Conclusiones del Abogado General Sr. A. Rantos, presentadas el 10 de febrero de 2021.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:103
Date10 February 2021
Celex Number62019CC0718
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ATHANASIOS RANTOS

vom 10. Februar 2021(1)

Rechtssache C718/19

Ordre des barreaux francophones et germanophone,

Association pour le droit des Étrangers ASBL,

Coordination et Initiatives pour et avec les Réfugiés et Étrangers ASBL,

Ligue des Droits de l’Homme ASBL,

Vluchtelingenwerk Vlaanderen ASBL

gegen

Conseil des ministres

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour constitutionnelle [Verfassungsgerichtshof, Belgien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 und 21 AEUV – Richtlinie 2004/38/EG – Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten – Entscheidung zur Beendigung des Aufenthalts aus Gründen der öffentlichen Ordnung – Präventive Maßnahmen zur Vermeidung von Fluchtgefahr während der Frist für die Ausreise oder ihrer Verlängerung – Gleiche oder ähnliche nationale Bestimmungen, wie sie gemäß Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115/EG für Drittstaatsangehörige gelten – Weigerung des Unionsbürgers, einer Entscheidung zur Beendigung des Aufenthalts aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit nachzukommen – Höchstdauer der Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung“






I. Einleitung

1. Mit ihren beiden Vorlagefragen möchte die belgische Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof) der Sache nach wissen, ob die Art. 20 und 21 AEUV sowie die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38/EG(2) (im Folgenden: Aufenthaltsrichtlinie) es einem Mitgliedstaat verwehren, auf Unionsbürger und deren Familienangehörige, gegen die eine Ausweisungsverfügung nach dieser Richtlinie ergangen ist, gemäß der Richtlinie 2008/115/EG(3) (im Folgenden: Rückführungsrichtlinie) die gleichen oder ähnliche Maßnahmen anzuwenden, wie sie nach nationalem Recht für illegal aufhältige Drittstaatsangehörige gelten.

2. In dieser Hinsicht hat der Gerichtshof entschieden, dass es dem nationalen Gesetzgeber nicht verwehrt ist, sich an den Bestimmungen einer anderen Richtlinie auszurichten, „wenn dies zweckmäßig erscheint und soweit keine andere [Unions]vorschrift dem entgegensteht“(4). So hat der Gerichtshof im Urteil Petrea(5) ausgeführt, dass „die Mitgliedstaaten sich an der [Rückführungsrichtlinie] ausrichten können, um die zuständigen Behörden und das anwendbare Verfahren für den Erlass einer [nach der Aufenthaltsrichtlinie ergangenen] Rückkehrentscheidung gegen einen Unionsbürger … festzulegen, wenn keine Unionsvorschrift dem entgegensteht“.

3. Auch wenn diese Rechtsprechung im vorliegenden Fall eine Verneinung der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen nahelegt, bleibt doch zu prüfen, ob sie auch im Rahmen von Maßnahmen wie den hier in Rede stehenden – d. h. präventiven Maßnahmen zur Vermeidung von Fluchtgefahr nach Erlass einer Ausweisungsverfügung und Maßnahmen der Inhaftnahme zur Sicherung der Vollziehung der Abschiebung – herangezogen werden kann, die sich dem vorlegenden Gericht zufolge auf die Ausübung des Rechts selbst, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, auswirken und daher möglicherweise nicht als Maßnahmen rein verfahrensrechtlicher Art anzusehen seien.

4. Anhand dieser Fragen wird der Gerichtshof erstmals die Vereinbarkeit nationaler Normen, mit denen die Vollziehung von Ausweisungsverfügungen nach der Aufenthaltsrichtlinie gesichert werden soll, mit dem Unionsrecht prüfen können.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

1. Aufenthaltsrichtlinie

5. Im 16. Erwägungsgrund der Aufenthaltsrichtlinie heißt es: „Solange die Aufenthaltsberechtigten die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen, sollte keine Ausweisung erfolgen.“

6. Nach Art. 14 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie steht Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen das Aufenthaltsrecht nach deren Art. 6 zu, solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen, und das Aufenthaltsrecht nach deren Art. 7, 12 und 13, solange sie die dort genannten Voraussetzungen erfüllen. Abweichend von diesen Bestimmungen sieht Art. 14 Abs. 4 der Aufenthaltsrichtlinie vor, dass gegen Unionsbürger auf keinen Fall eine Ausweisung verfügt werden darf, wenn sie Arbeitnehmer oder Selbständige sind oder wenn sie in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist sind, um Arbeit zu suchen.

