Opinion of Advocate General Pitruzzella delivered on 25 May 2023.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:435
Date25 May 2023
Celex Number62021CC0583
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

GIOVANNI PITRUZZELLA

vom 25. Mai 2023(1)

Verbundene Rechtssachen C583/21 bis C586/21

NC (C583/21),

JD (C584/21),

TA (C585/21),

FZ (C586/21)

gegen

BA,

DA,

DV,

CG

(Vorabentscheidungsersuchen des Juzgado de lo Social de Madrid [Arbeits- und Sozialgericht Madrid, Spanien])

„Vorabentscheidungsersuchen – Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen – Versetzung eines Notars auf eine andere Notarstelle – Anwendbarkeit der Vorschriften der Richtlinie 2001/23/EG auf die Arbeitnehmer“






1. Kann die Übernahme eines Notariats durch einen anderen Notar einen Unternehmensübergang darstellen, damit die Ansprüche der Arbeitnehmer gewahrt werden?

I. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

Richtlinie 2001/23/EG

2. Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23(2) lautet:

„a) Diese Richtlinie ist auf den Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- bzw. Betriebsteilen auf einen anderen Inhaber durch vertragliche Übertragung oder durch Verschmelzung anwendbar.

b) Vorbehaltlich Buchstabe a) und der nachstehenden Bestimmungen dieses Artikels gilt als Übergang im Sinne dieser Richtlinie der Übergang einer ihre Identität bewahrenden wirtschaftlichen Einheit im Sinne einer organisierten Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit.

c) Diese Richtlinie gilt für öffentliche und private Unternehmen, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, unabhängig davon, ob sie Erwerbszwecke verfolgen oder nicht. Bei der Übertragung von Aufgaben im Zuge einer Umstrukturierung von Verwaltungsbehörden oder bei der Übertragung von Verwaltungsaufgaben von einer Behörde auf eine andere handelt es sich nicht um einen Übergang im Sinne dieser Richtlinie.“

3. Art. 3 Abs. 1 und 3 der Richtlinie sieht vor:

„1. Die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsvertrag oder Arbeitsverhältnis gehen aufgrund des Übergangs auf den Erwerber über.

Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass der Veräußerer und der Erwerber nach dem Zeitpunkt des Übergangs gesamtschuldnerisch für die Verpflichtungen haften, die vor dem Zeitpunkt des Übergangs durch einen Arbeitsvertrag oder ein Arbeitsverhältnis entstanden sind, der bzw. das zum Zeitpunkt des Übergangs bestand.

3. Nach dem Übergang erhält der Erwerber die in einem Kollektivvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen bis zur Kündigung oder zum Ablauf des Kollektivvertrags bzw. bis zum Inkrafttreten oder bis zur Anwendung eines anderen Kollektivvertrags in dem gleichen Maße aufrecht, wie sie in dem Kollektivvertrag für den Veräußerer vorgesehen waren.

Die Mitgliedstaaten können den Zeitraum der Aufrechterhaltung der Arbeitsbedingungen begrenzen, allerdings darf dieser nicht weniger als ein Jahr betragen.“

4. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Der Übergang eines Unternehmens, Betriebs oder Unternehmens- bzw. Betriebsteils stellt als solcher für den Veräußerer oder den Erwerber keinen Grund zur Kündigung dar. Diese Bestimmung steht etwaigen Kündigungen aus wirtschaftlichen, technischen oder organisatorischen Gründen, die Änderungen im Bereich der Beschäftigung mit sich bringen, nicht entgegen.“

B. Spanisches Recht

5. Art. 1 der Ley del Notariado, de 28 de mayo de 1862 (Gesetz über das Notarwesen vom 28. Mai 1862)(3) definiert den Notar als „öffentlichen Amtsträger, der berechtigt ist, Verträge und andere außergerichtliche Rechtshandlungen gemäß den Gesetzen zu beurkunden“ und fügt hinzu, dass „es im gesamten Königreich nur eine Kategorie dieser Beamten gibt“.

6. Art. 44 Abs. 1 und 2 des Real Decreto Legislativo 2/2015, por el que se aprueba el texto refundido de la Ley del Estatuto de los Trabajadores (Königliches gesetzesvertretendes Dekret 2/2015 zur Billigung der Neufassung des Arbeitnehmerstatuts vom 23. Oktober 2015, BOE Nr. 255 vom 24. Oktober 2015, S. 100224, im Folgenden: Arbeitnehmerstatut) sieht vor:

„1. Wechselt der Inhaber eines Unternehmens, einer Beschäftigungsstelle oder einer selbstständigen Produktionseinheit, so führt dies nicht automatisch zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses; der neue Unternehmer tritt in die arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Rechte und Pflichten des früheren Unternehmers, einschließlich der Rentenverbindlichkeiten nach Maßgabe der insoweit geltenden besonderen Vorschriften sowie allgemein aller Verpflichtungen im Bereich des zusätzlichen sozialen Schutzes, die der Veräußerer eingegangen ist, ein.

2. Für die Zwecke der vorliegenden Bestimmung gilt als Übergang eines Unternehmens die Übertragung einer ihre Identität bewahrenden wirtschaftlichen Einheit im Sinne einer organisierten Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit.“

II. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

7. Die Arbeitnehmer NC, JD, TA und FZ arbeiteten in einem Notariat für verschiedene Notare, die dort die Notarstelle besetzten. Der Notar DV übergab am 30. September 2019, zum Zeitpunkt seiner Versetzung, jedem der Arbeitnehmer ein Schreiben, in dem er ihnen die Möglichkeit gab, sich mit ihm an seinen neuen Dienstort versetzen zu lassen oder das Arbeitsverhältnis zu beenden. Die Angestellten entschieden sich für eine Kündigung, und der Notar DV kündigte ihnen wegen wirtschaftlicher höherer Gewalt“ und zahlte ihnen eine Abfindung.

