Conclusiones del Abogado General Sr. P. Pikamäe, presentadas el 25 de enero de 2024.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2024:79
Date25 January 2024
Celex Number62022CC0112
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PRIIT PIKAMÄE

vom 25. Januar 2024(1)

Verbundene Rechtssachen C112/22 und C223/22

Strafverfahren gegen CU (C112/22),

ND (C223/22),

Beteiligte:

Procura della Repubblica Tribunale di Napoli,

Ministero dell’Economia e delle Finanze,

Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS)


(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Napoli [Gericht Neapel, Italien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2003/109/EG – Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen – Art. 11 Abs. 1 Buchst. d – Gleichbehandlung – Sozialhilfe – Voraussetzung des Wohnsitzes von mindestens zehn Jahren ohne Unterbrechung in den letzten beiden Jahren“






1. Es ist weithin anerkannt, dass die Wirtschaftskrisen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten erheblich verstärkt haben. Um dem zu begegnen, entschieden sich mehrere europäische Regierungen für eine Umverteilungspolitik, die in Italien hauptsächlich in Form des „Mindesteinkommens für Staatsangehörige“ umgesetzt wurde. Die Thematik des Mindesteinkommens für Staatsangehörige weist somit eine starke politische Dimension auf, die den unbestreitbaren Hintergrund der vorliegenden Rechtssachen bildet.

2. Auf ihre rein rechtliche Dimension reduziert, geben die vorliegenden Rechtssachen, die auf zwei Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Napoli (Gericht Neapel, Italien) beruhen, dem Gerichtshof die Gelegenheit, sich zur Auslegung von Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen(2) zu äußern, und insbesondere zu der Frage, ob ein Wohnsitz während einer Dauer von zehn Jahren im italienischen Hoheitsgebiet ohne Unterbrechung in den beiden Jahren vor der Antragstellung als Voraussetzung für die Gewährung des Mindesteinkommens für Staatsangehörige mit dieser Bestimmung in Einklang steht.

I. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

3. Für die vorliegenden Rechtssachen sind die Art. 4 bis 7 sowie die Art. 9 bis 11 der Richtlinie 2003/109 sowie Art. 34 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) relevant.

B. Italienisches Recht

4. Art. 2 („Begünstigte“) des Decreto-legge n. 4 „Disposizioni urgenti in materia di reddito di cittadinanza e di pensioni“ (Gesetzesdekret Nr. 4 zur Festlegung dringender Bestimmungen zum Mindesteinkommen für Staatsangehörige und zu den Renten) vom 28. Januar 2019 (GURI Nr. 23 vom 28. Januar 2019), in Gesetzesform überführt durch die Legge n. 26 „Conversione in legge, con modificazioni, del decreto-legge 28 gennaio 2019, n. 4, recante disposizioni urgenti in materia di reddito di cittadinanza e di pensioni“ (Gesetz Nr. 26 zur Überführung des Gesetzesdekrets Nr. 4 vom 28. Januar 2019 zur Festlegung dringender Bestimmungen zum Mindesteinkommen für Staatsangehörige und zu den Renten in ein Gesetz unter Vornahme von Änderungen) vom 28. März 2019 (GURI Nr. 75 vom 29. März 2019) (im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 4/2019) bestimmt in seinem Abs. 1:

„Das [Mindesteinkommen für Staatsangehörige] wird Haushalten gewährt, die zum Zeitpunkt der Antragstellung und während der gesamten Dauer des Leistungsbezugs kumulativ die folgenden Voraussetzungen erfüllen:

a) Hinsichtlich der Voraussetzungen der Staatsangehörigkeit, des Wohnsitzes und des Aufenthalts muss die Person im Haushalt, die die Leistung beantragt, kumulativ:

1. im Besitz der italienischen Staatsangehörigkeit oder der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der Europäischen Union oder [ein] Familienangehöriger einer solchen Person im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Decreto legislativo 6 febbraio 2007, n. 30 [(Gesetzesdekret Nr. 30 vom 6. Februar 2007)] [sein], der ein Aufenthaltsrecht oder ein Recht auf Daueraufenthalt hat, oder [ein] Drittstaatsangehöriger [sein], der im Besitz einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung‑EU ist;

2. seit mindestens zehn Jahren in Italien wohnen, und zwar ununterbrochen während der letzten beiden Jahre zum Zeitpunkt der Antragstellung sowie während der gesamten Dauer des Leistungsbezugs.

