Opinion of Advocate General Pitruzzella delivered on 10 March 2022.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:183
Date10 March 2022
Celex Number62021CC0022
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

GIOVANNI PITRUZZELLA

vom 10. März 2022(1)

Rechtssache C22/21

SRS,

AA

gegen

Minister for Justice and Equality

(Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court [Oberster Gerichtshof, Irland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Berechtigte – Andere Familienangehörige – Mit dem Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft lebender Familienangehöriger – Drittstaatsangehöriger Cousin ersten Grades, der mit einem Unionsbürger zusammenwohnt – Abhängigkeit – Voraussetzungen – Prüfung durch die nationalen Behörden – Kriterien – Ermessensspielraum – Grenzen“






I. Einleitung

1. SRS wurde 1978 geboren und stammt aus Pakistan. Er wohnte seit 1997 mit seiner Familie im Vereinigten Königreich. 2013 erwarb er die britische Staatsangehörigkeit. AA, ein 1986 geborener pakistanischer Staatsangehöriger, ist sein Cousin ersten Grades. Nach einem Universitätsstudium in Pakistan setzte AA 2010 sein Studium im Vereinigten Königreich fort. Damals besaß er ein Visum zu Studienzwecken, das am 28. Dezember 2014 abgelaufen ist. Während seines gesamten Aufenthalts im Vereinigten Königreich lebte AA in London mit SRS sowie dessen Eltern und weiteren Angehörigen seiner Familie in einer Wohnung, die dem Bruder von SRS gehören soll. SRS zahlte diesem Bruder Miete. Am 11. Februar 2014 schlossen SRS und AA mit diesem Bruder einen gemeinsamen Mietvertrag für ein Jahr.

2. Im Januar 2015 zog SRS aus beruflichen Gründen nach Irland. Im März 2015 zog AA zu ihm in das irische Hoheitsgebiet nach, und seitdem wohnt er bei ihm. Am 24. Juni 2015 beantragte AA, als er sich ohne Visum im irischen Hoheitsgebiet aufhielt, bei den irischen Behörden die Erteilung einer Aufenthaltskarte als Familienangehöriger eines Unionsbürgers auf der Grundlage der European Communities (Free Movement of Persons) (No. 2) Regulations 2006 (Verordnung Nr. 2 von 2006 über die Europäischen Gemeinschaften [Freizügigkeit]) (im Folgenden: irische Verordnung von 2006)(2), mit denen die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG(3) in irisches Recht umgesetzt wurde. Regulation 7 der irischen Verordnung von 2006 sah nämlich vor, dass der „zugelassene Familienangehörige“ eines Unionsbürgers, der sich seit mindestens drei Monaten in Irland aufhält, eine Aufenthaltskarte beantragen konnte.

3. Regulation 2(1) der irischen Verordnung von 2006 definierte „zugelassene Familienangehörige“ eines Unionsbürgers als „jedes Familienmitglied unabhängig von seiner Staatsbürgerschaft, das kein anerkannter Familienangehöriger des Unionsbürgers ist und im Land seiner Herkunft, seines gewöhnlichen Aufenthalts oder seines früheren Aufenthalts a) von dem Unionsbürger Unterhalt gewährt bekommt, b) mit dem Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft lebt, c) wegen schwerwiegender gesundheitlicher Gründe die persönliche Pflege durch den Unionsbürger zwingend erfordert“.

4. Somit machte AA nicht geltend, zu der in Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2004/38(4) genannten Kategorie der Familienangehörigen des Unionsbürgers zu gehören. Dagegen machte AA geltend, von SRS Unterhalt gewährt zu bekommen und jedenfalls mit SRS in häuslicher Gemeinschaft zu leben.

5. Nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 „… erleichtert der Aufnahmemitgliedstaat [unbeschadet eines etwaigen persönlichen Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt der Betroffenen] nach Maßgabe seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Einreise und den Aufenthalt der folgenden Personen: jedes nicht unter die Definition in Artikel 2 Nummer 2 fallenden Familienangehörigen ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit, dem der primär aufenthaltsberechtigte Unionsbürger im Herkunftsland Unterhalt gewährt oder der mit ihm im Herkunftsland in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat, oder wenn schwerwiegende gesundheitliche Gründe die persönliche Pflege des Familienangehörigen durch den Unionsbürger zwingend erforderlich machen“.

6. Am 21. Dezember 2015 lehnte der Minister for Justice and Equality (Minister für Justiz und Gleichstellung, Irland) den Antrag von AA ab und begründete dies im Wesentlichen damit, dass AA keine hinreichenden Beweise dafür vorgelegt habe, dass SRS ihm Unterhalt gewähre oder dass er mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebe. Der Minister vertrat u. a. die Ansicht, dass der Zeitraum, in dem SRS und AA tatsächlich zusammengewohnt hätten, seitdem SRS den Unionsbürgerstatus erlangt habe, kürzer als zwei Jahre gewesen sei, dass die Eltern von SRS, sein Bruder und seine Schwester die gleiche Adresse in London hätten und dass, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass AA unter dieser Adresse gewohnt habe, dies keine hinreichende Grundlage für die Annahme sei, dass AA mit SRS in häuslicher Gemeinschaft gelebt habe. Ferner sei die finanzielle Abhängigkeit des AA von SRS nicht hinreichend belegt.

