Opinion of Advocate General Richard de la Tour delivered on 29 September 2022.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:740
Date29 September 2022
Celex Number62021CC0524
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 29. September 2022(1)

Verbundene Rechtssachen C524/21 und C525/21

IG

gegen

Agenţia Judeţeană de Ocupare a Forţei de Muncă Ilfov (C524/21)

und

Agenţia Municipală pentru Ocuparea Forţei de Muncă Bucureşti

gegen

IM (C525/21)

(Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Bucureşti [Berufungsgericht Bukarest, Rumänien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 2008/94/EG – Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers – Übernahme der Befriedigung der Ansprüche der Arbeitnehmer durch die Garantieeinrichtungen – Begrenzung der Zahlungspflicht der Garantieeinrichtungen – Rückforderung bei Überschreitung des Zeitraums von drei Monaten vor/nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens“






I. Einleitung

1. Die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers(2).

2. Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zum einen zwischen IG und der Agenția Județeană de Ocupare a Forței de Muncă Ilfov (Regionale Agentur für Arbeit Ilfov, Rumänien, im Folgenden: AJOFM Ilfov) (Rechtssache C‑524/21) und zum anderen zwischen der Agenția Municipală pentru Ocuparea Forței de Muncă București (Agentur für Arbeit der Stadt Bukarest, Rumänien, im Folgenden: AMOFM Bukarest) und IM (Rechtssache C‑525/21) über die Rückforderung von Beträgen, die von einer Arbeitsentgeltgarantieeinrichtung für aufgrund der Insolvenz des Arbeitgebers nicht erfüllte Arbeitsentgeltansprüche gezahlt wurden. Es stellt sich nämlich die Frage, ob und wie diese Beträge vom Arbeitnehmer zurückgefordert werden können, wenn sie nicht für den in der Richtlinie 2008/94 vorgesehenen Bezugszeitraum gezahlt oder nach Ablauf der nationalen gesetzlichen Verjährungsfrist geltend gemacht wurden.

3. In den vorliegenden Schlussanträgen, die sich gemäß dem Ersuchen des Gerichtshofs auf die dritte und die fünfte Vorlagefrage konzentrieren, werde ich erläutern, warum die Richtlinie 2008/94 sowie die Grundsätze der Äquivalenz, der Effektivität und des Vertrauensschutzes dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung und Praxis entgegenstehen, die ohne Übergangsmaßnahmen die Rückforderung von Beträgen vorsieht, die zu Unrecht für Zeiträume gezahlt wurden, die den gesetzlichen Rahmen überschreiten, oder nach Ablauf der Verjährungsfrist geltend gemacht wurden, wenn die betroffenen ehemaligen Arbeitnehmer nicht mehr in der Lage sind, die Zahlung von Beträgen für ausstehendes Arbeitsentgelt bei der Garantieeinrichtung zu beantragen.

4. In Fällen, in denen die Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Rückforderung oder der Entscheidung des angerufenen Gerichts noch in der Lage wären, ihre Rechte aus der Richtlinie 2008/94 geltend zu machen, muss das vorlegende Gericht prüfen, ob die Modalitäten der Umsetzung dieser Richtlinie in Bezug auf die Rückforderung der ersten gezahlten Beträge zum einen mit dem Äquivalenzgrundsatz im Einklang stehen, der verlangt, dass diese Verfahrensmodalitäten nicht ungünstiger sind als diejenigen, die die Behandlung vergleichbarer Situationen rein innerstaatlicher Natur betreffen, und zum anderen mit dem Effektivitätsgrundsatz, der verlangt, dass diese Verfahrensmodalitäten die Ausübung der vom Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Richtlinie 2008/94

5. Die Erwägungsgründe 2, 3 und 7 der Richtlinie 2008/94 lauten:

„(2) Unter Nummer 7 der am 9. Dezember 1989 angenommenen Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer heißt es, dass die Verwirklichung des Binnenmarkts zu einer Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer in der [Europäischen Union] führen muss und dass diese Verbesserung, soweit nötig, dazu führen muss, dass bestimmte Bereiche des Arbeitsrechts wie die Verfahren bei Massenentlassungen oder bei Konkursen ausgestaltet werden.

(3) Es sind Bestimmungen notwendig, die die Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers schützen und um ihnen ein Minimum an Schutz zu sichern, insbesondere die Zahlung ihrer nicht erfüllten Ansprüche zu gewährleisten; dabei muss die Notwendigkeit einer ausgewogenen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der [Union] berücksichtigt werden. Deshalb sollten die Mitgliedstaaten eine Einrichtung schaffen, die die Befriedigung der nicht erfüllten Arbeitnehmeransprüche garantiert.

(7) Die Mitgliedstaaten können Grenzen für die Verpflichtungen der Garantieeinrichtungen festlegen, die mit der sozialen Zielsetzung der Richtlinie vereinbar sein müssen und die unterschiedliche Höhe von Ansprüchen berücksichtigen können.“

6. Kapitel I („Geltungsbereich und Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2008/94 enthält deren Art. 1 und 2.

7. Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94 lautet:

„Diese Richtlinie gilt für Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen gegen Arbeitgeber, die zahlungsunfähig im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 sind.“

8. Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94 bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie gilt ein Arbeitgeber als zahlungsunfähig, wenn die Eröffnung eines nach den Rechts- und Verwaltungsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgeschriebenen Gesamtverfahrens beantragt worden ist, das die Insolvenz des Arbeitgebers voraussetzt und den teilweisen oder vollständigen Vermögensbeschlag gegen diesen Arbeitgeber sowie die Bestellung eines Verwalters oder einer Person, die eine ähnliche Funktion ausübt, zur Folge hat, und wenn die aufgrund der genannten Rechts- und Verwaltungsvorschriften zuständige Behörde

a) die Eröffnung des Verfahrens beschlossen hat; oder

b) festgestellt hat, dass das Unternehmen oder der Betrieb des Arbeitgebers endgültig stillgelegt worden ist und die Vermögensmasse nicht ausreicht, um die Eröffnung des Verfahrens zu rechtfertigen.“

9. Kapitel II der Richtlinie 2008/94 („Vorschriften über die Garantieeinrichtungen“) enthält die Art. 3 bis 5.

10. Art. 3 der Richtlinie 2008/94 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit vorbehaltlich des Artikels 4 Garantieeinrichtungen die Befriedigung der nicht erfüllten Ansprüche der Arbeitnehmer aus Arbeitsverträgen und Arbeitsverhältnissen sicherstellen, einschließlich, sofern dies nach ihrem innerstaatlichen Recht vorgesehen ist, einer Abfindung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses.

Die Ansprüche, deren Befriedigung die Garantieeinrichtung übernimmt, sind die nicht erfüllten Ansprüche auf Arbeitsentgelt für einen Zeitraum, der vor und/oder gegebenenfalls nach einem von den Mitgliedstaaten festgelegten Zeitpunkt liegt.“

11. Art. 4 der Richtlinie 2008/94 lautet:

„(1) Die Mitgliedstaaten können die in Artikel 3 vorgesehene Zahlungspflicht der Garantieeinrichtungen begrenzen.

(2) Machen die Mitgliedstaaten von der in Absatz 1 genannten Möglichkeit Gebrauch, so legen sie die Dauer des Zeitraums fest, für den die Garantieeinrichtung die nicht erfüllten Ansprüche zu befriedigen hat. Diese Dauer darf jedoch einen Zeitraum, der die letzten drei Monate des Arbeitsverhältnisses und die damit verbundenen Ansprüche auf Arbeitsentgelt umfasst und der vor und/oder nach dem Zeitpunkt gemäß Artikel 3 Absatz 2 liegt, nicht unterschreiten.

Die Mitgliedstaaten können festlegen, dass dieser Mindestzeitraum von drei Monaten innerhalb eines Bezugszeitraums von mindestens sechs Monaten liegen muss.

Die Mitgliedstaaten, die einen Bezugszeitraum von mindestens 18 Monaten vorsehen, können den Zeitraum, für den die Garantieeinrichtung die nicht erfüllten Ansprüche zu befriedigen hat, auf acht Wochen beschränken. In diesem Fall werden für die Berechnung des Mindestzeitraums die für die Arbeitnehmer vorteilhaftesten Zeiträume zugrunde gelegt.

(3) Die Mitgliedstaaten können Höchstgrenzen für die von der Garantieeinrichtung zu leistenden Zahlungen festsetzen. Diese Höchstgrenzen dürfen eine mit der sozialen Zielsetzung dieser Richtlinie zu vereinbarende soziale Schwelle nicht unterschreiten.

Machen die Mitgliedstaaten von dieser Befugnis Gebrauch, so teilen sie der [Europäischen] Kommission mit, nach welcher Methode sie die Höchstgrenze festsetzen.“

12. Art. 12 Buchst. a der Richtlinie 2008/94 sieht vor:

„Diese Richtlinie steht nicht der Möglichkeit der Mitgliedstaaten entgegen,

a) die zur Vermeidung von Missbräuchen notwendigen Maßnahmen zu treffen“.

B. Rumänisches Recht

13. Art. 2 der Legea nr. 200/2006 privind constituirea și utilizarea Fondului de garantare pentru plata creanțelor salariale (Gesetz Nr. 200/2006 über die Einrichtung und Verwendung des Garantiefonds zur Befriedigung von Arbeitsentgeltansprüchen)(3) vom 22. Mai 2006 sieht vor:

„Der Fondul de garantare [pentru plata creanțelor salariale, (Garantiefonds zur Befriedigung von Arbeitsentgeltansprüchen, Rumänien, im Folgenden: Garantiefonds)] sichert die Befriedigung von Arbeitsentgeltansprüchen aus Einzelarbeitsverträgen und Tarifverträgen, die Arbeitnehmer mit Arbeitgebern geschlossen haben, gegen die rechtskräftige Gerichtsentscheidungen über die Eröffnung von Insolvenzverfahren ergangen sind und denen das Recht auf Verwaltung ganz oder teilweise entzogen wurde …“

14. Art. 13 Abs. 1 Buchst. a des Gesetzes Nr. 200/2006 bestimmt:

„In den Grenzen und unter den Bedingungen dieses Kapitels werden die folgenden Kategorien von Arbeitsentgeltansprüchen aus Mitteln des Garantiefonds gedeckt:

a) ausstehendes Arbeitsentgelt“.

15. Art. 14 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 200/2006 lautet:

„Der Gesamtbetrag der vom Garantiefonds übernommenen Arbeitsentgeltansprüche darf den Betrag von drei durchschnittlichen Bruttoentgelten auf Landesebene pro Arbeitnehmer nicht übersteigen.“

16. Art. 15 Abs. 1 und 2 des Gesetzes Nr. 200/2006 bestimmt:

„(1) Die in Art. 13 Abs. 1 Buchst. a, c, d und e genannten Arbeitsentgeltansprüche werden für...

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