8. Am 20. Januar 2020 wurde BA zum Notar dieser Notarstelle ernannt und übernahm die Arbeitnehmer seines Vorgängers, und zwar zu denselben wirtschaftlichen Bedingungen und am selben Arbeitsort, an dem die Urkundenrolle aufbewahrt wird, die im nationalen Recht als Sammlung öffentlicher Urkunden und sonstiger Dokumente, die dieser Sammlung jedes Jahr hinzugefügt werden, definiert ist. Am 11. Februar 2020 schlossen BA und die Kläger Arbeitsverträge mit einer Probezeit von sechs Monaten.

9. Am 15. März 2020 erließ die Dirección General de Seguridad Jurídica y Fe Pública (Generaldirektion für Rechtssicherheit und öffentliche Beurkundung) des Ministerio de Justicia (Justizministerium, Spanien) wegen der Covid-19-Pandemie eine Anweisung, wonach nur Dringlichkeitsmaßnahmen durchgeführt werden sollten und die Notariate die von den Behörden empfohlenen Maßnahmen zur Abstandshaltung umsetzen und eine Rotation der Mitarbeiter einführen mussten. Am darauffolgenden Tag begaben sich NC, TA und JD in das Notariat und forderten BA auf, diese Maßnahmen umzusetzen. BA lehnte dies ab und sandte noch am selben Tag Kündigungsschreiben an NC, TA und JD sowie am 2. April 2020 an FZ, in denen es hieß, dass sie ihre Probezeit nicht bestanden hätten.

10. Die Kläger beantragten daher beim vorlegenden Gericht, die Kündigungen für nichtig oder rechtswidrig zu erklären, und machten geltend, dass ihre Betriebszugehörigkeit ab dem Tag zu berechnen sei, an dem sie ihre Tätigkeit in dem Notariat aufgenommen hätten, das sich in den Räumlichkeiten befinde, die nunmehr von BA genutzt würden.

11. BA trat ihren Forderungen entgegen und trug vor, dass als Stichtag für den Beginn der Betriebszugehörigkeit der 11. Februar 2020, der Tag des Vertragsschlusses zwischen den Parteien, gelten sollte.

12. Das vorlegende Gericht hat daher dem Gerichtshof die folgende Vorlagefrage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2001/23 – und somit die gesamte Richtlinie – auf einen Fall anwendbar, in dem ein Notar, der zugleich Beamter und privater Arbeitgeber des für ihn arbeitenden Personals ist und dessen Stellung als Arbeitgeber durch das allgemeine Arbeitsrecht und den Tarifvertrag des Sektors geregelt ist, den früheren Inhaber der Notarstelle in seinem Amt ablöst, seine Tätigkeit am selben Arbeitsplatz und mit derselben Ausstattung ausübt und die Urkundenrolle und das Personal, das bereits für den ehemaligen Inhaber der Notarstelle gearbeitet hat, übernimmt?

III. Rechtliche Würdigung

Vorbemerkungen

13. In den Ausgangsverfahren geht es um Arbeitnehmer, die jahrelang in einem Notariat beschäftigt waren und denen aus wirtschaftlichen Gründen gekündigt wurde, als ihr Arbeitgeber, ein Notar, an einen anderen Ort versetzt wurde. Diese Arbeitnehmer wurden dann nach Verhandlungen von dem neuen Notar, der das Notariat übernommen hatte, mit einem neuen Vertrag wieder eingestellt und in der Folge wegen Nichtbestehens der Probezeit entlassen.

14. Im Zusammenhang mit den Ausgangsverfahren stellen sich zahlreiche Rechtsfragen, die, wie sich den Akten entnehmen lässt, Folgendes betreffen: die Rechtmäßigkeit der ersten Kündigung, die Rechtmäßigkeit der zweiten Kündigung, die Dauer der Betriebszugehörigkeit der Arbeitnehmer, die Rechtmäßigkeit der Festlegung einer Probezeit im zweiten Vertrag und andere die Vergütung betreffenden Fragen. Dabei handelt es sich jedoch um Fragen, die nur von den nationalen Gerichten geklärt werden können.

15. Meine Analyse wird sich auf die Rechtsfrage beschränken, die im Hintergrund des gesamten Rechtsstreits steht und die nach Auffassung des vorlegenden Gerichts die rechtliche Voraussetzung für die spätere Entscheidung in den Ausgangsverfahren ist: Ist die in der Richtlinie 2001/23 vorgesehene Regelung über den Übergang von Unternehmen zur Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer auf den Fall anwendbar, in dem ein Notar seine Stelle wechselt und sein Nachfolger die Tätigkeit am selben Ort mit derselben Ausstattung fortsetzt und die Urkundenrolle sowie das Personal übernimmt, das bei seinem Vorgänger beschäftigt war?

16. Wenn die Richtlinie auf einen Fall wie den der Ausgangsverfahren anwendbar wäre und die erste Kündigung vorbehaltlich einer Überprüfung der Folgen auf der Grundlage des nationalen Rechts ohne eine andere Rechtfertigung als den Übergang selbst(4) ausgesprochen worden wäre, befände man sich in einer Situation, in der der neue Notar das Arbeitsverhältnis mit den Arbeitnehmern, die sich für einen ununterbrochenen Verbleib im Notariat entschieden hatten, wahrscheinlich...

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