Opinion of Advocate General Campos Sánchez-Bordona delivered on 22 February 2024.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2024:153
Date22 February 2024
Celex Number62023CC0040
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 22. Februar 2024(1)

Rechtssache C40/23 P

Europäische Kommission

gegen

Königreich der Niederlande

„Rechtsmittel – Staatliche Beihilfen – Art. 107 und 108 AEUV – Verordnung (EU) 2015/1589 – Art. 4 Abs. 3 – Feststellung der Vereinbarkeit einer Maßnahme mit dem Binnenmarkt, die nicht als staatliche Beihilfe eingestuft wurde – Grundsatz der Rechtssicherheit“






1. Mit diesem Rechtsmittel wendet sich die Europäische Kommission gegen das Urteil des Gerichts vom 16. November 2022, Königreich der Niederlande/Kommission(2), mit dem der Beschluss C(2020) 2998 final(3) für nichtig erklärt wurde.

2. Nach Ansicht des Gerichts hat die Kommission ihre Befugnisse überschritten, indem sie in diesem Beschluss die Vereinbarkeit einer Maßnahme mit dem Binnenmarkt festgestellt hat, die sie nicht zuvor als „Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV eingestuft hatte.

3. Der Streit zwischen der Kommission und der niederländischen Regierung gibt dem Gerichtshof erstmals (sofern ich mich nicht irre) die Gelegenheit, sich zu einer Frage zu äußern, die für das in den Art. 107 und 108 AEUV vorgesehene und durch die Verordnung (EU) 2015/1589(4) näher ausgestaltete System der Kontrolle staatlicher Beihilfen von Bedeutung ist.

I. Vorgeschichte des Rechtsstreits

4. Die Vorgeschichte des Rechtsstreits wird in den Rn. 2 bis 18 des angefochtenen Urteils dargestellt und lässt sich wie folgt zusammenfassen:

– Am 27. März 2019 übermittelten die niederländischen Behörden der Kommission gemäß der Richtlinie (EU) 2015/1535(5) den Entwurf eines Gesetzes über das Verbot der Verwendung von Kohle für die Stromerzeugung.

– Der Gesetzesentwurf, über den die Kommission nicht nach Art. 108 Abs. 3 AEUV unterrichtet wurde, hatte eine Verringerung der Kohlendioxid- bzw. CO2-Emissionen zum Ziel. Er sah die Möglichkeit vor, den Schaden eines Kohlekraftwerks auszugleichen, das gegenüber anderen Kraftwerken durch das Verbot des Einsatzes von Kohle zur Stromerzeugung in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigt wurde.

– Nach der Übermittlung des Gesetzesentwurfs gemäß der Richtlinie 2015/1535 begann die Kommission von sich aus mit der Prüfung der Informationen im Hinblick auf eine mutmaßliche Beihilfe.

– Die Kommission ersuchte die niederländischen Behörden um bestimmte Auskünfte, und diese gaben in ihren Antworten wiederholt an, dass die gesetzlich vorgesehene Entschädigung keine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstelle.

– Das Gesetz wurde am 11. Dezember 2019 erlassen und trat am 20. Dezember 2019 in Kraft. Zu diesem Zeitpunkt gab es in den Niederlanden fünf Kohlekraftwerke(6).

– Da das Kraftwerk Hemweg 8 aufgrund seiner Merkmale(7) nicht in den Genuss des den vier anderen Kraftwerken eingeräumten Übergangszeitraums von fünf bis zehn Jahren kommen konnte und Ende 2019 geschlossen werden musste, erhielt sein Betreiber (Vattenfall) vom niederländischen Minister für Wirtschaft und Klima eine Entschädigung in Höhe von 52,5 Mio. Euro.

– Am 12. Mai 2020 erließ die Kommission den Beschluss, mit dem sie die Maßnahme zur Entschädigung von Vattenfall wegen der Schließung von Hemweg 8 gemäß Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärte.

– In Rn. 48 des Beschlusses kam die Kommission im Hinblick auf das mögliche Vorliegen einer staatlichen Beihilfe zu dem Ergebnis, dass „angesichts der von den niederländischen Behörden vorgelegten Informationen nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden [könne], dass in dieser Sache ein Anspruch auf eine Ausgleichszahlung in Höhe von 52,5 Mio. Euro besteh[e]“. Aus diesem Umstand folgerte die Kommission, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass die fragliche Maßnahme „eine staatliche Beihilfe an das betreffende Unternehmen darstell[e]“.

– In Rn. 49 des Beschlusses vertrat die Kommission die Auffassung, dass „im vorliegenden Fall jedoch keine abschließenden Schlussfolgerungen in Bezug auf die Frage zu ziehen [seien], ob die Maßnahme dem Betreiber einen Vorteil verschaff[e] und daher eine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstell[e], da selbst bei Vorliegen einer staatlichen Beihilfe davon auszugehen [sei], dass die Maßnahme mit dem Binnenmarkt vereinbar [sei]“(8).

II. Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil

5. Am 27. Juli 2020 focht das Königreich der Niederlande den Beschluss vor dem Gericht an.

6. Das Königreich der Niederlande stützte seine Klage auf fünf Klagegründe:

– Die ersten drei Klagegründe wurden „für den Fall geltend gemacht, dass der angefochtene Beschluss dahin zu verstehen sein sollte, dass er zwangsläufig die Einstufung der in Rede stehenden Maßnahme als Beihilfe impliziert“(9).

– Der vierte und der fünfte Klagegrund richteten sich „gegen den angefochtenen Beschluss, soweit darin nicht entschieden wird, ob die fragliche Maßnahme eine staatliche Beihilfe darstellt“(10). Mit ihnen wurde geltend gemacht: a) die fehlende Befugnis der Kommission, eine Maßnahme nach Art. 107 Abs. 3 AEUV für mit dem Binnenmarkt vereinbar zu erklären, ohne sie zuvor als staatliche Beihilfe eingestuft zu haben; und b) ein Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit.

7. Das Gericht hat die letzten beiden Klagegründe für begründet erachtet und den Beschluss für nichtig erklärt.

8. Dem vierten Klagegrund ist das Gericht im Wesentlichen aus folgenden Gründen gefolgt:

– „Die Verwendung des Begriffs ‚Beihilfe‘ in Art. 107 Abs. 3 AEUV impliziert, dass die Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit dem Binnenmarkt erst geprüft werden kann, nachdem diese Maßnahme als Beihilfe eingestuft worden ist.“(11)

– „Wenn die Kommission nach Abschluss der Vorprüfungsphase nicht die Überzeugung gewinnen kann, dass eine staatliche Maßnahme keine ‚Beihilfe‘ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellt oder dass sie, wenn sie als Beihilfe eingestuft wird, mit dem Vertrag vereinbar ist, oder wenn dieses Verfahren es ihr nicht erlaubt hat, alle Schwierigkeiten hinsichtlich der Beurteilung der Vertragskonformität der betroffenen Maßnahme auszuräumen, ist sie nach ständiger Rechtsprechung … verpflichtet, das Verfahren gemäß Art. 108 Abs. 2 AEUV zu eröffnen, ohne hierbei über einen Ermessensspielraum zu verfügen“(12).

– „[N]ur eine Maßnahme, die in den Anwendungsbereich von Art. 107 Abs. 1 AEUV fällt, also eine als staatliche Beihilfe eingestufte Maßnahme, [kann] von der Kommission als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden …“(13)

– Diese Schlussfolgerung werde durch Art. 4 der Verordnung 2015/1589 in seiner Auslegung durch den Gerichtshof bestätigt.

– Aus dem Vorstehenden ergebe sich, dass „Art. 4 der Verordnung 2015/1589, der im vorliegenden Fall gemäß deren Art. 15 Abs. 1 … anwendbar ist, … eine abschließende Liste der Beschlüsse enthält, die die Kommission nach Abschluss der Vorprüfung der in Rede stehenden nationalen Maßnahme erlassen kann. Diese Bestimmung umfasst nicht die Möglichkeit, einen Beschluss zu erlassen, mit dem eine nationale Maßnahme für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wird, ohne dass die Kommission zuvor über die Einstufung dieser Maßnahme als staatliche Beihilfe entschieden hat.“(14)

– Im vorliegenden Fall „steht … fest, dass die Kommission Zweifel an der Einstufung der in Rede stehenden Maßnahme als Beihilfe hatte …, so dass sie … beschlossen hat, diese Frage im angefochtenen Beschluss nicht zu entscheiden, gleichzeitig aber festzustellen, dass die in Rede stehende Maßnahme mit dem Binnenmarkt vereinbar sei“. Folglich „hat die Kommission einen Beschluss erlassen, der sowohl gegen Art. 107 Abs. 3 AEUV als auch gegen Art. 4 Abs. 3 der Verordnung 2015/1589 verstößt“(15).

– Letztlich „hat sie dadurch, dass sie im angefochtenen Beschluss die in Rede stehende Maßnahme als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen hat, ohne vorab zu entscheiden, ob eine solche Maßnahme eine Beihilfe darstellt, ihre Befugnisse überschritten“(16).

9. Was den Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit anbelangt, hat das Gericht den fünften Klagegrund aus folgenden Gründen für begründet erachtet:

– „[D]ie Kommission [hat] im angefochtenen Beschluss die in Rede stehende Maßnahme für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt … Es erfolgte jedoch keine Einstufung dieser Maßnahme, obwohl … dies eine notwendige Voraussetzung für die Prüfung der Vereinbarkeit dieser Maßnahme mit dem Binnenmarkt darstellt.“(17)

– „Für den Fall, dass Wettbewerber von Vattenfall vor den nationalen Gerichten die Rechtmäßigkeit der in Rede stehenden Maßnahme in Frage stellen sollten und diese sie als staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV einstu[fen], ergäbe sich daraus wegen fehlender Anmeldung der in Rede stehenden Maßnahme bei der Kommission ein Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV und müsste das Königreich der Niederlande von Vattenfall für die Dauer der Rechtswidrigkeit Zinsen verlangen.“(18)

– „[D]ie fehlende Einstufung der in Rede stehenden Maßnahme [hat] für das Königreich der Niederlande hinsichtlich der Gewährung einer neuen Beihilfe nach den Vorschriften über die Kumulierung von Beihilfen … zu einer unsicheren Situation geführt.“(19)

– „Es kann daher im Ergebnis nicht festgestellt werden, dass es dem Königreich der Niederlande als Adressat des angefochtenen Beschlusses möglich ist, auf der Grundlage dieses Beschlusses seine Rechte und Pflichten genau zu kennen und entsprechend zu handeln.“(20)

– „Unter diesen Umständen ist zu urteilen, dass die Kommission dadurch, dass sie nicht entschieden hat, ob die in Rede stehende Maßnahme als staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV einzustufen ist, gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoßen hat.“(21)

III. Das Rechtsmittel und das Verfahren vor dem Gerichtshof

10. In ihrer Rechtsmittelschrift, die am 26. Januar 2023 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, beantragt die Kommission:

– das angefochtene Urteil aufzuheben;

– den vierten und den fünften im Verfahren vor dem Gericht geltend...

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