Opinion of Advocate General Bobek delivered on 3 June 2021.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:454
Date03 June 2021
Celex Number62019CC0919
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 3. Juni 2021(1)

Rechtssache C919/19

Generálna prokuratura Slovenskej republiky

gegen

X.Y.

(Vorabentscheidungsersuchen des Najvyšší súd Slovenskej republiky [Oberstes Gericht der Slowakischen Republik, Slowakei])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gegenseitige Anerkennung von Urteilen in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2008/909/JI – Resozialisierung der verurteilten Person – Vollstreckung der Sanktion in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die verurteilte Person besitzt und in dem sie lebt“






I. Einleitung

1. Der Berufungsführer des Ausgangsverfahrens ist ein slowakischer Staatsangehöriger, der in der Tschechischen Republik wegen Raubüberfalls in einem besonders schweren Fall verurteilt wurde. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt, die er derzeit in diesem Mitgliedstaat verbüßt.

2. Das zuständige tschechische Gericht beantragte die Anerkennung des Urteils gegen den Berufungsführer und die Verbüßung der Strafe in der Slowakei gemäß dem Rahmenbeschluss 2008/909/JI(2). In der Slowakei wurde das Urteil gegen den Berufungsführer im ersten Rechtszug anerkannt.

3. Der von dem Berufungsführer angerufene Najvyšší súd Slovenskej Republiky (Oberstes Gericht der Slowakischen Republik, Slowakei, das vorlegende Gericht) hat jedoch Zweifel, was die Auslegung mehrerer Aspekte des Rahmenbeschlusses 2008/909 anbelangt. Insbesondere möchte dieses Gericht wissen, was genau darunter zu verstehen ist, dass die verurteilte Person im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats „lebt“, was zu den notwendigen Voraussetzungen für eine Überstellung gehört, und welche Rolle den Behörden des Ausstellungs- und des Vollstreckungsstaats bei der Beurteilung der Möglichkeit der Resozialisierung des Verurteilten genau zukommt.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

4. Im neunten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2008/909 heißt es: „Die Vollstreckung der Sanktion im Vollstreckungsstaat sollte die Resozialisierung der verurteilten Person begünstigen. Wenn sich die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats vergewissert, ob die Vollstreckung der Sanktion durch den Vollstreckungsstaat der Verwirklichung des Ziels der Resozialisierung der verurteilten Person dient, sollte sie dabei Aspekten wie beispielsweise der Bindung der verurteilten Person an den Vollstreckungsstaat Rechnung tragen und berücksichtigen, ob sie diesen als den Ort familiärer, sprachlicher, kultureller, sozialer, wirtschaftlicher oder sonstiger Verbindungen zum Vollstreckungsstaat ansieht.“

5. Der zehnte Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2008/909 lautet: „Die in Artikel 6 Absatz 3 vorgesehene Stellungnahme der verurteilten Person könnte sich in erster Linie bei der Anwendung von Artikel 4 Absatz 4 als nützlich erweisen. Mit der Formulierung ‚insbesondere‘ sollen auch die Fälle erfasst werden, in denen die Stellungnahme der verurteilten Person Informationen enthält, die für die Gründe für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung relevant sein könnten. Die Bestimmungen von Artikel 4 Absatz 4 und von Artikel 6 Absatz 3 stellen keinen Versagungsgrund mit Bezug zur Resozialisierung dar.“

6. Nach dem 17. Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2008/909 wird, wenn in diesem Rahmenbeschluss „auf den Staat Bezug genommen [wird], in dem die verurteilte Person ‚lebt‘, … damit der Ort bezeichnet, mit dem diese Person aufgrund des gewöhnlichen Aufenthalts und aufgrund von Aspekten wie familiären, sozialen oder beruflichen Bindungen verbunden ist“.

7. Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 sieht vor: „Zweck dieses [Instruments] ist es, im Hinblick auf die Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person die Regeln festzulegen, nach denen ein Mitgliedstaat ein Urteil anerkennt und die verhängte Sanktion vollstreckt.“

8. Art. 4 („Kriterien für die Übermittlung eines Urteils und einer Bescheinigung an einen anderen Mitgliedstaat“) des Rahmenbeschlusses 2008/909 bestimmt in Abs. 1:

„Sofern sich die verurteilte Person im Ausstellungs- oder Vollstreckungsstaat aufhält und ihre Zustimmung erteilt hat, wenn dies aufgrund von Artikel 6 erforderlich ist, kann ein Urteil zusammen mit der Bescheinigung, für die das in Anhang I wiedergegebene Standardformular zu verwenden ist, an einen der folgenden Mitgliedstaaten übermittelt werden:

a) an den Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit der verurteilten Person, in dem sie lebt, oder

b) an den Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit der verurteilten Person, in den sie, auch wenn sie nicht dort lebt, aufgrund einer Ausweisungs- oder Abschiebungsanordnung, die im Urteil oder in einer infolge des Urteils getroffenen gerichtlichen Entscheidung oder Verwaltungsentscheidung oder anderen Maßnahme enthalten war, nach der Entlassung aus dem Strafvollzug abgeschoben werden wird, oder

c) an einen Mitgliedstaat, auf den die Buchstaben a oder b nicht zutreffen und dessen zuständige Behörde der Übermittlung des Urteils und der Bescheinigung an diesen Mitgliedstaat zustimmt.“

9. Nach Art. 4 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 kann „[d]ie Übermittlung des Urteils und der Bescheinigung … erfolgen, wenn sich die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats, gegebenenfalls nach Konsultationen zwischen den zuständigen Behörden des Ausstellungs- und des Vollstreckungsstaats, vergewissert hat, dass die Vollstreckung der verhängten Sanktion durch den Vollstreckungsstaat der Erleichterung der Resozialisierung der verurteilten Person dient“.