…“

5. Art. 7 („Sanktionen“) Abs. 1 dieses Gesetzesdekrets sieht vor:

„Sofern die Tat keine schwerere Straftat darstellt, wird mit Freiheitsstrafe von zwei bis sechs Jahren bestraft, wer falsche Erklärungen abgibt oder verwendet oder Dokumente herstellt oder verwendet, die falsch sind oder Unwahres bescheinigen, oder wer erforderliche Angaben vorenthält, um die in Art. 3 genannte Leistung unrechtmäßig zu erlangen.“

II. Ausgangsverfahren, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

6. Aus den Antworten des vorlegenden Gerichts auf das Ersuchen des Gerichtshofs um Klarstellung geht hervor, dass CU und ND Drittstaatsangehörige sind, die in Italien die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erworben haben. Diese Personen werden vom Pubblico Ministero della Procura della Repubblica presso il Tribunale di Napoli (Staatsanwaltschaft beim Gericht Neapel, Italien) angeklagt, jeweils die in Art. 7 Abs. 1 des Gesetzesdekrets Nr. 4/2019 genannte Straftat begangen zu haben. Sie unterzeichneten am 27. August 2020 bzw. am 9. Oktober 2020 Anträge auf das Mindesteinkommen für Staatsangehörige und bescheinigten in diesen Anträgen fälschlicherweise, dass sie die Voraussetzungen für die Gewährung dieser Leistung und insbesondere die in dem genannten Gesetzesdekret vorgesehene Voraussetzung eines Wohnsitzes während einer Dauer von mindestens zehn Jahren in Italien erfüllten. CU bzw. ND sollen dadurch unrechtmäßig einen Betrag von 3 414,40 Euro bzw. 3 186,66 Euro erlangt haben.

7. Das Tribunale di Napoli (Gericht Neapel) äußert Zweifel daran, dass das Gesetzesdekret Nr. 4/2019 mit dem Unionsrecht vereinbar ist, da dieses als Voraussetzung für den Bezug des Mindesteinkommens für Staatsangehörige, das als Sozialhilfeleistung zur Sicherung eines Mindestlebensunterhalts eingestuft wird, einen Mindestaufenthalt von zehn Jahren in Italien ohne Unterbrechung in den letzten beiden Jahren vorsieht. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass dieses Gesetzesdekret Drittstaatsangehörige, einschließlich derjenigen, die einen langfristigen Aufenthaltstitel besitzen, einer anderen Behandlung als italienische Staatsangehörige unterwerfe.

8. Dem vorlegenden Gericht zufolge fällt die als „Mindesteinkommen für Staatsangehörige“ bezeichnete Leistung in einen der drei in Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 genannten Bereiche, nämlich die soziale Sicherheit, die Sozialhilfe und den Sozialschutz im Sinne des nationalen Rechts. Des Weiteren sei Art. 11 Abs. 4 dieser Richtlinie im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da es den Anschein habe, dass der italienische Staat beim Erlass der betreffenden nationalen Regelung nicht den Willen zum Ausdruck gebracht habe, die in diesem Art. 11 vorgeschriebene Gleichbehandlung im Bereich der Sozialhilfe und des Sozialschutzes auf die Kernleistungen zu beschränken. Selbst wenn eine solche Beschränkung vorgenommen worden wäre, wäre sie jedenfalls nicht mit dem genannten Art. 11 vereinbar gewesen, da das Mindesteinkommen für Staatsangehörige nach dem letzten Satz von Art. 1 Abs. 1 des Gesetzesdekrets Nr. 4/2019 das Mindestniveau der Leistungen im Rahmen der verfügbaren Mittel gewährleiste.

9. Die Auslegung des Unionsrechts sei für die Entscheidung in den Ausgangsverfahren erforderlich, da der Tatbestand der in Rede stehenden Straftaten entfalle, wenn die in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a Nr. 2 des Gesetzesdekrets Nr. 4/2019 enthaltene Voraussetzung nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sei.

10. Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass es der Ansicht sei, dass die Voraussetzung eines Wohnsitzes während einer Dauer von zehn Jahren in Italien ohne Unterbrechung in den letzten beiden Jahren Drittstaatsangehörige benachteilige, die einen besonderen Schutz nach der Unionsregelung genössen, wie etwa langfristig Aufenthaltsberechtigte, die nach einem fünfjährigen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat der Union ein Recht auf Daueraufenthalt in diesem Mitgliedstaat im Sinne von Art. 4 der Richtlinie 2003/109 erworben hätten. Das Gleiche gelte für italienische Staatsangehörige, die nach einer Zeit des Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat nach Italien zurückkehrten. Durch die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Vorschrift würden auch Personen mit Flüchtlingsstatus diskriminiert, die nach Art. 29 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9) die erforderliche Sozialhilfe unter denselben Bedingungen erhalten müssten, wie sie für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten gälten.

11. Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Napoli (Gericht Neapel) beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Steht das Unionsrecht, insbesondere Art. 18 AEUV, Art. 45 AEUV, Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. 2011, L 141, S. 1), Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109, Art. 29 der Richtlinie 2011/95, Art. 34 der Charta und die Art. 30 und 31 der Europäischen Sozialcharta, einer nationalen Regelung entgegen, wie sie in Art. 7 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Gesetzesdekrets Nr. 4/2019 enthalten ist, soweit diese Regelung den Zugang zum Mindesteinkommen für Staatsangehörige von der Voraussetzung eines Wohnsitzes während mindestens zehn Jahren (davon die letzten beiden Jahre vor der Antragstellung und während der...

To continue reading

Request your trial

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT