Opinion of Advocate General Kokott delivered on 14 March 2024.

JurisdictionEuropean Union
Celex Number62022CC0639
ECLIECLI:EU:C:2024:243
Date14 March 2024
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 14. März 2024(1)

Verbundene Rechtssachen C639/22 bis C644/22

X (C639/22),

Stichting BPL Pensioen (C643/22),

Stichting Bedrijfstakpensioensfonds voor het levensmiddelenbedrijf (BPFL) (C644/22)

gegen

Inspecteur van de Belastingdienst Utrecht (C639/22, C643/22 und C644/22)

und

Fiscale Eenheid Achmea BV (C640/22),

Y (C641/22)

gegen

Inspecteur van de Belastingdienst Amsterdam (C640/22 und C641/22)

und

Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten

gegen

Inspecteur van de Belastingdienst Maastricht (C642/22)

(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Gelderland [Bezirksgericht Gelderland, Niederlande])

„Vorabentscheidungsersuchen – Mehrwertsteuerrichtlinie – Befreiungen – Verwaltung von Anlagevermögen – Begriff – Vergleichbarkeit mit einem OGAW – Rentenfonds – Investitionsrisiko der Anleger“






I. Einführung

1. In gleich mehreren niederländischen Vorabentscheidungsersuchen stellt sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen bestimmte Betriebsrentenfonds als Sondervermögen im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie)(2) anzusehen sind. Nach dieser Vorschrift definieren die Mitgliedstaaten die „Sondervermögen“. Die Niederlande haben die in Rede stehenden Betriebsrentenfonds bislang nicht als Sondervermögen definiert und gehen daher davon aus, dass an diese erbrachte Verwaltungsdienstleistungen mehrwertsteuerpflichtig sind.

2. Der Begriff des von den Mitgliedstaaten zu definierenden „Sondervermögens“ wird teilweise unionsrechtlich durch die OGAW-Richtlinie überlagert. Der Gerichtshof hat sich daher bereits in der Vergangenheit mit der Frage befasst, ob die Verwaltung von Rentenfonds von der Mehrwertsteuer befreit ist, wenn und weil diese mit einem OGAW vergleichbar sind.(3) Nun besteht die Möglichkeit, diese Rechtsprechung zu präzisieren.

3. Zudem ist zu klären, unter welchen Voraussetzungen sich Steuerpflichtige unmittelbar auf die Befreiungsvorschrift in Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie berufen können. Insbesondere stellt sich die Frage, inwieweit der Grundsatz der Neutralität das Ermessen der Mitgliedstaaten bei der Definition des „Sondervermögens“ beschränkt. Konkret ist zu untersuchen, ob eine Mehrwertsteuerbefreiung, die bestimmten Rentenfonds (aus der dritten Säule des nationalen Rentensystems) gewährt wird, auch auf andere Rentenfonds (hier der zweiten Säule) erstreckt werden muss.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

1. Mehrwertsteuerrichtlinie

4. Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„(1) Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:

g) die Verwaltung von durch die Mitgliedstaaten als solche definierten Sondervermögen“.

2. OGAW-Richtlinie

5. Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2009/65/EG über die Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (im Folgenden: OGAW-Richtlinie)(4) lautet:

„(2) Für die Zwecke dieser Richtlinie und vorbehaltlich des Artikels 3 bezeichnet der Ausdruck ‚OGAW‘ Organismen,

a) deren ausschließlicher Zweck es ist, beim Publikum beschaffte Gelder für gemeinsame Rechnung nach dem Grundsatz der Risikostreuung in Wertpapieren und/oder anderen in Artikel 50 Absatz 1 genannten liquiden Finanzanlagen zu investieren, und

b) deren Anteile auf Verlangen der Anteilinhaber unmittelbar oder mittelbar zu Lasten des Vermögens dieser Organismen zurückgenommen oder ausgezahlt werden. Diesen Rücknahmen oder Auszahlungen gleichgestellt sind Handlungen, mit denen ein OGAW sicherstellen will, dass der Kurs seiner Anteile nicht erheblich von deren Nettoinventarwert abweicht.

Die Mitgliedstaaten können eine Zusammensetzung der OGAW aus verschiedenen Teilfonds genehmigen.“

B. Niederländisches Recht

6. Art. 11 Abs. 1 Buchst. i Nr. 3 der Wet op de omzetbelasting 1968 (Umsatzsteuergesetz 1968) lautet:

„1. Unter den durch Verordnung festzulegenden Voraussetzungen sind von der Steuer befreit:

i) die folgenden … Dienstleistungen:

3. die Verwaltung eines von Investmentfonds bzw. Investmentgesellschaften für gemeinsame Anlagen angesammelten Vermögens.“

III. Sachverhalte der sechs Vorabentscheidungsersuchen

7. Sämtliche Vorabentscheidungsersuchen betreffen spezielle Betriebsrentenfonds. In den Rechtssachen C‑639/22 (X), C‑641/22 (Y), C‑642/22 (Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten), C‑643/22 (Stichting BPL Pensioen) und C‑644/22 (Stichting Bedrijfstakpensioensfonds voor het levensmiddelenbedrijf – BPFL) klagen diese selbst. Sie nahmen Dienstleistungen im Ausland ansässiger Verwalter in Anspruch, für die sie als Leistungsempfängerinnen die Mehrwertsteuer schuldeten. In der Rechtssache C‑640/22 (Fiscale Eenheid Achmea BV) hat die im Inland ansässige Klägerin selbst Verwaltungsleistungen gegenüber einem Rentenfonds erbracht, für die sie Mehrwertsteuer schuldete.

8. Die in Rede stehenden Betriebsrentenfonds berufen sich jeweils darauf, dass sie „Sondervermögen“ im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie sind. In diesem Fall wären die Verwaltungsleistungen von der Mehrwertsteuer befreit. Die niederländische Finanzverwaltung lehnt dies unter Verweis auf die Struktur des niederländischen Altersversorgungssystems und die konkrete Ausgestaltung der in Rede stehenden Betriebsrentenfonds ab.

9. Exemplarisch für die Ausgestaltung der in den Ausgangsverfahren konkret in Rede stehenden Betriebsrentenfonds ist die Rechtssache C‑644/22. Die Klägerin ist hier ein branchenspezifischer Betriebsrentenfonds für die Lebensmittelbranche. Die Mitgliedschaft der Beschäftigten in dem Rentenfonds ist gesetzlich vorgeschrieben.

10. Die Rentenordnung der Klägerin beruht auf einem Rentenleistungsvertrag im Sinne des niederländischen Rentengesetzes und sieht u. a. eine lebenslange oder zeitlich befristete Altersrente vor. Bemessungsgrundlage für die Rente ist das rentenversicherungspflichtige Entgelt abzüglich eines jährlich festgelegten Freibetrags. Insofern hängt die Höhe der Rentenanwartschaften und ‑leistungen primär von der Höhe des Arbeitsentgelts und der Beschäftigungszeit ab.

11. Die Finanzierung der Rentenleistungen erfolgt nach dem Kapitaldeckungsprinzip. Zudem bestehen nach den niederländischen Rechtsvorschriften bestimmte Anforderungen an den strategischen Deckungsgrad der Rentenfonds, also das Verhältnis des Vermögens des Fonds (Aktiva) zum Barwert der bestehenden Rentenverpflichtungen (Passiva). Die Einhaltung dieser Anforderungen wird durch eine staatliche Aufsicht sichergestellt.

12. Die versicherten Arbeitnehmer erwerben Rentenansprüche, die jährlich auf Grundlage des Verbraucherpreisindex angepasst werden können (sogenannte Indexierung). Eine Erhöhung der Rentenansprüche oder ‑anwartschaften (sogenannte Zulage) muss über die Anlagerendite erfolgen. Zudem dürfen Zulagen nicht gewährt werden, wenn der Deckungsgrad unter ein bestimmtes Niveau gefallen ist. In der Vergangenheit ist es ausschließlich im Jahr 2009 zur Gewährung einer Zulage gekommen.

13. Im Extremfall kann der Betriebsrentenfonds umgekehrt auch verpflichtet sein, die Rentenanwartschaften und ‑ansprüche zu kürzen. Aufgrund eines niedrigen Deckungsgrads zum 31. Dezember 2020 reichte die Klägerin einen entsprechenden Sanierungsplan bei der De Nederlandsche Bank (Zentralbank der Niederlande) ein. Der Sanierungsplan sieht eine Kürzung der aufgebauten Renten zum 31. Dezember 2021 um 0,85 % vor.

14. Den weiteren Vorabentscheidungsersuchen (C‑639/22, C‑640/22, C‑641/22, C‑642/22 und C‑643/22) liegt jeweils ein ähnlicher Sachverhalt zugrunde.

15. In der Rechtssache C‑641/22 bestand lediglich die zusätzliche Besonderheit, dass die Arbeitgeber für den Zeitraum zwischen 2014 und 2020 eine Garantie in Höhe von 250 000 000 Euro für den angestrebten Rentenaufbau übernommen hatten.

16. In der Rechtssache C‑640/22 fand bei dem in Rede stehenden Rentenfonds bereits seit dem 1. Januar 2018 kein aktiver Vermögensaufbau mehr statt. Zudem war der Rentenfonds aufgrund des niedrigen strategischen Deckungsgrads verpflichtet, sein gesamtes Vermögen an einen Versicherer oder einen anderen Rentenfonds zu übertragen.