10. Art. 4 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 sieht vor: „Vor der Übermittlung des Urteils und der Bescheinigung kann die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats in geeigneter Weise konsultieren. Die Konsultation ist in den in Absatz 1 Buchstabe c genannten Fällen obligatorisch. In diesen Fällen unterrichtet die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats den Ausstellungsstaat unverzüglich über ihre Entscheidung, ob sie der Übermittlung des Urteils zustimmt oder nicht.“

11. Art. 4 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 bestimmt: „Während dieser Konsultation kann die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats der zuständigen Behörde des Ausstellungsstaats eine mit Gründen versehene Stellungnahme übermitteln, wonach die Vollstreckung der Sanktion im Vollstreckungsstaat nicht der Erleichterung der Resozialisierung und der erfolgreichen Wiedereingliederung der verurteilten Person in die Gesellschaft dienen würde.

Findet keine Konsultation statt, kann eine derartige Stellungnahme unverzüglich übermittelt werden, sobald die Bescheinigung und das Urteil übermittelt worden sind. Die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats prüft diese Stellungnahme und entscheidet, ob sie die Bescheinigung zurückzieht oder nicht.“

12. In Art. 6 („Stellungnahme und Unterrichtung der verurteilten Person“) Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 ist vorgesehen:

„(1) Unbeschadet des Absatzes 2 darf ein Urteil zusammen mit einer Bescheinigung dem Vollstreckungsstaat für die Zwecke der Anerkennung des Urteils und der Vollstreckung der Sanktion nur übermittelt werden, wenn die verurteilte Person im Einklang mit dem Recht des Ausstellungsstaats ihre Zustimmung erteilt hat.

(2) Die Zustimmung der verurteilten Person ist nicht erforderlich, wenn das Urteil zusammen mit der Bescheinigung an einen der folgenden Staaten übermittelt wird:

a) an den Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit, in dem die verurteilte Person lebt;

…“

13. Art. 6 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 bestimmt: „In allen Fällen, in denen sich die verurteilte Person noch im Ausstellungsstaat befindet, ist ihr Gelegenheit zur mündlichen oder schriftlichen Stellungnahme zu geben. … Bei der Entscheidung in der Frage, ob das Urteil zusammen mit der Bescheinigung übermittelt werden soll, ist die Stellungnahme der verurteilten Person zu berücksichtigen. Hat die verurteilte Person von der in diesem Absatz eingeräumten Gelegenheit Gebrauch gemacht, so wird ihre Stellungnahme insbesondere im Hinblick auf Artikel 4 Absatz 4 dem Vollstreckungsstaat übermittelt. Erfolgt die Stellungnahme der verurteilten Person mündlich, so sorgt der Ausstellungsstaat dafür, dass dem Vollstreckungsstaat eine schriftliche Aufzeichnung der betreffenden Erklärung zur Verfügung steht.“

14. Art. 8 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 lautet: „Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats erkennt ein gemäß Artikel 4 und im Verfahren gemäß Artikel 5 übermitteltes Urteil an und ergreift unverzüglich alle für die Vollstreckung der Sanktion erforderlichen Maßnahmen, es sei denn, sie beschließt, einen der Gründe für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung gemäß Artikel 9 geltend zu machen.“

15. Nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2008/909 kann die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion versagen, wenn „die in Artikel 4 Absatz 1 dargelegten Kriterien nicht erfüllt sind“.

16. Art. 9 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 sieht vor: „Bevor die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats in den Fällen des Absatzes 1 Buchstaben a, b, c, i, k und l beschließt, die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion zu versagen, konsultiert sie auf geeignete Art und Weise die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats und bittet diese gegebenenfalls um die unverzügliche Übermittlung aller erforderlichen zusätzlichen Angaben.“

17. Nach dem Standardformular für die entsprechende Bescheinigung in Anhang I des Rahmenbeschlusses 2008/909 (im Folgenden: Bescheinigung nach Anhang I) ist es erforderlich, in Teil d Nr. 4 „[s]onstige sachdienliche Angaben über familiäre, soziale oder berufliche Bindungen der verurteilten Person zum Vollstreckungsstaat“ anzugeben.

B. Nationales Recht

18. § 4 Abs. 1 Buchst. a des Zákon č. 549/2011 Z. z. o uznávaní a výkone rozhodnutí, ktorými sa ukladá trestná sankcia spojená s odňatím slobody v Európskej únii...

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