Opinion of Advocate General Kokott delivered on 8 June 2023.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:466
Date08 June 2023
Celex Number62021CC0457
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 8. Juni 2023(1)

Rechtssache C457/21 P

Europäische Kommission

gegen

Großherzogtum Luxemburg,

Amazon.com, Inc.,

Amazon EU S.à.r.l.

„Rechtsmittel – Staatliche Beihilfe – Gewährung eines vorteilhaften Verrechnungspreises – Selektiver steuerrechtlicher Vorteil – Bestimmung des Bezugssystems – OECD-Verrechnungspreisleitlinien als Bezugssystem – Bindung des Gerichtshofs an das von der Kommission und dem Gericht gewählte Bezugssystem – Beurteilung des richtigen Verrechnungspreises – Abgrenzung der Würdigung von Tatsachen von der Beurteilung von Rechtsfragen – Reduzierter Prüfungsmaßstab bei der Beurteilung einer möglicherweise falschen Steuerrechtsanwendung durch nationale Finanzbehörden – Steuervorbescheid“






I. Einleitung

1. Das vorliegende Rechtsmittel betrifft erneut(2) die Überprüfung eines Steuervorbescheids anhand des Beihilferechts. Während solche Steuervorbescheide einerseits der Rechtssicherheit dienen, besteht andererseits mitunter der latente Verdacht, dass sie in einigen Mitgliedstaaten auf wettbewerbsschädlichen Absprachen zwischen Steuerbehörden und Steuerpflichtigen beruhen.

2. Wiederum(3) geht es um Verrechnungspreise, die möglicherweise vom Fremdvergleichsgrundsatz abweichen. Die luxemburgische Steuerverwaltung hatte sich im Jahr 2003 gegenüber Amazon.com zur angemessenen Höhe einer Lizenzgebühr zwischen zwei Tochtergesellschaften geäußert. Deren Höhe hat Auswirkung auf die Körperschaftsteuerschuld der in Luxemburg ansässigen Amazon EU S.à.r.l. Je höher die Lizenzgebühr angesetzt wird, desto weniger Körperschaftsteuer fällt in Luxemburg an. Zur Bestimmung der angemessenen Lizenzgebühr wurde von Luxemburg und Amazon.com einvernehmlich eine bestimmte Methode zugrunde gelegt. Diese Verrechnungspreisvereinbarung sah die Kommission als eine Beihilfe an, da sie nicht den Fremdvergleichsgrundsätzen der OECD entsprochen habe. Die Kommission führte eine eigene Berechnung der angemessenen Höhe der Lizenzgebühr nach Maßgabe einer anderen Methode durch und kam zu einer geringeren Lizenzgebühr. Da dies eine höhere Körperschaftsteuerbelastung zur Folge gehabt hätte, habe der Steuervorbescheid der Tochtergesellschaft, die die Lizenzgebühr zahlte, einen selektiven Vorteil gewährt.

3. Im Verfahren gegen diesen Beihilfebeschluss der Kommission vor dem Gericht haben sich die Beteiligten vor allem über die Einzelheiten der angewendeten bzw. anzuwendenden Methode gestritten. Nicht gestritten wurde über die Frage, ob die Fremdvergleichsgrundsätze der OECD hier das zutreffende Bezugssystem einer Beihilfekontrolle sein können. Das Gericht konnte keine fehlerhafte Bestimmung der Verrechnungspreise feststellen und erklärte diesen Beschluss wegen des fehlenden Nachweises eines selektiven Vorteils für nichtig.

4. Zeitlich nach diesem Urteil des Gerichts stellte der Gerichtshof in der Rechtssache Fiat Chrysler Finance Europe/Kommission(4) klar, dass die OECD-Grundsätze allenfalls dann als Bezugssystem zur Bestimmung eines selektiven Vorteils herangezogen werden können, wenn sie in das nationale Recht übernommen wurden. Dies ist im luxemburgischen Recht nicht der Fall. Dennoch ist die Kommission der Auffassung, dass die Nichtigerklärung ihres Beschlusses durch das Gericht rechtsfehlerhaft erfolgt sei. Da das Bezugssystem zwischen allen Beteiligten unstreitig sei, habe das Urteil in der Rechtssache Fiat Chrysler Finance Europe/Kommission keinen Einfluss auf das vorliegende Rechtsmittel. Die Kommission beruft sich insoweit auf den Ultra-petita-Grundsatz.

