU] im Sinne der Gemeinschaftsdefinition genehmigen. Vorbehaltlich der nachstehenden Bestimmungen finden die [Ziffern] 2 und 3 auf die Beurteilung der Vereinbarkeit solcher Regelungen Anwendung. Jede im Rahmen einer Regelung gewährte Beihilfe, die eine dieser Bedingungen nicht erfüllt, muss einzeln notifiziert und von der Kommission im Voraus genehmigt werden.

    4.2. Förderungswürdigkeit

    (65) Im Rahmen der künftig zulässigen Beihilferegelungen können – soweit sektorale Bestimmungen nichts anderes vorsehen – von der Einzelnotifizierung nur Beihilfen zugunsten [von KMU] freigestellt werden, die mindestens eines der drei in Randnummer 5 genannten Kriterien erfüllen. Beihilfen zugunsten von Unternehmen, die keinem der drei Kriterien genügen, sind bei der Kommission einzeln anzumelden, damit diese beurteilen kann, ob es sich tatsächlich um ein Unternehmen in Schwierigkeiten handelt.

    …“

    4 Ziff. 6 der Leitlinien von 1999 bezieht sich auf zweckdienliche Maßnahmen im Sinne von Art. 88 Abs. 1 EG. Zur Anpassung der Rettungs- oder Umstrukturierungsbeihilferegelungen heißt es dort:

    „(94) Die Mitgliedstaaten müssen ihre bestehenden Rettungs- und Umstrukturierungsbeihilferegelungen, die nach dem 30. Juni 2000 in Kraft sein werden, an die vorliegenden Leitlinien und insbesondere die Bestimmungen von [Ziffer] 4 anpassen.

    (95) Damit die Kommission kontrollieren kann, ob diese Anpassungen vorgenommen wurden, übermitteln die Mitgliedstaaten ihr vor dem 31. Dezember 1999 ein Verzeichnis aller dieser Regelungen. Anschließend und in jedem Fall vor dem 30. Juni 2000 müssen sie der Kommission hinreichende Angaben machen, damit diese nachprüfen kann, ob die Regelungen entsprechend den vorliegenden Leitlinien geändert wurden.“

  2. Genehmigte Beihilferegelung

    5 Die Bürgschaftsrichtlinien des Freistaats Sachsen für die Wirtschaft und die freien Berufe sowie die Land- und Forstwirtschaft sehen zwei Bürgschaftsvarianten vor, zum einen Bürgschaften als Betriebs- und Investitionsbeihilfen mit regionaler Zielsetzung (im Folgenden: Variante Regionalbeihilfen) und zum anderen Bürgschaften als Rettungs- und Umstrukturierungsbeihilfen (im Folgenden: Variante Rettungs- und Umstrukturierungsbeihilfen). Die Kommission hat diese Richtlinien des Freistaats Sachsen mit Entscheidung SG (93) D/9273 vom 7. Juni 1993 betreffend die staatliche Beihilfe Nr. N 73/93 genehmigt. Es handelt sich also um eine genehmigte Beihilferegelung (im Folgenden: genehmigte Beihilferegelung). In der genannten Entscheidung vom 7. Juni 1993 stellt die Kommission klar, dass Bürgschaften zugunsten von Unternehmen, von denen der Bürge wisse oder als sorgfältiger Kaufmann wissen sollte, dass sie sich in Schwierigkeiten befänden, eine Beihilfe darstellten, die nicht von der fraglichen Entscheidung abgedeckt sei und der Kommission einzeln notifiziert werden sollte.

    6 Die genehmigte Beihilferegelung wurde an die Leitlinien der Gemeinschaft für die Beurteilung von Staatlichen Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten in ihrer Fassung von 1994 (ABl. 1994, C 368, S. 12, im Folgenden: Leitlinien von 1994) angepasst. So hat die Kommission am 13. März 1996 die Entscheidung 96/475/EG betreffend die Vereinbarkeit der staatlichen Bürgschaften für Umstrukturierungsmaßnahmen (einschließlich Sanierungs- und Konsolidierungsvorhaben) von großen Unternehmen in Schwierigkeiten im Rahmen der Bürgschaftsregelungen der Länder Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Bayern, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Sachsen mit dem Gemeinsamen Markt (ABl. L 194, S. 25) erlassen, mit der festgestellt wird, dass die Gewährung von Bürgschaften für Umstrukturierungsmaßnahmen für große Unternehmen in Schwierigkeiten im Rahmen einer Bürgschaftsregelung wie der des Freistaats Sachsen der Kommission im Einzelfall zu notifizieren sei. Für die Definition des Begriffs „Unternehmen in Schwierigkeiten“ verweist diese Entscheidung auf die Kriterien in den Leitlinien von 1994. Mit Schreiben vom 19. Dezember 1996 bestätigte die deutsche Regierung, dass der Freistaat Sachsen diese Entscheidung ordnungsgemäß umgesetzt habe.

    7 Da sie die Definition des Begriffs „Unternehmen in Schwierigkeiten“ für vage hielten, sahen die deutschen Behörden und die Kommission eine Operationalisierung des Begriffs zur Anwendung des Bürgschaftsprogramms der deutschen Bundesländer als notwendig an. Diese Operationalisierung war Gegenstand eines Schreibens der Kommission vom 2. März 1998.

    8 In diesem Schreiben schlug die Kommission zweckdienliche Maßnahmen für die Anwendung der Bürgschaftsrichtlinien der deutschen Bundesländer, darunter die genehmigte Beihilferegelung, und insbesondere folgende Definition des Begriffs „Unternehmen in Schwierigkeiten“ vor (im Folgenden: zweckdienliche Maßnahme E 16/94):

    „Ein Unternehmen ist für die Zwecke der genannten Bürgschaftsregelungen als in Schwierigkeiten befindlich anzusehen, wenn eines der folgenden Kriterien erfüllt ist:

    – das betroffene Unternehmen [ist] zahlungsunfähig bzw. überschuldet im Sinne der [Konkursordnung] bzw. [des Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung] …

    – mehr als die Hälfte des buchmäßigen...

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