Opinion of Advocate General Kokott delivered on 25 January 2024.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2024:83
Date25 January 2024
Celex Number62022CC0436
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 25. Januar 2024(1)

Rechtssache C436/22

Asociación para la Conservación y Estudio del Lobo Ibérico (ASCEL)

gegen

Administración de la Comunidad Autónoma de Castilla y León

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Superior de Justicia de Castilla y León [Obergericht Kastilien und León, Spanien])

„Vorabentscheidungsersuchen – Richtlinie 92/43/EWG – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Strenges Schutzsystem für die in Anhang IV Buchst. a genannten Tierarten – Wolf (Canis lupus) – Räumliche Grenzen des strengen Schutzes – Entnahme aus der Natur und Nutzung von Exemplaren der wildlebenden Tierarten des Anhangs V Buchst. a – Regionaler Plan zur Nutzung des Wolfes in Jagdgebieten – Bewertung des Erhaltungszustands der Populationen der betreffenden Art – Folgen eines ungünstigen Erhaltungszustands“






I. Einleitung

1. Der Schutz des Wolfs (Canis lupus) wird momentan kontrovers diskutiert. So hat das Europäische Parlament zur Überprüfung seines Schutzstatus aufgerufen(2) und die Europäische Kommission hat zu diesem Zweck um die Übermittlung lokaler Daten gebeten.(3) Auch im Rahmen des Übereinkommens von Bern(4) wird darüber diskutiert, ob der Schutz des Wolfs abgeschwächt werden soll.(5)

2. Die Habitatrichtlinie(6) schützt den Wolf indessen weiterhin umfassend: Die Mitgliedstaaten sollen für diese Tierart nicht nur besondere Schutzgebiete ausweisen, sondern auch im gesamten Gebiet der Union die einzelnen Exemplare schützen. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft dieses zweite Schutzsystem, den Artenschutz.

3. Beim Artenschutz enthält die Habitatrichtlinie zwei Stufen des Schutzes, nämlich zum einen den strengen Schutz bestimmter Arten nach Art. 12, der insbesondere die Jagd grundsätzlich untersagt, und zum anderen einen abgeschwächten Schutz in Art. 14, der vorsieht, die prinzipiell zulässige Jagd einzuschränken, wenn dies für die Erhaltung eines günstigen Erhaltungszustands der betreffenden Art notwendig ist.

4. Beide Formen des Artenschutzes sind auf den Wolf anwendbar. Entscheidend ist, wo er sich aufhält. Nach der Habitatrichtlinie ist auf den Wolf in Spanien nördlich des Flusses Duero Art. 14 anzuwenden und südlich davon Art. 12. Daher erlaubt die Autonome Gemeinschaft Kastilien und Léon, durch die dieser Fluss fließt, im Norden die Jagd auf den Wolf.

5. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ergeht aus einem Rechtsstreit darüber, ob diese regionale Jagdregelung zulässig ist. Da der Erhaltungszustand des Wolfs in Spanien ungünstig ist, zweifelt das innerstaatliche Gericht daran, ob es hinnehmbar ist, dass der strenge Schutz von Art. 12 der Habitatrichtlinie nördlich des Duero nicht gilt. Falls die räumliche Abgrenzung der beiden Schutzregelungen durch die Richtlinie jedoch Bestand hat, soll der Gerichtshof klären, ob die Jagd dennoch aufgrund des ungünstigen Erhaltungszustands nach Art. 14 untersagt werden muss.

6. Mit beiden Fragen hat sich der Gerichtshof bislang noch nicht beschäftigt. Sie sind allerdings nicht nur für Spanien von Bedeutung, sondern auch für Griechenland, Finnland, Bulgarien, Lettland, Litauen, Estland, Polen und die Slowakei, wo der Wolf im gesamten Staatsgebiet oder in Teilen davon ebenfalls nur dem schwächeren Schutz nach Art. 14 der Habitatrichtlinie unterliegt.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Übereinkommen von Bern

7. Völkerrechtlich ist vor allem das Übereinkommen von Bern über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume von Bedeutung. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hat dieses Übereinkommen 1982 ratifiziert.(7) Spanien hat es zwar bereits 1979 unterzeichnet, es ist aber für Spanien erst 1986 in Kraft getreten.(8)

8. Art. 2 des Übereinkommens von Bern enthält allgemeine Ziele:

„Die Vertragsparteien ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um die Population der wildlebenden Pflanzen und Tiere auf einem Stand zu erhalten oder auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, wobei den wirtschaftlichen und erholungsbezogenen Erfordernissen und den Bedürfnissen von örtlich bedrohten Unterarten, Varietäten oder Formen Rechnung getragen wird.“

9. Art. 6 des Übereinkommens von Bern enthält besondere Artenschutzbestimmungen:

„Jede Vertragspartei ergreift die geeigneten und erforderlichen gesetzgeberischen und Verwaltungsmaßnahmen, um den besonderen Schutz der in Anhang II aufgeführten wildlebenden Tierarten sicherzustellen. In Bezug auf diese Arten ist insbesondere zu verbieten:

a. jede Form des absichtlichen Fangens, des Haltens und des absichtlichen Tötens;

…“

10. Der Wolf wird in Anhang II des Übereinkommens von Bern als eine besonders geschützte Tierart genannt. Allerdings hat Spanien einen Vorbehalt geltend gemacht und mitgeteilt, den Wolf als Art des Anhangs III, also nach Art. 7, zu schützen.(9)

11. Art. 7 des Übereinkommens von Bern sieht ebenfalls Schutzmaßnahmen vor:

„1. Jede Vertragspartei ergreift die geeigneten und erforderlichen gesetzgeberischen und Verwaltungsmaßnahmen, um den Schutz der in Anhang III aufgeführten wildlebenden Tierarten sicherzustellen.