5. Sollte dies zutreffen, dann würde sich anschließend die Frage stellen, inwieweit der Gerichtshof für die Überprüfung der „richtigen“ Berechnung eines Verrechnungspreises im Rechtsmittel zuständig ist. Die Kommission rügt insbesondere, dass das Gericht bestimmte Punkte (rechtliches Eigentum an den immateriellen Vermögenswerten, vertragliche Zuweisung von Rechten und Pflichten, Funktionsanalyse der eingeschalteten Tochtergesellschaften etc.) anders als sie gewürdigt habe. Allerdings ist für die Tatsachenwürdigung grundsätzlich das Gericht zuständig, und im Rechtsmittel vor dem Gerichtshof kann allenfalls eine Verfälschung von Tatsachen gerügt werden. Rechtsfragen fallen im Rechtsmittel hingegen in die originäre Zuständigkeit des Gerichtshofs.(5) Der vorliegende Fall zeigt jedoch, dass diese Abgrenzung bei der Überprüfung eines selektiven Vorteils Schwierigkeiten bereitet. Möglicherweise ist eine Einschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte (d. h. ein modifizierter Prüfungsmaßstab) geboten, sofern der Gerichtshof das nationale Steuerrecht im Hinblick auf das Bestehen eines selektiven Vorteils auslegt.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

6. Den unionsrechtlichen Rahmen bilden die Art. 107 ff. AEUV.

B. Luxemburgisches Recht

7. Art. 164 Abs. 3 des geänderten Gesetzes vom 4. Dezember 1967 über die Einkommensteuer (loi concernant l’impot sur le revenu, im Folgenden: LIR) bestimmt:

„Verdeckte Gewinnausschüttungen sind der Bemessungsgrundlage zuzurechnen. Eine verdeckte Gewinnausschüttung liegt insbesondere vor, wenn ein Aktionär, ein Gesellschafter oder eine interessierte Partei entweder direkt oder indirekt Gewinne von einem Unternehmen oder einem Verein bezieht, die er bzw. sie ohne diese Eigenschaft normalerweise nicht erhalten hätte.“

C. OECD-Musterabkommen und Leitlinien

8. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (im Folgenden: OECD) hat mehrere nicht verbindliche Leitlinien zur internationalen Steuerpraxis veröffentlicht. Insbesondere bildet das OECD-Musterabkommen auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und Vermögen die Grundlage vieler bilateraler Steuerabkommen zwischen OECD-Mitgliedstaaten und einer zunehmenden Anzahl von Nichtmitgliedstaaten. Es enthält auch Vorschriften über eine angemessene Gewinnaufteilung zwischen Gesellschaften innerhalb eines multinationalen Konzerns. Diesbezüglich heißt es in der von 2003 bis 2014 geltenden Fassung von Art. 9 Abs. 1 des OECD-Musterabkommens:

„[Wenn] die beiden Unternehmen in ihren kaufmännischen oder finanziellen Beziehungen an vereinbarte oder auferlegte Bedingungen gebunden sind, die von denen abweichen, die unabhängige Unternehmen miteinander vereinbaren würden, so dürfen die Gewinne, die eines der Unternehmen ohne diese Bedingungen erzielt hätte, wegen dieser Bedingungen aber nicht erzielt hat, den Gewinnen dieses Unternehmens zugerechnet und entsprechend besteuert werden.“

9. Die OECD gibt darüber hinaus Steuerbehörden und multinationalen Konzernen mit ihren Verrechnungspreisleitlinien Hinweise zur Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes an die Hand; diese Leitlinien werden ständig weiterentwickelt. Für die hier betroffenen Jahre sind vor allem die am 13. Juli 1995 angenommenen Verrechnungspreisleitlinien (im Folgenden: OECD-Verrechnungspreisleitlinien 1995) von Bedeutung.

10. Ziff. 1.13 der OECD-Verrechnungspreisleitlinien 1995 lautet:

„Der Fremdvergleichsgrundsatz ist in seinem theoretischen Ansatz fundiert, da er beim Austausch von Wirtschaftsgütern … oder der Erbringung von Dienstleistungen zwischen verbundenen Unternehmen der Funktionsweise des freien Marktes am nächsten kommt. Mag er auch in der Praxis nicht immer einfach anzuwenden sein, führt er doch im Allgemeinen zu angemessenen Gewinnverhältnissen zwischen Unternehmen von multinationalen Konzernen, die auch für Steuerverwaltungen akzeptabel sind. Er spiegelt die wirtschaftliche Realität der jeweiligen Tatsachen und Umstände des verbundenen Unternehmens wider und übernimmt als Maßstab das normale Marktgeschehen.“

11. In den OECD-Verrechnungspreisleitlinien werden diesbezüglich fünf Methoden zur Ermittlung eines Fremdvergleichspreises für konzerninterne Geschäftsvorfälle beschrieben: (i) die Preisvergleichsmethode (CUP-Methode), (ii) die Kostenaufschlagsmethode („Cost-plus-Methode“), (iii) die Wiederverkaufspreis-Methode, (iv) die TNMM (Transactional Net Margin Method = geschäftsvorfallbezogene Nettomargenmethode) und (v) die geschäftsvorfallbezogene Gewinnmethode. Im Allgemeinen muss nach den Gegebenheiten im Einzelfall die am besten geeignete Verrechnungspreismethode angewendet werden. In schwierigen Fällen, bei denen keine dieser Methoden zielführend wäre, können in einem flexiblen Ansatz auch mehrere Methoden gemeinsam zur Anwendung kommen. Es steht multinationalen Konzernen frei, Methoden zur Festlegung von Verrechnungspreisen anzuwenden, die in diesen Leitlinien nicht beschrieben werden, vorausgesetzt, dass die ermittelten Preise dem Fremdvergleichsgrundsatz entsprechen.

III. Hintergrund des Rechtsstreits

12. Dem Rechtsstreit liegen Steuervorbescheide zugrunde, die das Großherzogtum Luxemburg auf Antrag von Amazon.com zur körperschaftsteuerrechtlichen Behandlung von zwei in Luxemburg neugegründeten Gesellschaften für die Zwecke der luxemburgischen Körperschaftsteuer im Jahr 2003 für die Jahre 2006 bis 2014 erlassen hat.

A. Darstellung des Steuervorbescheides

13. Hintergrund war eine geplante Umstrukturierung der Tätigkeiten der Amazon.com, Inc. mit Sitz in den Vereinigten Staaten und der von ihr kontrollierten Unternehmen (im Folgenden zusammen: Amazon-Gruppe). Die Unternehmen der Amazon-Gruppe in Europa üben Online-Tätigkeiten aus, insbesondere Online-Einzelhandel und die Erbringung verschiedener Online-Dienstleistungen. Zu diesem Zweck betreibt die Amazon-Gruppe mehrere Websites in verschiedenen Sprachen der Europäischen Union, darunter amazon.de, amazon.fr, amazon.it und amazon.es.

14. Vor Mai 2006 wurde das Europageschäft der Amazon-Gruppe von den Vereinigten Staaten aus geleitet. Insbesondere wurden die Tätigkeiten des Einzelhandels und der Dienstleistungen auf den europäischen Websites von zwei in den Vereinigten Staaten ansässigen Unternehmen betrieben, nämlich Amazon.com International Sales, Inc. (im Folgenden: AIS) und Amazon International Marketplace (im Folgenden: AIM) sowie von anderen Unternehmen mit...

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