7. Nach Art. 15 („Verfahrensgarantien“) Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie finden „[d]ie Verfahren der Artikel 30 und 31 … sinngemäß auf jede Entscheidung Anwendung, die die Freizügigkeit von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen beschränkt und nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erlassen wird“.

8. Art. 27 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie sieht vor, dass „die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken [dürfen]“ und dass „[b]ei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit … der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren [ist] und … ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein [darf]. … Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.“

9. Art. 28 („Schutz vor Ausweisung“) Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie lautet: „Bevor der Aufnahmemitgliedstaat eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, berücksichtigt er insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat“. Nach Abs. 2 dieses Artikels darf „[d]er Aufnahmemitgliedstaat … gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen“.

10. Gemäß Art. 30 Abs. 3 dieser Richtlinie ist „[i]n der Mitteilung [von Entscheidungen nach ihrem Art. 27 Abs. 1] … anzugeben, … gegebenenfalls binnen welcher Frist [der Betroffene] das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu verlassen hat. Außer in ordnungsgemäß begründeten dringenden Fällen muss die Frist für das Verlassen des Hoheitsgebiets mindestens einen Monat, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Mitteilung, betragen.“

11. Nach Art. 33 Abs. 2 dieser Richtlinie muss, wenn „eine Ausweisungsverfügung … mehr als zwei Jahre nach ihrem Erlass vollstreckt [wird], … der Mitgliedstaat überprüfen, ob von dem Betroffenen eine gegenwärtige und tatsächliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit ausgeht, und beurteilen, ob seit dem Erlass der Ausweisungsverfügung eine materielle Änderung der Umstände eingetreten ist.“

2. Rückführungsrichtlinie

12. Dem 16. Erwägungsgrund der Rückführungsrichtlinie zufolge sollte „[d]as Mittel der Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung … nur begrenzt zum Einsatz kommen und sollte im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegen. Eine Inhaftnahme ist nur gerechtfertigt, um die Rückkehr vorzubereiten oder die Abschiebung durchzuführen und wenn weniger intensive Zwangsmaßnahmen ihren Zweck nicht erfüllen.“

13. Nach ihrem Art. 1 enthält diese Richtlinie gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschafts- und des Völkerrechts anzuwenden sind.

14. Gemäß ihrem Art. 2 Abs. 3 findet diese Richtlinie keine Anwendung auf Personen, die das Unionsrecht auf freien Personenverkehr genießen.

15. Nach Art. 3 Nr. 7 der Rückführungsrichtlinie bezeichnet der Ausdruck „,Fluchtgefahr‘: das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich Drittstaatsangehörige einem Rückkehrverfahren durch Flucht entziehen könnten“.

16. Gemäß Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.

17. Nach Art. 7 („Freiwillige Ausreise“) Abs. 3 dieser Richtlinie können den Betreffenden für die Dauer der Frist für die freiwillige Ausreise bestimmte Verpflichtungen zur Vermeidung einer Fluchtgefahr auferlegt werden, wie eine regelmäßige Meldepflicht bei den Behörden, die Pflicht zur Hinterlegung einer angemessenen finanziellen Sicherheit, die Pflicht zum Einreichen von Papieren oder die Verpflichtung, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten.

18. In Kapitel IV („Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung“) der Rückführungsrichtlinie sieht Art. 15 Abs. 1 vor, dass, „[s]ofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, … die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen [dürfen], um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn a) Fluchtgefahr besteht oder b) die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern. Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und [darf] sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.“ Nach Abs. 5 dieses Artikels wird „[d]ie Haft … so lange aufrechterhalten, wie die in Absatz 1 dargelegten Umstände gegeben...

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