2. Jegliche Nutzung der in Anhang II aufgeführten wildlebenden Tiere wird so geregelt, dass die Populationen in ihrem Bestand nicht gefährdet werden, wobei Art. 2 Rechnung zu tragen ist.

3. Diese Maßnahmen umfassen unter anderem

a. Schonzeiten und/oder andere Verfahren zur Regelung der Nutzung;

b. gegebenenfalls ein zeitweiliges oder örtlich begrenztes Nutzungsverbot zur Wiederherstellung eines zufriedenstellenden Populationsstandes;

c. ...“

12. Art. 9 des Übereinkommens von Bern enthält Ausnahmen von den Schutzbestimmungen nach den Art. 6 und 7, die im Wesentlichen den Ausnahmen nach Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie entsprechen.

B. Habitatrichtlinie

13. Der 15. Erwägungsgrund der Habitatrichtlinie betrifft den Artenschutz:

„Ergänzend zur [Vogelschutzrichtlinie(10)] ist ein allgemeines Schutzsystem für bestimmte Tier- und Pflanzenarten vorzusehen. Für bestimmte Arten sind Regulierungsmaßnahmen vorzusehen, wenn dies aufgrund ihres Erhaltungszustands gerechtfertigt ist; hierzu zählt auch das Verbot bestimmter Fang- und Tötungsmethoden, wobei unter gewissen Voraussetzungen Abweichungen zulässig sein müssen.“

14. Art. 1 Buchst. b, f, g und i der Habitatrichtlinie definiert verschiedene Begriffe:

„…

g) „Arten von gemeinschaftlichem Interesse“: Arten, die in dem in Art. 2 bezeichneten Gebiet

i) bedroht sind, außer denjenigen, deren natürliche Verbreitung sich nur auf Randzonen des vorgenannten Gebietes erstreckt und die weder bedroht noch im Gebiet der westlichen Paläarktis potentiell bedroht sind, oder

ii) potentiell bedroht sind, d. h., deren baldiger Übergang in die Kategorie der bedrohten Arten als wahrscheinlich betrachtet wird, falls die ursächlichen Faktoren der Bedrohung fortdauern, oder

iii) selten sind, d. h., deren Populationen klein und, wenn nicht unmittelbar, so doch mittelbar bedroht oder potentiell bedroht sind. Diese Arten kommen entweder in begrenzten geographischen Regionen oder in einem größeren Gebiet vereinzelt vor, oder

iv) endemisch sind und infolge der besonderen Merkmale ihres Habitats und/oder der potentiellen Auswirkungen ihrer Nutzung auf ihren Erhaltungszustand besondere Beachtung erfordern.

Diese Arten sind in Anhang II und/oder Anhang IV oder Anhang V aufgeführt bzw. können dort aufgeführt werden.

i) ‚Erhaltungszustand einer Art‘: die Gesamtheit der Einflüsse, die sich langfristig auf die Verbreitung und die Größe der Populationen der betreffenden Arten in dem in Art. 2 bezeichneten Gebiet auswirken können.

Der Erhaltungszustand wird als ‚günstig‘ betrachtet, wenn

– aufgrund der Daten über die Populationsdynamik der Art anzunehmen ist, dass diese Art ein lebensfähiges Element des natürlichen Lebensraumes, dem sie angehört, bildet und langfristig weiterhin bilden wird, und

– das natürliche Verbreitungsgebiet dieser Art weder abnimmt noch in absehbarer Zeit vermutlich abnehmen wird und

– ein genügend großer Lebensraum vorhanden ist und wahrscheinlich weiterhin vorhanden sein wird, um langfristig ein Überleben der Populationen dieser Art zu sichern.

…“

15. Art. 2 der Habitatrichtlinie beschreibt ihre Zielsetzung:

„(1) Diese Richtlinie hat zum Ziel, zur Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, für das der Vertrag Geltung hat, beizutragen.

(2) Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen zielen darauf ab, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse zu bewahren oder wiederherzustellen.

(3) Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen tragen den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung.“

16. Art. 4 der Habitatrichtlinie regelt, wie die nach der Richtlinie geschützten Gebiete ausgewählt werden und verweist für die Anpassung dieser Gebiete auf die Überwachung nach Art. 11.

17. Art. 11 der Habitatrichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Überwachung von Arten und Lebensräumen:

„Die Mitgliedstaaten überwachen den Erhaltungszustand der in Art. 2 genannten Arten und Lebensräume, wobei sie die prioritären natürlichen Lebensraumtypen und die prioritären Arten besonders berücksichtigen.“

18. Art. 12 der Habitatrichtlinie enthält die grundlegenden Verpflichtungen des Artenschutzes:

„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die notwendigen Maßnahmen, um ein strenges Schutzsystem für die in Anhang IV Buchst. a) genannten Tierarten in deren natürlichen Verbreitungsgebieten einzuführen; dieses verbietet:

a) alle absichtlichen Formen des Fangs oder der Tötung von aus der Natur entnommenen Exemplaren dieser Arten;

b) jede...

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