7. Nachdem SRS und AA zusätzliche Beweisstücke vorgelegt hatten, beantragten sie eine Überprüfung der Entscheidung des Ministers für Justiz und Gleichstellung. Am 21. Dezember 2016 bestätigte der Minister seine Entscheidung vom 21. Dezember 2015 aus denselben Gründen und befand, dass selbst unter der Annahme, dass SRS und AA unter derselben Adresse gewohnt hätten, nicht nachgewiesen worden sei, dass SRS zu dem Zeitpunkt, als AA bei ihm in London gewohnt habe, tatsächlich der Haushaltsvorstand gewesen sei, wie es Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 verlange.

8. AA und SRS erhoben beim High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) Klage auf Nichtigerklärung dieser Entscheidung. Vor diesem Gericht legte SRS erneut die finanzielle Unterstützung im Einzelnen dar, die er seinem Cousin ersten Grades im Zeitraum ihres Zusammenwohnens in London gegeben habe, und trug vor, dass er angesichts des fortgeschrittenen Alters seiner Eltern und des längeren Pakistanaufenthalts seines Bruders die einzige erwerbstätige Person seines Haushalts sei. Mit Urteil vom 25. Juli 2018 wies der High Court (Hoher Gerichtshof) die Klage von SRS und AA mit der Begründung ab, dass bei AA weder angenommen werden könne, dass ihm von SRS Unterhalt gewährt werde, noch dass er mit ihm in einer von SRS geführten häuslichen Gemeinschaft lebe, wobei der High Court (Hoher Gerichtshof) jedoch einräumte, dass es sich dabei um einen unklaren und an keiner Stelle definierten Begriff handele.

9. AA und SRS legten beim Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) Berufung ein und machten geltend, das erstinstanzliche Gericht habe die Wendung des mit einem Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft lebenden Familienangehörigen zu eng ausgelegt. In einem Urteil vom 19. Dezember 2019 entschied der Court of Appeal (Berufungsgericht) unter erneutem Hinweis auf die Schwierigkeiten bei der Auslegung dieser Wendung allerdings, dass das bloße Zusammenwohnen unter derselben Adresse keine ausreichende Grundlage für die Annahme sei, dass AA und SRS in einer häuslichen Gemeinschaft gelebt hätten, die von SRS geführt worden sei. Damit bei einem Familienangehörigen angenommen werden könne, dass er mit einem Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft lebe, müsse er integraler Bestandteil des Familienverbands sein und es in absehbarer oder vernünftigerweise absehbarer Zeit bleiben. Zudem müsse er mit dem Unionsbürger nicht allein aus praktischen Gründen, sondern auch aus Gründen der affektiven und sozialen Bindung zusammenwohnen.

10. Da AA und SRS noch immer nicht obsiegten, haben sie beschlossen, beim vorlegenden Gericht einen letzten Rechtsbehelf einzulegen, der gerade in Bezug auf die Fragen, wie die Wendung des mit einem Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft lebenden Familienangehörigen zu definieren ist und ob von diesem Unionsbürger zu verlangen ist, dass er diese häusliche Gemeinschaft tatsächlich führt, am 20. Juli 2020 zugelassen worden ist(5).

11. Zur Voraussetzung, mit dem Unionsbürger in der von ihm geführten häuslichen Gemeinschaft zu leben, vertritt der Minister für Justiz und Gleichstellung weiterhin die Ansicht, dass allein das Zusammenwohnen des Familienangehörigen, gegebenenfalls einschließlich einer finanziellen Unterstützung durch den Unionsbürger, keine hinreichende Grundlage für die Annahme sei, dass dieser so untergebrachte und unterstützte Angehörige mit dem Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft lebe. Der Minister erinnert daran, dass der Aufenthalt von AA im Unionsgebiet auf Studienzwecke beschränkt gewesen sei und der Mietvertrag mit dem Bruder von SRS über die Bewohnung seines Hauses ebenfalls befristet gewesen sei. Also gebe es keinen Anhaltspunkt, der die Annahme stützen könne, dass die Lebensgemeinschaft über die Studienzeit von AA hinaus habe andauern sollen. Zudem sei Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 unter Berücksichtigung der Folgen auszulegen, die eine etwaige Versagung eines Aufenthaltstitels auf die tatsächliche Ausübung des Freizügigkeitsrechts des Unionsbürgers habe. Es stehe jedoch fest, dass SRS ohne AA nach Irland gereist sei. Desgleichen müsse für eine gewisse Auslegungskohärenz gesorgt werden, so dass man bei der Auslegung von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 nicht zu einer letztlich günstigeren Lage der von dieser Bestimmung erfassten Familienangehörigen – die durch die Richtlinie jedoch grundsätzlich weniger geschützt seien – als bei den in Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie genannten Angehörigen der Kernfamilie gelangen dürfe.

12. AA und SRS machen geltend, dass die Sprachfassungen von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 voneinander abwichen und die englische Sprachfassung eine zusätzliche Voraussetzung, die an die...

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