IV. Vorabentscheidungsverfahren

17. Die Klägerinnen wehren sich vor der zuständigen Rechtbank Gelderland (Bezirksgericht Gelderland, Niederlande) gegen die Festsetzung von Mehrwertsteuer. Das Gericht hat die Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV in allen Verfahren folgende erste Frage und im Verfahren C‑644/22 noch eine zweite Frage vorgelegt:

1. Ist Art. 135 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass davon ausgegangen werden kann, dass die Mitglieder eines Rentenfonds, wie er im Ausgangsverfahren in Rede steht, ein Anlagerisiko tragen, und führt dies dazu, dass der Rentenfonds ein „Sondervermögen“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt? Ist dabei von Bedeutung:

– ob die Mitglieder ein individuelles Anlagerisiko tragen, oder reicht es aus, dass die Mitglieder als Gemeinschaft und sonst keiner die Folgen der Ergebnisse der Anlagen tragen;

– wie hoch das kollektive bzw. individuelle Risiko ist;

– inwiefern für die Höhe der Rentenleistungen andere Faktoren wie der Zeitraum des Rentenaufbaus, die Höhe des Arbeitsentgelts und der Abzinsungsfaktor mitbestimmend sind?

In dem Verfahren C‑641/22 zusätzlich noch:

– dass der Arbeitgeber für den Zeitraum von 2014 bis 2020 eine Garantie bis 250 000 000 Euro für die Verwirklichung des angestrebten Rentenaufbaus übernommen hat?

In dem Verfahren C‑640/22 stattdessen zusätzlich:

– dass der Rentenfonds seit dem 1. Januar 2018 keinen aktiven Aufbau mehr betreibt und aufgrund des niedrigen strategischen Deckungsgrads verpflichtet ist, das Gesamtvermögen an einen Versicherer oder einen anderen Rentenfonds zu übertragen?

2. Hat der Grundsatz der...

Get this document and AI-powered insights with a free trial of vLex and Vincent AI

Get Started for Free

Unlock full access with a free 7-day trial

Transform your legal research with vLex

  • Complete access to the largest collection of common law case law on one platform

  • Generate AI case summaries that instantly highlight key legal issues

  • Advanced search capabilities with precise filtering and sorting options

  • Comprehensive legal content with documents across 100+ jurisdictions

  • Trusted by 2 million professionals including top global firms

  • Access AI-Powered Research with Vincent AI: Natural language queries with verified citations

vLex

Unlock full access with a free 7-day trial

Transform your legal research with vLex

  • Complete access to the largest collection of common law case law on one platform

  • Generate AI case summaries that instantly highlight key legal issues

  • Advanced search capabilities with precise filtering and sorting options

  • Comprehensive legal content with documents across 100+ jurisdictions

  • Trusted by 2 million professionals including top global firms

  • Access AI-Powered Research with Vincent AI: Natural language queries with verified citations

vLex

Unlock full access with a free 7-day trial

Transform your legal research with vLex

  • Complete access to the largest collection of common law case law on one platform

  • Generate AI case summaries that instantly highlight key legal issues

  • Advanced search capabilities with precise filtering and sorting options

  • Comprehensive legal content with documents across 100+ jurisdictions

  • Trusted by 2 million professionals including top global firms

  • Access AI-Powered Research with Vincent AI: Natural language queries with verified citations

vLex

Unlock full access with a free 7-day trial

Transform your legal research with vLex

  • Complete access to the largest collection of common law case law on one platform

  • Generate AI case summaries that instantly highlight key legal issues

  • Advanced search capabilities with precise filtering and sorting options

  • Comprehensive legal content with documents across 100+ jurisdictions

  • Trusted by 2 million professionals including top global firms

  • Access AI-Powered Research with Vincent AI: Natural language queries with verified citations

vLex

Unlock full access with a free 7-day trial

Transform your legal research with vLex

  • Complete access to the largest collection of common law case law on one platform

  • Generate AI case summaries that instantly highlight key legal issues

  • Advanced search capabilities with precise filtering and sorting options

  • Comprehensive legal content with documents across 100+ jurisdictions

  • Trusted by 2 million professionals including top global firms

  • Access AI-Powered Research with Vincent AI: Natural language queries with verified citations

vLex

Unlock full access with a free 7-day trial

Transform your legal research with vLex

  • Complete access to the largest collection of common law case law on one platform

  • Generate AI case summaries that instantly highlight key legal issues

  • Advanced search capabilities with precise filtering and sorting options

  • Comprehensive legal content with documents across 100+ jurisdictions

  • Trusted by 2 million professionals including top global firms

  • Access AI-Powered Research with Vincent AI: Natural language queries with verified citations

vLex

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT